Christiane Florin: Arta Ramadani kam mit zwölf Jahren aus dem Kosovo nach Deutschland, das ist über 20 Jahre her. Mittlerweile ist sie Journalistin beim ZDF und Autorin. Ihr jüngstes Buch, ein Roman, heißt "Die Reise zum ersten Kuss". Darin erzählt sie die Geschichte eines Mädchens, das aus dem Kosovo nach Deutschland flieht. Eine Autobiografie ist es nicht, aber die Fragen der Hauptfigur Era sind auch Fragen, die Arta Ramadani umtreiben. Guten Morgen, Frau Ramadani.
Wir versetzen uns eine Minute lang in Ihre Roman-Protagonistin Era: Sie ist noch neu in Deutschland, und auf dem Schulhof spielt sich folgende Szene ab:
Viele Mädchen versammelten sich um mich herum. Sie begutachten mich. Meine Hose, Schuhe, Bluse und meine Ohrringe. Die neugierigste von ihnen war Melek, sie hatte große blaue Augen, volle Lippen, einen langen Mantel. Sonst konnte ich nicht viel bei ihr erkennen, denn sie trug ein Kopftuch. Ich muss sagen, darüber war ich erschrocken. Kopftücher trugen nicht einmal Omis im Kosovo. Hier trugen das junge Mädchen. Ich wusste nicht, warum das so war. "Bist du Muslimin?", fragte sie mich direkt, während sie in ihr Mohrenkopfbrötchen biss. "Äh, ja", sagte ich. "Und warum trägst du dann kein Kopftuch?", fragte sie abfällig. "Kopftücher sind nix für junge Menschen, nur für alte Frauen, aber deren Kopftücher sehen anders aus als deins", sagte ich. "Ah ja, wie sehen sie denn aus?", fragte sie "Naja, sie verstecken nicht das ganze Gesicht, nur ein wenig die Haare", sagte ich. "Du bist eine Ungläubige", sagte sie schroff. "Warum muss man ein Kopftuch tragen?", fragte ich. "Weil das so im Koran drinsteht. Mädchen müssen sich verhüllen. Ansonsten kommen sie in die Hölle", sagte sie so, als würde sie das auch meinen. Dann aß sie weiter.
Da hauen Sie den Leserinnen und Lesern gleich alles um die Ohren: Kopftuch, Unglauben, Hölle. Das Mädchen Era stammt aus dem Kosovo, Melek aus der Türkei, beide sind Muslime, beide Sunniten. Warum ist das romantauglich, dass zwei muslimische Mädchen nicht einer Meinung sind? So etwas gibt es unter Katholikinnen auch.
Arta Ramadani: Weil es selbst unter den muslimischen Communities in Deutschland große Unterschiede gibt. Es ist ein Unterschied, ob man eine kosovo-albanische Muslimin ist oder eine Muslimin aus der Türkei, aus dem Iran, aus Marokko oder aus Ägypten. Deswegen war es mir wichtig, das darzustellen. In Deutschland wird oft ein Schwarz-Weiß-Denken praktiziert. Ich sehe auch unter den Muslimen in Deutschland große Unterschiede, deshalb habe ich mich für diese Szene so entschieden.
"Gott lebt im Herzen und nicht im Kopftuch"
Florin: Wenn Sie Ihre eigene Identität beschreiben sollten, an welcher Stelle käme da das Adjektiv "muslimisch"?
Ramadani: Ach, ganz weit hinten. Ich komme zwar aus einer muslimischen Community wie sehr viele Albaner, aber für meine Eltern hat die Religion nicht so eine große Rolle gespielt. Meine Eltern sind überzeugte Demokraten und Europäer. Wir sind nach Deutschland gekommen, weil mein Vater politisch verfolgt wurde, eben weil er sich für Demokratie und Menschenrechte eingesetzt hat. Die Religion hat keine große Rolle gespielt, das soll aber nicht heißen, dass wir nicht an Gott glauben. Wir glauben an Gott. Meine Eltern haben mir von klein auf beigebracht: "Ata, Gott ist Liebe, und wenn du die Liebe im Herzen hast, dann liebst du auch die Menschen. Mehr brauchst du eigentlich gar nicht zu wissen." Nächstenliebe und Barmherzigkeit, das wurde mir schon beigebracht, aber es gab keine Zwänge in die Moschee zu gehen, zu beten, ein Kopftuch zu tragen. Meine Eltern haben früher immer zu mir gesagt: "Gott lebt im Herzen und nicht im Kopftuch. Versuche ein anständiger Mensch zu sein und alles andere wird sich regeln."
