Dreieinhalb Jahre lang schien es, als könnte doch noch alles glimpflich abgehen. Die Juden in Dänemark konnten unter der deutschen Besatzung beinahe so leben wie zuvor. Denn für die einheimische Bevölkerung und auch für die dänischen Behörden gab es schlicht keine "Judenfrage". In dieser Grundhaltung sieht Bo Lidegaard die Basis für das kleine Wunder, das sich in Dänemark ereignete. Denn der Deportationsplan, den die Deutschen am 1. Oktober 1943 in die Praxis umsetzen wollten – er funktionierte nicht so, wie in anderen besetzten Ländern. Die Dänen kamen ihren jüdischen Mitbürgern zu Hilfe. Auf den knapp 600 Seiten seines Buches "Die Ausnahme" erzählt Lidegaard diese Geschichte; und er schließt:
"Es war die breite Masse der ganz gewöhnlichen Bürger, die mit ihrer Hilfe für ihre Landsleute kollektiv den ersten Schritt zum zivilen Ungehorsam machten. Sie taten es, weil sie die bevorstehende Aktion als einen Versuch betrachteten, der Gesellschaft, der sie sich zugehörig fühlten, das Rückgrat zu brechen."
Die Ausgangslage in Dänemark war eine besondere: Gerade weil die Dänen den Deutschen keinen nennenswerten Widerstand leisteten, brauchten die Besatzer nur relativ wenige Soldaten, um das Land im Griff zu halten. Ende September 1943 aber sickerte durch, dass Dänemarks Juden deportiert werden sollten. Dies empfanden fast alle Dänen als einen terroristischen Akt. Was den Deportierten drohte, das ahnten die Augenzeugen im Kopenhagener Hafen, als dort einige verhaftete Juden auf ein deutsches Frachtschiff verschleppt wurden. Bo Lidegaard zitiert die Erinnerungen eines Betroffenen:
"Man wurde unter Gebrüll und brutalen Schlägen über eine hohe, steile und sehr schwierige Leiter auf das Schiff getrieben. Hinter der Reling standen ein paar deutsche Militärpolizisten mit langen Bambusstangen, an deren Enden Haken befestigt waren. Damit sie ihre Opfer am Nacken ergreifen und hochziehen konnten, wenn sie nicht schnell genug raufkletterten."
Die meisten dänischen Juden allerdings waren rechtzeitig gewarnt worden von dem deutschen Diplomaten Georg Ferdinand Duckwitz. Deshalb konnten Tausende unmittelbar vor dem Beginn der Deportationen untertauchen. Sie fanden Zuflucht bei der dänischen Bevölkerung: in Kellern oder Lagerhäusern, in Kirchen, auch in Privatwohnungen. Sogar die dänische Polizei schlug sich auf die Seite der Verfolgten. Alle kannten nur ein Ziel: Die bedrohten Juden mussten in Sicherheit gebracht werden – über das Meer nach Schweden. Dass dies funktionierte, lag auch begründet im Verhalten der Besatzer: Die Deutschen verhielten sich – für ihre Verhältnisse – geradezu moderat. Sie hatten eine zynische und zugleich nüchterne Rechnung aufgemacht: Wären sie bei ihrer "Judenaktion" in Dänemark so brutal und rücksichtslos vorgegangen wie in anderen besetzten Ländern – unter den Dänen wäre offener Aufruhr ausgebrochen. Freilich: Von dem Kalkül der Besatzer konnten die Juden nichts ahnen. Und neben den vielen Besatzungssoldaten, die bewusst wegsahen, gab es auch jene überzeugten Nazis und jene Trupps der Gestapo, die einzelne kleine Häfen am Sund stürmten – und dort sogar Schiffe mit Flüchtlingen, die schon abgelegt hatten, mit Feuer aus ihren Maschinenpistolen zurück an Land zwangen. Was die Gestapobeamten nicht wussten: Überall in den Fischerdörfern hielten sich unzählige Juden in den Privathäusern versteckt. Sie warteten nur darauf, dass die Deutschen einen Hafen wieder verließen. Der norwegische Student Vilhelm Lind beobachtete die Szenerie im kleinen Hafen Gilleleje, als die Gestapo dort gerade wieder das Feld geräumt hatte.
