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Flucht nach Europa
"Ohne Unterstützung von Staaten ist Seenotrettung auf Dauer nicht möglich"

Gerald Knaus von der "Europäischen Stabilitätsinitiative" fordert die Bundesregierung auf, Geflüchtete aufzunehmen, die von deutschen NGOs aus dem Mittelmeer gerettet werden. Gleichzeitig müsse Deutschland mit den Herkunftsländern zusammenarbeiten, um Menschen auch zurückschicken zu können, sagte er im Dlf.

Gerald Knaus im Gespräch mit Jörg Münchenberg |
Gerald Knaus ist Vorsitzender der Europäischen Stabilitätsinitiative
Gerald Knaus ist Vorsitzender der Europäischen Stabilitätsinitiative (dpa/ picture alliance)
Jörg Münchenberg: Mit einem waghalsigen Manöver der Sea Watch 3 vor Lampedusa und ihrer umstrittenen Einfahrt in italienische Hoheitsgewässer hat die deutsche Kapitänin Carola Rackete eine neue Debatte in Europa über die Flüchtlingspolitik losgetreten. Die Verhaftung von Rackete hat in Deutschland scharfe Kritik ausgelöst, das Retten von Menschenleben könne kein Verbrechen sein, heißt es, während wiederum der italienische Innenminister Matteo Salvini von einem kriminellen Akt spricht.
Am Telefon ist jetzt der Flüchtlingsexperte und Vorsitzende der Denkfabrik "Europäische Stabilitätsinitiative" Gerald Knaus. Herr Knaus, einen schönen guten Morgen.
Gerald Knaus: Guten Morgen!
Münchenberg: Herr Knaus, ist die deutsche Kapitänin Carola Rackete eine Kriminelle?
Knaus: Jemand, der Menschen vor dem sicheren Ertrinken rettet, der macht das Richtige. Das ist vom Seerecht, aber auch vom internationalen Strafrecht klar definiert. Die Frage, die sich allerdings stellt – und hier beginnt, das Ganze zu einem politischen Spektakel zu werden, das Matteo Salvini genial inszeniert, denn er rechnet wohl damit, dass es in Italien auch bald zu Wahlen kommt und will Premierminister werden. Die Frage ist, ob diese Menschen dann immer nach Italien gebracht werden müssen. Salvinis Argument in den italienischen Medien betrifft ja jetzt nicht das Retten, sondern, dass Lampedusa angefahren wurde, und tatsächlich ist hier das Problem, dass sich immer mehr Regierungen in Europa, erst vor kurzem auch die Führer der Mittelmeer-Länder, die sich in Valletta getroffen haben, auf die Seite der Politik stellen, die eher uns Italiens Vorgängerregierung seit einigen Jahren vorantreiben, nämlich man muss mit den Libyern zusammenarbeiten, die libysche Küstenwache soll die Leute zurückbringen. Bei einer Erklärung dieses letzten Gipfels von Führern der Mittelmeer-Länder, unter anderem vier Regierungen, die von Mitte-Links-Parteien geführt werden, in Spanien, in Malta, in Griechenland und in Portugal, und natürlich auch Frankreich, wurde diese Politik, die Italien vorantreibt, noch mal unterstützt. Das heißt, die Gefahr ist, dass Deutschland hier in Isolation gerät.
Münchenberg: Herr Knaus, lassen Sie uns noch mal bei der Sea Watch selber bleiben. Es war ja klar, wenn die Sea Watch in italienische Hoheitsgewässer fährt, dann ist das ein Bruch des Rechts. Das ist illegal, denn es gibt ein entsprechendes Dekret, was die italienische Regierung erlassen hat. War es nicht ein Grundfehler, dass es Sea Watch quasi auf diesen Rechtsbruch hat ankommen lassen?