Florin: Waren Sie damit im Kosovo eine Ausnahme?
Ramadani: Nein, die Albaner an sich sind ein Phänomen. Es ist ein Volk, das drei Religionen teilt. Unter den Albanern wird wirklich so etwas wie religiöse Toleranz gelebt. Die Mehrheit sind Muslime, aber es gibt auch viele Christen - auch solche orthodoxen Glaubens. Es gibt sogar jüdische Minderheiten im Kosovo und in Albanien auch. Das hat auch sehr viel damit zu tun, dass bis zum 16. Jahrhundert viele Albaner christlichen Glaubens waren, die dann aber durch das Osmanische Reich den Islam haben annehmen müssen. So versucht man zu erklären, warum diese Religion nie Wurzeln schlagen konnte, so wie man das aus anderen Ländern kennt. Aber selbst unter den Albanern gibt es große Unterschiede, was den Islam anbetrifft, je nachdem, ob man eine Albanerin aus dem Kosovo ist oder eine mazedonische Albanerin. Die Albaner aus Mazedonien begründen vieles mit dem Islam, also mit ihrer Religion.
Florin: Wenn Sie sich die Community hier anschauen: Es macht einen Unterschied, ob man in der Heimat seine Religion lebt oder in der Fremde, oft wirkt die Fremde verstärkend. Wie ist es da?
Ramadani: Die Kosovo-Albaner gehen hier nicht so häufig in die Moschee. Unter den mazedonischen Albanern ist das anders. Sie sind diejenigen, die Moscheen in Deutschland bauen, sie schicken die Kinder in die Moschee und in den Koran-Unterricht. Also auch da ist es sehr vielfältig, wie es ausgelebt wird.
"Die Mädchen werden sehr kontrolliert"
Florin: Sie sind in einer liberalen Familie aufgewachsen, das habe sie betont. Dazu gehört auch, dass Ihnen Ihre Eltern vermittelt haben: Frauen sind genauso viel wert wie Männer, du kannst es als Mädchen genauso weit bringen wie ein Mann, studieren zum Beispiel. Das haben Sie dann auch gemacht. Was dieses Geschlechterverhältnis anbetrifft: Waren Sie damit eine Ausnahme?
Ramadani: Da muss ich sagen, das hat mir zu Teenie-Zeiten sehr zu denken gegeben. Als wir nach Deutschland kamen, habe ich die muslimischen Mädchen in der Schule beobachtet. Sie trugen Kopftücher, wurden früh verheiratet. Als ich dann die Schulferien im Kosovo verbracht habe, habe ich gesehen, dass die Mädchen dort sehr freizügig sind. Im Kosovo hat der Weinbau eine große Tradition, man kann viel und gut feiern. Aber wenn es darum geht, Sex vor der Ehe zu haben zum Beispiel oder zwei Ex-Freunde zu haben, was ja für unsere westlichen Verhältnisse normal ist, dann war das doch nicht so, dann wurden die Mädchen sehr kontrolliert. Ich habe mich sehr gefragt, woran das liegt, womit das zu tun hat. Wenn es nicht der Islam ist, was ist es dann? Dann habe ich zu dem Thema meine Magisterarbeit geschrieben und habe herausgefunden, dass vieles, was im Kosovo das Zusammenleben bestimmt - auch die Frauenrolle, die sehr, sehr minderwertig ist aus meiner Perspektive -, mit dem albanischen Gewohnheitsrecht zu tun hat. Das albanische Gewohnheitsrecht kennt man als Kanun des Lekë Dukagjini. Es ist sehr alt, sehr archaisch, man kennt es aus dem Norden Albaniens, aber auch im Kosovo schwirrt das noch in den Köpfen der Menschen. Damit wird auch die Blutrache begründet. Darin hat auch die Frau eine sehr minderwertige Stellung. Darin steht: Die Frau ist ein Schlauch, der die Ware transportiert. Sie darf keinen Sex vor der Ehe habe, sie muss dem Mann gehorchen, und wenn sie fremdgeht, hat der Mann das Recht, sie zu töten. Ganz schreckliche Dinge stehen da drin. Das erklärt bis heute, dass die Frauen eine minderwertige Stellung haben, auch wenn die Menschen das nicht so wortwörtlich nehmen. Sie leben es nicht eins zu eins, aber es schwirrt in den Köpfen der Menschen noch heute herum.
