Ein Ausschnitt aus "Fiddler on the Roof", dem bekannten Musical über den Milchmann Tevje, der um 1900 mit seiner Frau und seinen Kindern arm, aber lebensfroh in einem ukrainischen Schtetl lebt. Eine wirklichkeitsfremde, unerträglich süße Darstellung des Lebens im osteuropäischen Schtetl nennt der israelische Historiker Yehuda Bauer das Musical. Er stellt der nostalgischen Verklärung eine nüchterne Definition gegenüber:
Ein Schtetl war eine Stadtgemeinde mit 1.000 bis 15.000 jüdischen Einwohnern, die wenigstens ein Drittel der Gesamtbevölkerung stellten; ihr Leben wurde vom jüdischen Kalender und von Sitten und Gebräuchen bestimmt, die auf einer traditionellen Auslegung der jüdischen Religion basierten. Die Juden im Schtetl wurden von einer informellen Oligarchie regiert, aus deren Kreis diejenigen gewählt wurden, die kommunale Aufgaben übernahmen.
In seiner vorzüglichen Darstellung interessiert sich Yehuda Bauer vor allem für die Umstände des Untergangs des Schtetls, ein von der Forschung bislang weitgehend vernachlässigter Aspekt. Bauer, emeritierter Professor für Holocaust-Studien an der Hebräischen Universität in Jerusalem, verbindet in seiner Arbeit historische Analyse und Zeitzeugenberichte. Dabei konzentriert er sich auf die Perspektive der Opfer; ein ambitioniertes Unterfangen, denn die Quellenlage ist schwierig, weil viele Unterlagen vernichtet wurden und nur wenige Erinnerungen von Juden selbst überliefert sind. Der Autor beschränkt sich auf zwölf Orte im damaligen ostpolnischen Grenzgebiet. Die sogenannten Kresy fielen 1939 nach dem Geheimabkommen zwischen Deutschland und der Sowjetunion an Moskau, wurden 1941 von der Wehrmacht erobert und gehören heute zur Ukraine und Weißrussland. Zunächst hatten die ostpolnischen Juden die Rote Armee beim Einmarsch im Herbst 1939 freudig empfangen.
In vielen Schtetln wurden für die sowjetischen Soldaten Triumphbögen errichtet und Blumen ausgestreut. Im Schtetl von Kovel begrüßten sie die Rote Armee mit unvorstellbarer Begeisterung. In Baranowicze küssten die Menschen die verdreckten Stiefel der Soldaten. In Slonim sollen Juden gesagt haben: "Hauptsache, dass wir den Raubtierklauen der Nazi-Bestien im letzten Moment entkommen sind."
Die sowjetischen Besatzer waren aber keineswegs gewillt, die jahrhundertealten Traditionen des Schtetls zu respektieren: Sie schlossen Talmudschulen, ignorierten die jüdischen Feiertage, verboten Gebetsbücher, verwandelten die Synagogen in Klubs, Kinos oder Lagerhäuser und deportierten Hunderttausende ins ferne Asien. Vielleicht hätte sich der traditionell enge Zusammenhalt der Schtetl-Gesellschaft im Laufe der Modernisierung allmählich aufgelöst, schreibt Yehuda Bauer.
So aber zerstörte die sowjetische Besatzung das Schtetl gewaltsam, nachhaltig und mit großer Geschwindigkeit.
Es ist Bauers Verdienst, die schwierige Gemengelange in den Kresy und die Katastrophe in zwei Stufen anschaulich nachzuzeichnen. Dem sowjetischen Zwischenspiel folgte die physische Liquidierung der Schtetl durch das NS-Regime. Ein Fünftel der jüdischen Holocaust-Opfer, rund 1,3 Millionen, kamen aus dem polnischen Grenzland. Nach dem Einmarsch der Deutschen im Juni 1941 besorgten diese das Töten zunächst selbst, ab 1942 unter Mitwirkung örtlicher Milizen, bis schließlich die Milizen unter deutscher Aufsicht das Morden übernahmen.
Die Mithilfe der nicht-jüdischen Bevölkerung in den Schtetln und im Umland war entscheidend, um das Vorhaben, die Juden auszurotten, durchzuführen. Ohne diese Mitwirkung hätte das, was wir Holocaust oder die Schoah nennen, in den Kresy oder anderswo wahrscheinlich nicht stattgefunden.