Knaus: Ich glaube, der Grundfehler ist, dass hier die deutsche Regierung sich nicht entscheiden kann. Und ich glaube, die richtige Entscheidung müsste sein – und dafür hätte sie auch den Rückhalt in Deutschland – zu sagen, wenn deutsche Organisationen Menschen retten, die dann am Ende ohnehin nach wochenlangem würdelosem Warten letztlich immer aufgeteilt werden, dass Deutschland sich bereit erklärt, diese Leute zu übernehmen.
"Wir reden hier nicht mehr von den Tausenden"
Münchenberg: Aber es gab ja das Angebot scheinbar auch von Deutschland, dass man gesagt hat, man übernimmt Flüchtlinge.
Knaus: Ja. Und dann muss man natürlich zwei weitere Schritte machen. Der zweite Schritt muss sein: Man muss sich einigen – und das kann nicht mit Salvini passieren; da muss man sich eben mit Malta einigen oder mit Korsika, oder mit einem anderen erreichbaren Hafen. Es ging ja hier immerhin um zwei Wochen Wartezeit, die das Schiff auf dem Meer herumgefahren ist. Dann muss man sich eben mit Malta einigen und sagen, wir garantieren, dass wir Leute abnehmen, wenn sie von deutschen Organisationen gerettet werden, und dafür können diese Leute dann diese Häfen anfahren. Das muss man organisieren und da bräuchten wir jetzt dringend eine Initiative. So etwas Ähnliches gab es ja schon einmal im Südchinesischen Meer in den 80er-Jahren. Da hatte Deutschland damals bei der Cap Anamur auch gesagt, wenn deutsche Organisationen Schiffbrüchige retten, dann übernimmt Deutschland sie. Und was sehr wichtig ist: Es geht hier wirklich nur um einige hundert Menschen im Monat. Wir reden hier nicht mehr von den Tausenden, die an einem Wochenende wie im Sommer 2017 kamen. Es handelt sich nur noch um wenige Boote.
Und das Dritte natürlich: Es muss auch ein Signal geben, dass sich nicht wieder Tausende auf den Weg machen. Das heißt, man muss endlich seriös mit Herkunftsländern arbeiten, Leute zurückzuschicken.
Münchenberg: Darauf kommen wir gleich noch mal zu sprechen. Ich würde gerne trotzdem noch mal bei der Sea Watch bleiben, auch der Nichtregierungsorganisation insgesamt, die ja auch schon Politik betreibt. Das ist ja auch der Vorwurf. Es geht vielleicht auch darum, hier Salvini, den italienischen Innenminister bloßzustellen. Hat da nicht auch Sea Watch letztlich eine Mitverantwortung, dass die Situation jetzt so eskaliert ist?
Knaus: Ich glaube, wenn Nichtregierungsorgganisationen in dieser Situation denken, dass es möglich ist, gegen Regierungen auf die Dauer Seenotrettung zu machen, dann wäre das ein großer strategischer Fehler. Wir erinnern uns an den Fall der Cap Anamur 2. 2009 wurde der Kapitän damals in Sizilien freigesprochen. Das war eine ganz andere Regierung als die jetzige in Italien und auch damals waren die Vorwürfe die gleichen. Gegen die Staaten und ohne Unterstützung von Staaten ist Seenotrettung auf die Dauer nicht möglich. Das heißt, es kann hier nicht darum gehen, dass deutsche Organisationen versuchen, die italienische Politik zu beeinflussen. Was allerdings der Sea Watch gelungen ist, ist die deutsche Diskussion zu beeinflussen, und das ist vollkommen legitim. Wenn in Deutschland Organisationen und Politiker sagen, sie halten das für richtig, was die Sea Watch macht, dann muss die logische Folge sein, dass Deutschland sagt, wir nehmen diese Leute auch auf.
"Hier muss man handeln!"
Münchenberg: Aber da, Herr Knaus, muss man sagen, hört man ja relativ wenig aus Deutschland.