Florin: Also der Ehrbegriff ist weniger religiös begründet als durch das Gewohnheitsrecht.
Ramadani: Genau. Die Ehre spielt eine große Rolle in vielen Familien, auch hier in der Diaspora. In Deutschland, in Österreich, in der Schweiz leben sehr viele Albaner aus dem Kosovo. Wenn man die Leute darauf anspricht, dann reagieren sie sehr allergisch, weil sie selbst nicht wissen, warum das so ist.
"Die Stimmung in Deutschland ist sehr aggressiv"
Florin: Sie sind in den 90er Jahren nach Deutschland gekommen, der Kopftuchstreit, den wir in dem Romanausschnitt gehört haben, spielte auch in den 90ern, obwohl man denken könnte, das sei eine Szene von heute. Wie hat sich das öffentliche Reden über Muslime verändert, Sie sind ja nun auch Journalistin?
Ramadani: Zu meiner Schulzeit gab es zwar Mädchen, die Kopftücher getragen haben, aber es waren nicht so viele wie heute, zumindest kommt mir das so vor. Viele Politiker benutzen das, um Stimmung zu machen. Die Stimmung ist in Deutschland sehr aggressiv. Ich bin der Meinung, dass man sich die Dinge sehr genau anschauen muss und dass wir auch als Journalisten sehr differenziert die Dinge betrachten sollten. Wenn sich Mädchen, die volljährig sind, dazu entscheiden, ein Kopftuch zu tragen, dann müssen wir das akzeptieren. Wir sind eine Demokratie, jeder kann tragen, was er möchte. Bei mir hört der Spaß auf, wenn man das Gefühl hat, dass die Mädchen genötig werden, dass manipuliert wird. Da sind wir alle in der Pflicht: die Lehrer, die Sozialarbeiter an den Schulen, wir Journalisten, Politiker usw.
Florin: Was machen Sie ganz konkret, wenn Sie einem Mädchen begegnen, einem Kind, das ein Kopftuch trägt. Suchen Sie dann das Gespräch?
Ramadani: Ja.
Florin: Mit dem Kind oder mit dem Eltern?
Ramadani: Mit den Eltern. Ich muss sagen, wenn ich das bei einem Kind sehe, dann erschreckt mich das sehr. Ich frage mich: Aus welchen Motiven machen Eltern so etwas? Ich versuche, mit den Leuten ins Gespräch zu kommen. Manchmal gelingt mir das, manchmal nicht.
Florin: Ihre Geschichte ist auch eine Flüchtlingsgeschichte. Was sagt Ihnen das für die Flüchtlingsdiskussion heute?
Ramadani: Dass das Thema Flüchtlinge kein neues Thema ist für Deutschland. In den Neunzigern sind sehr viele Flüchtlinge nach Deutschland gekommen, die sehr dankbar sind. Ich bin auch eine davon, die es als Chance gesehen haben, ein würdevolles Leben zu führen in Deutschland. Nur: Was mir auffällt ist, dass das von den Politikern der Flüchtlingsbegriff missbraucht wird, um Stimmung zu machen, um Wähler zu gewinnen oder abzustoßen. Eine Million Flüchtlinge - wir sind ein wohlhabendes Land, das werden wir schon schaffen, die zu integrieren.
Florin: Dankbarkeit kann man nicht einfordern. Aber finden Sie es legitim, wenn Politiker sagen: Nun seid dankbar, verhaltet euch so, dass wir erkennen können, dass ihr dankbar seid?
Ramadani: Das kann man nicht verlangen, nein. Politiker haben eine Verantwortung. Sie sollten die Menschen nicht gegeneinander aufhetzen. Teilweise habe ich den Eindruck, dass wir Journalisten die Aufgabe von Politiker übernehmen müssen. Die Menschen aufklären und die Ängste auch ernstnehmen und dabei bleibe ich auch.
Arta Ramadani: "Die Reise zum ersten Kuss. Eine Kosovarin in Kreuzberg." Drava Verlag 2018. 160 Seiten, 18.80 Euro.