Die Schtetl-Juden in den Kresy waren die Ersten, die nach dem deutschen Überfall auf die Sowjetunion dem Massenmord zum Opfer fielen. Sie hatten so gut wie keine Möglichkeit zu reagieren, das brutale Vorgehen versetzte die meisten, wie Bauer schreibt, in Schockstarre. Immerhin gelang es Tausenden, in die nahe gelegenen Wälder zu fliehen, wo ihnen sowjetische Partisanen die Chance zum Überleben boten. In einigen Schtetln griffen die Juden aber auch zu den Waffen, zum Beispiel in Tuczyn.
Vier Widerstandsgruppen wurden aufgestellt. Sie besorgten sich Benzin und zeigten den Leuten, wie sie ihre Häuser anzünden könnten. Als die Deutschen ins Getto eindrangen und das Feuer eröffneten, schossen die wenigen, die Waffen besaßen, zurück, und in dem nun entstehenden Tumult steckten die Gettobewohner ihre Häuser in Brand.
Ein Schtetl war eine Stadtgemeinde mit 1.000 bis 15.000 jüdischen Einwohnern, die wenigstens ein Drittel der Gesamtbevölkerung stellten; ihr Leben wurde vom jüdischen Kalender und von Sitten und Gebräuchen bestimmt, die auf einer traditionellen Auslegung der jüdischen Religion basierten. Die Juden im Schtetl wurden von einer informellen Oligarchie regiert, aus deren Kreis diejenigen gewählt wurden, die kommunale Aufgaben übernahmen.
In seiner vorzüglichen Darstellung interessiert sich Yehuda Bauer vor allem für die Umstände des Untergangs des Schtetls, ein von der Forschung bislang weitgehend vernachlässigter Aspekt. Bauer, emeritierter Professor für Holocaust-Studien an der Hebräischen Universität in Jerusalem, verbindet in seiner Arbeit historische Analyse und Zeitzeugenberichte. Dabei konzentriert er sich auf die Perspektive der Opfer; ein ambitioniertes Unterfangen, denn die Quellenlage ist schwierig, weil viele Unterlagen vernichtet wurden und nur wenige Erinnerungen von Juden selbst überliefert sind. Der Autor beschränkt sich auf zwölf Orte im damaligen ostpolnischen Grenzgebiet. Die sogenannten Kresy fielen 1939 nach dem Geheimabkommen zwischen Deutschland und der Sowjetunion an Moskau, wurden 1941 von der Wehrmacht erobert und gehören heute zur Ukraine und Weißrussland. Zunächst hatten die ostpolnischen Juden die Rote Armee beim Einmarsch im Herbst 1939 freudig empfangen.
In vielen Schtetln wurden für die sowjetischen Soldaten Triumphbögen errichtet und Blumen ausgestreut. Im Schtetl von Kovel begrüßten sie die Rote Armee mit unvorstellbarer Begeisterung. In Baranowicze küssten die Menschen die verdreckten Stiefel der Soldaten. In Slonim sollen Juden gesagt haben: "Hauptsache, dass wir den Raubtierklauen der Nazi-Bestien im letzten Moment entkommen sind."
Die sowjetischen Besatzer waren aber keineswegs gewillt, die jahrhundertealten Traditionen des Schtetls zu respektieren: Sie schlossen Talmudschulen, ignorierten die jüdischen Feiertage, verboten Gebetsbücher, verwandelten die Synagogen in Klubs, Kinos oder Lagerhäuser und deportierten Hunderttausende ins ferne Asien. Vielleicht hätte sich der traditionell enge Zusammenhalt der Schtetl-Gesellschaft im Laufe der Modernisierung allmählich aufgelöst, schreibt Yehuda Bauer.
So aber zerstörte die sowjetische Besatzung das Schtetl gewaltsam, nachhaltig und mit großer Geschwindigkeit.
Es ist Bauers Verdienst, die schwierige Gemengelange in den Kresy und die Katastrophe in zwei Stufen anschaulich nachzuzeichnen. Dem sowjetischen Zwischenspiel folgte die physische Liquidierung der Schtetl durch das NS-Regime. Ein Fünftel der jüdischen Holocaust-Opfer, rund 1,3 Millionen, kamen aus dem polnischen Grenzland. Nach dem Einmarsch der Deutschen im Juni 1941 besorgten diese das Töten zunächst selbst, ab 1942 unter Mitwirkung örtlicher Milizen, bis schließlich die Milizen unter deutscher Aufsicht das Morden übernahmen.