"Mit einem Mal sprangen alle Haustüren auf, aus fast jedem Haus strömten Juden auf die Straße. Von einem Moment zum anderen war die ganze Hauptstraße voller Menschen. Vom Säugling bis hin zu grauhaarigen Männern und Frauen. Arm und Reich, allesamt auf der Flucht vor den Barbaren. Gichtkranke alte Frauen wurden von wettergegerbten Fischern getragen, andere auf Schubkarren gerollt oder mit seltsamsten anderen Transportmitteln gekarrt. Es war ein seltsamer Anblick – all diese Menschen, die die Hauptstraße runter zum Hafen rannten: Menschen, die nicht das Geringste getan hatten und deren einzige Sünde es war, Juden zu sein."
Und die nun hofften, schnell noch auf ein Boot zu kommen, bevor die Deutschen wieder auftauchen würden. Es waren in der Tat oftmals eher kleine Boote als Schiffe, die über die Meerenge nach Schweden fuhren. Und so lauerten auf See noch einmal Gefahren. Viele Boote gerieten in Herbststürme. Auf anderen verloren die Seeleute in stockdunkler Nacht die Orientierung. Zwei Familien wurden so auf ihrem Fischkutter weit nach Süden getrieben, bis fast in deutsche Gewässer; in der Ferne sahen sie schon das Leuchtfeuer der Insel Rügen blinken – dräuend wie ein Fanal des Todes. Aber auch sie schafften es ins rettende Schweden. Und mit ihnen fast 8000 weitere Verfolgte, sodass neun von zehn dänischen Juden ihren Mördern entgingen.
Das Buch lässt die Dramatik jener Herbsttage lebendig werden. Bo Lidegaard kombiniert dabei Auszüge aus den Tagebüchern geflohener Juden mit einer gut lesbaren Schilderung der Ereignisse und auch der politischen und geistigen Rahmenbedingungen. Die Dänen retteten ihre jüdischen Mitbürger, weil sie den humanistischen Geist der Demokratie verinnerlicht hatten. Davor mussten sogar die selbst ernannten Weltherrscher aus Deutschland kapitulieren.
"Ganz offensichtlich schreckten die NS-Täter, sobald man sie vor eine klare Wahl stellte, das heißt, wenn man ihnen wie in Dänemark deutlich zu verstehen gab, dass man ihre strategischen Interessen hintertreiben würde, wenn sie den Juden Leid antun, vor ihren Verfolgungsmaßnahmen zurück."
Wie die Dänen den Judenmord sabotierten, das war aus Bo Lidegaards Sicht wirkungsvoller, als wenn 5000 dänische Partisanen einen verzweifelten Guerillakrieg gegen die SS geführt hätten. Vom dänischen Akt der Menschlichkeit erzählt "Die Ausnahme" auf anrührende Weise.
Wüsste man nicht schon vorher um den meist glücklichen Ausgang der Fluchtgeschichten, das Buch wäre ein haarsträubender Thriller. Den einzigen Wermutstropfen liefert die deutsche Übersetzung: Denn die leistet sich einige sprachliche Schwächen. Sei es die oftmals hemdsärmelige Wortwahl bei den Verben, seien es ein paar offene grammatikalische Schnitzer oder sei es, dass der Genitiv hier ein Mauerblümchendasein fristet. Für eine zweite deutsche Auflage ergibt sich da einiger Überarbeitungsbedarf. Dass eine solche zweite Auflage nötig wird, das ist Bo Lidegaards Buch allerdings lebhaft zu wünschen.
Buchinfos:
Bo Lidegaard: "Die Ausnahme. Oktober 1943: Wie die dänischen Juden mithilfe ihrer Mitbürger der Vernichtung entkamen", Karl Blessing-Verlag, 592 Seiten, Preis: 24,99 Euro, ISBN: 978-3-896-67510-1
"Es war die breite Masse der ganz gewöhnlichen Bürger, die mit ihrer Hilfe für ihre Landsleute kollektiv den ersten Schritt zum zivilen Ungehorsam machten. Sie taten es, weil sie die bevorstehende Aktion als einen Versuch betrachteten, der Gesellschaft, der sie sich zugehörig fühlten, das Rückgrat zu brechen."