Münchenberg: Aber ist die Empörung jetzt gerade bei vielen deutschen Politikern nicht etwas wohlfeil, gerade was jetzt die Verhaftung der deutschen Kapitänin angeht, weil gleichzeitig nicht verhandelt worden ist mit anderen Ländern über eine mögliche Anlandung der Sea Watch, oder weil es auch keine Fortschritte gibt bei der europäischen Flüchtlingspolitik?
Knaus: Wenn deutsche Politiker, vor allem von Regierungsparteien sagen, sie unterschreiben jetzt Petitionen, dann finde ich das nicht sehr überzeugend, denn das sind ja keine NGOs. Das ist eine Regierung. Die deutsche Politik, die deutschen Regierungsparteien sind tatsächlich in der Lage zu sagen, wir tun hier etwas, wir reden mit Malta, wir reden mit Korsika, wir reden mit den Franzosen, wir einigen uns darüber, dass es möglich sein muss, einen Hafen anzufahren, wir machen aber gleichzeitig das zum Bestandteil einer größeren Politik, wo wir auch mit Herkunftsländern reden, damit Leute, die keinen Schutz brauchen, nach Verfahren zurückgeschickt werden können, und wir unterstützen das Prinzip der Seenotrettung. Hier muss man handeln!
Münchenberg: Aber da, Herr Knaus, muss man sagen, hört man ja relativ wenig aus Deutschland.
Slavini - beliebtester Politiker im Land
Knaus: Ja, und das ist der große Fehler der deutschen Politik. Deutschland nimmt mehr Menschen auf als jedes andere reiche Land der Welt in den letzten fünf Jahren, vergibt mehr Asyl, unterstützt Hilfsorganisationen mehr, nimmt am Ende auch bei all diesen Aktionen im letzten Jahr von den Menschen, die gerettet wurden, die meisten Menschen auf, aber Deutschland kommuniziert nicht klar, dass es das tun wird, hat keine klare Politik. Und das Ergebnis ist, dass Salvini mit seinem Vorwurf, hier handele es sich um einen Streit zwischen rechthaberischen und heuchlerischen Nordeuropäern und den Italienern. Seine Erzählung ist ja die: Hier kommen Menschen aus dem Norden, retten Leute und wollen sie in Italien ausladen. Und seine zweite Erzählung ist, dass das schon seit Jahren so läuft und dass sich Italien dagegen wehrt. Wenn die Regierungen im Norden es ernst meinen würden, ja dann sollen sie doch die Leute gleich, wie er sagt, nach Amsterdam fahren. Diesem Vorwurf, wenn man dem nicht mit einer klaren Kommunikation entgegentritt, dann wird Salvini damit in Italien Erfolg haben. Dann wird er der nächste Ministerpräsident sein. Er hat eine Partei von sechs Prozent 2014 an die Spitze der italienischen Politik geführt, 34 Prozent bei den Europawahlen. Er ist zum beliebtesten Politiker im Land geworden. Das heißt, die Strategie, ihn so zu schwächen, die geht nach hinten los und es ist für Deutschland und für Europa eine Katastrophe, wenn ein Politiker wie Salvini in einem der wichtigsten Länder der EU immer mehr Macht bekommt. Genau hier müsste man handeln!
Münchenberg: Herr Knaus, ganz kurz: Bei aller Schelte jetzt in Richtung Italien, auf der anderen Seite hat die Regierung Salvini ja auch humanitäre Korridore unterstützt, zum Beispiel ein gezieltes Ausfliegen von Flüchtlingen aus libyschen Lagern nach draußen.
Knaus: Da muss man sich natürlich auch die Zahlen ansehen. Die Anzahl der Leute, die bis jetzt nach Italien kamen, war geringer als die Zahlen der Menschen, die im Juni 2018, im ersten Monat von Salvini als Innenminister ertrunken sind. Allerdings ist es ein kompliziertes Problem. Kein Mensch kann wollen, dass wir zurückkehren zur Situation von 2016, als in einem Jahr 181.000 Menschen aus Libyen kamen und davon 5000 Menschen gestorben sind.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.