Die Mithilfe der nicht-jüdischen Bevölkerung in den Schtetln und im Umland war entscheidend, um das Vorhaben, die Juden auszurotten, durchzuführen. Ohne diese Mitwirkung hätte das, was wir Holocaust oder die Schoah nennen, in den Kresy oder anderswo wahrscheinlich nicht stattgefunden.
Die Schtetl-Juden in den Kresy waren die Ersten, die nach dem deutschen Überfall auf die Sowjetunion dem Massenmord zum Opfer fielen. Sie hatten so gut wie keine Möglichkeit zu reagieren, das brutale Vorgehen versetzte die meisten, wie Bauer schreibt, in Schockstarre. Immerhin gelang es Tausenden, in die nahe gelegenen Wälder zu fliehen, wo ihnen sowjetische Partisanen die Chance zum Überleben boten. In einigen Schtetln griffen die Juden aber auch zu den Waffen, zum Beispiel in Tuczyn.
Vier Widerstandsgruppen wurden aufgestellt. Sie besorgten sich Benzin und zeigten den Leuten, wie sie ihre Häuser anzünden könnten. Als die Deutschen ins Getto eindrangen und das Feuer eröffneten, schossen die wenigen, die Waffen besaßen, zurück, und in dem nun entstehenden Tumult steckten die Gettobewohner ihre Häuser in Brand.
Keine Möglichkeit zu reagieren
Rund 2.000 Bewohnern gelang die Flucht in die Wälder, doch nur wenige entgingen dem radikalen Vernichtungswillen des NS-Regimes und der mörderischen Feindseligkeit der Ukrainer. Yehuda Bauer versucht zu ergründen, warum die Juden in Tuczyn sich verzweifelt wehrten, in anderen Schtetln aber nicht aufbegehrten, warum die Menschen in einigen Orten zusammenrückten, in anderen paralysiert den Einmarsch der Deutschen über sich ergehen ließen. Waren dafür der Einfluss lokaler Judenräte, unterschiedliche soziale Milieus oder kulturelle Prägungen verantwortlich? Der Autor kann diese Fragen nicht befriedigend beantworten.
In Situationen außerordentlicher Belastung, die genozidale Situationen zweifellos sind, kann es sein, dass die Reaktionen der Opfer nicht von Traditionen, nicht von wirtschaftlichen, gesellschaftlichen oder anderen Faktoren bestimmt sind, sondern von den drei Elementen Charakter, Zufall und Glück, die wir sonst kaum in Betracht ziehen, wenn wir historische Ereignisse zu erklären versuchen.
Ein ernüchterndes Fazit für einen Historiker, der nach Grundmustern geschichtlicher Prozesse sucht. Aber gerade dies ist ein sympathischer Zug an Yehuda Bauers Arbeit, die Grenzen wissenschaftlicher Erkenntnis einzuräumen: Die vorliegenden Erzählungen aus den Schtetln erlauben keine systematischen Rückschlüsse. Das Material, das Bauer ausbreitet, ist jedoch allemal reichhaltig genug, um sein Buch zu einer interessanten und anregenden Lektüre zu machen.
Buchinfos:
Yehuda Bauer: "Der Tod des Schtetls" Übersetzung: Klaus Binder, Jüdischer Verlag im Suhrkamp Verlag, 364 Seiten, Preis: 24,95 Euro
In Situationen außerordentlicher Belastung, die genozidale Situationen zweifellos sind, kann es sein, dass die Reaktionen der Opfer nicht von Traditionen, nicht von wirtschaftlichen, gesellschaftlichen oder anderen Faktoren bestimmt sind, sondern von den drei Elementen Charakter, Zufall und Glück, die wir sonst kaum in Betracht ziehen, wenn wir historische Ereignisse zu erklären versuchen.
Ein ernüchterndes Fazit für einen Historiker, der nach Grundmustern geschichtlicher Prozesse sucht. Aber gerade dies ist ein sympathischer Zug an Yehuda Bauers Arbeit, die Grenzen wissenschaftlicher Erkenntnis einzuräumen: Die vorliegenden Erzählungen aus den Schtetln erlauben keine systematischen Rückschlüsse. Das Material, das Bauer ausbreitet, ist jedoch allemal reichhaltig genug, um sein Buch zu einer interessanten und anregenden Lektüre zu machen.
Buchinfos:
Yehuda Bauer: "Der Tod des Schtetls" Übersetzung: Klaus Binder, Jüdischer Verlag im Suhrkamp Verlag, 364 Seiten, Preis: 24,95 Euro