Die Bibel enthält einige der ältesten Fluchtgeschichten. Tatsächlich werde dort etwa der Auszug aus Ägypten im Alten Testament zu einer großen Geschichte der Selbstfindung stilisiert, glaubt Jürgen Wertheimer. "Jeder Text von Format hat die Fähigkeit, über Jahrhunderte hinweg zu reichen." Literatur bilde prototypische Modellsituationen ab. Sie sei eine Versuchsanordnung, ein Experiment in einer Extremsituation, das sich mit Einzelschicksalen beschäftige und das große Problem aufs Nachvollziehbare reduziere, "weit von uns weg und hautnah zugleich dran".
Dabei sind Menschen einerseits sesshafte Wesen, die in Kategorien des Territoriums und der Grenze denken. Andererseits "sind wir aus Neugier und eben aus Not Menschen, die reisen, ihre Heimat verlassen, die flüchten und deshalb in Kategorien des Weges, der Ankunft und der Rückkehr denken". Wertheimer beschreibt Flucht als einen großen historischen Prozess, der weltweit immer irgendwo stattfinde.
"Diese beiden Bewegungswelten des Menschen in immer neuen Konfigurationen und unter immer neuen Rahmenbedingungen durchzuspielen im Narrativ einer literarischen Geschichte, das ist die große Leistung der Literatur."
Die Angst vor dem Fremden
Allerdings gehöre auch zur genetischen Ausstattung des Menschen, dass er ein feindbildfixiertes Wesen sei, glaubt Jürgen Wertheimer. Offenbar brauchten wir Feindbilder, um uns nach Innen zu stärken. "Wir müssen unseren Feindbildreflex in den Griff kriegen, und wenn die Literatur ein Schulungsinstrument sein kann, wär‘s mir recht."
Die Exil-und Migrationsliteratur von Thomas Mann über Bertolt Brecht oder Stefan Zweig bis hin zu Feridun Zaimoglu zeige, wie schwierig Integration oft ist. Es sei besser, Flüchtlinge als Rückkehrer zu betrachten und sie bei ihrem Wunsch nach Rückkehr zu unterstützen. Der oft auf diesen Menschen lastende Integrationsdruck sei sinnlos:
"Auch wenn jemand scheinbar integriert ist, bleibt dieser Schatten der anderen Identität mit ihm verwoben. Und man kann das nicht einfach abschneiden. Europa müsste unendlich viele Szenarien entwickeln für solche 'Zwischen-Identitäten' und 'Zwischenräume'. Europa ist ein großer 'Zwischenraum'-Kontinent. Wir bestehen fast nur aus Zwischenräumen und Übergangszonen kultureller Art. Darauf hat die Politik noch gar keine Antworten gefunden, weil sie das Problem noch gar nicht erkannt hat."