Seit Monaten riskieren wieder mehr Menschen ihr Leben, um über das Mittelmeer nach Europa zu kommen. Auf klapprigen Booten versuchen sie vor allem, die kleine italienische Insel Lampedusa zu erreichen. Allein für die Woche vor Pfingsten meldete die private Seenotrettungsorganisation Sea Eye, 400 Menschen vor dem Ertrinken gerettet zu habe. Mindestens 700 schafften es nicht und ertranken.
Mehr als 8.000 Migranten haben vor wenigen Tagen schwimmend, zu Fuß oder mit Plastikflaschen als Schwimmhilfe von Marokko aus die spanische Enklave Ceuta und damit die Europäische Union erreicht. Viele Erwachsene schoben die spanischen Behörden im Eilverfahren sofort wieder ab, es waren aber auch 1.500 Jugendliche und Kinder unter den Angekommenen.
"Viele Standards werden nicht eingehalten"
"Wir haben im Moment eine Situation, die geprägt ist durch Corona. Corona ist in einer Hinsicht wichtig, weil es Menschen auch aufhält. Wir haben viel mehr Grenzsperren, wir haben viel mehr Armut. Gleichzeitig mobilisiert Corona auch ein stückweit Menschen, die in ihren Ländern keine Chancen oder nur wenig Chancen für sich sehen", sagte der Migrationsforscher Jochen Oltmer von der Universität Osnabrück im Gespräch mit dem Deutschlandfunk.
Vieles deute darauf hin, dass Länder wie Italien und Spanien mit dem Thema Flucht und Migration alleingelassen würden, so der Experte. "Von Seiten Brüssels wird zwar darauf hingewiesen, dass man bereit ist, zu helfen." Aber wie diese Unterstützung konkret aussehen solle, bliebe weiterhin unklar, kritisierte Oltmer.
Die EU sage sich und auch anderen immer wieder, dass sie ganz spezifische Vorstellungen davon habe, wie die Welt aussehen sollen. "Es gibt den Hinweis darauf, man sei ein Kontinent der Rechtsstaatlichkeit, der Humanität, der Achtung der Menschenwürde, der Förderung von Demokratie und Menschenrechten weltweit. Und wir sehen, wenn es um Aspekte wie Migrations- und Flüchtlingspolitik geht, offensichtlich viele dieser Standards bei weitem nicht in dem Maße eingehalten werden, wie behauptet wird", betonte der Wissenschaftler.
Auslagerung der Grenzkontrollen ist kleinster gemeinsamer Nenner
Oltmer sieht derzeit auch keine Anzeichen dafür, dass sich beim Umgang der EU mit diesen Themen etwas ändern wird. Es herrschten sehr unterschiedliche Vorstellungen innerhalb der EU-Staaten, wie man mit Migration umgehen solle. "Der kleinste gemeinsame Nenner in den vergangenen Jahren und auch aktuell ist immer wieder das Setzen auf die Auslagerung von Grenzkontrollen, das Bemühen andere Torwächter, wie Marokko, wie Libyen, wie Ägypten zu finden, die dafür sorgen, dass möglichst wenig Menschen die EU erreichen." Alles weitere bliebe weiterhin ungeklärt.
Geschehnisse wie die zuletzt in Marokko beziehungsweise Ceuta zeigten, dass eine solche Politik sie mit Risiken verbunden ist. "Die EU ist sicherlich ein mächtiger Akteur, aber kein übermächtiger, kein allmächtiger Akteur. Sie muss immer wieder, wenn sie Abkommen auf den Weg bringt, Konzessionen bieten, Geld bieten, militärische Hilfe bieten, sich mit Regimen einlassen, die europäische Standards überhaupt nicht einhalten", sagte. Daher sei das eine riskante Politik, bei der die Europäische Union auch erpressbar werde.