Die Ausgangslage in Dänemark war eine besondere: Gerade weil die Dänen den Deutschen keinen nennenswerten Widerstand leisteten, brauchten die Besatzer nur relativ wenige Soldaten, um das Land im Griff zu halten. Ende September 1943 aber sickerte durch, dass Dänemarks Juden deportiert werden sollten. Dies empfanden fast alle Dänen als einen terroristischen Akt. Was den Deportierten drohte, das ahnten die Augenzeugen im Kopenhagener Hafen, als dort einige verhaftete Juden auf ein deutsches Frachtschiff verschleppt wurden. Bo Lidegaard zitiert die Erinnerungen eines Betroffenen:
"Man wurde unter Gebrüll und brutalen Schlägen über eine hohe, steile und sehr schwierige Leiter auf das Schiff getrieben. Hinter der Reling standen ein paar deutsche Militärpolizisten mit langen Bambusstangen, an deren Enden Haken befestigt waren. Damit sie ihre Opfer am Nacken ergreifen und hochziehen konnten, wenn sie nicht schnell genug raufkletterten."
Die meisten dänischen Juden allerdings waren rechtzeitig gewarnt worden von dem deutschen Diplomaten Georg Ferdinand Duckwitz. Deshalb konnten Tausende unmittelbar vor dem Beginn der Deportationen untertauchen. Sie fanden Zuflucht bei der dänischen Bevölkerung: in Kellern oder Lagerhäusern, in Kirchen, auch in Privatwohnungen. Sogar die dänische Polizei schlug sich auf die Seite der Verfolgten. Alle kannten nur ein Ziel: Die bedrohten Juden mussten in Sicherheit gebracht werden – über das Meer nach Schweden. Dass dies funktionierte, lag auch begründet im Verhalten der Besatzer: Die Deutschen verhielten sich – für ihre Verhältnisse – geradezu moderat. Sie hatten eine zynische und zugleich nüchterne Rechnung aufgemacht: Wären sie bei ihrer "Judenaktion" in Dänemark so brutal und rücksichtslos vorgegangen wie in anderen besetzten Ländern – unter den Dänen wäre offener Aufruhr ausgebrochen. Freilich: Von dem Kalkül der Besatzer konnten die Juden nichts ahnen. Und neben den vielen Besatzungssoldaten, die bewusst wegsahen, gab es auch jene überzeugten Nazis und jene Trupps der Gestapo, die einzelne kleine Häfen am Sund stürmten – und dort sogar Schiffe mit Flüchtlingen, die schon abgelegt hatten, mit Feuer aus ihren Maschinenpistolen zurück an Land zwangen. Was die Gestapobeamten nicht wussten: Überall in den Fischerdörfern hielten sich unzählige Juden in den Privathäusern versteckt. Sie warteten nur darauf, dass die Deutschen einen Hafen wieder verließen. Der norwegische Student Vilhelm Lind beobachtete die Szenerie im kleinen Hafen Gilleleje, als die Gestapo dort gerade wieder das Feld geräumt hatte.
"Mit einem Mal sprangen alle Haustüren auf, aus fast jedem Haus strömten Juden auf die Straße. Von einem Moment zum anderen war die ganze Hauptstraße voller Menschen. Vom Säugling bis hin zu grauhaarigen Männern und Frauen. Arm und Reich, allesamt auf der Flucht vor den Barbaren. Gichtkranke alte Frauen wurden von wettergegerbten Fischern getragen, andere auf Schubkarren gerollt oder mit seltsamsten anderen Transportmitteln gekarrt. Es war ein seltsamer Anblick – all diese Menschen, die die Hauptstraße runter zum Hafen rannten: Menschen, die nicht das Geringste getan hatten und deren einzige Sünde es war, Juden zu sein."
Und die nun hofften, schnell noch auf ein Boot zu kommen, bevor die Deutschen wieder auftauchen würden. Es waren in der Tat oftmals eher kleine Boote als Schiffe, die über die Meerenge nach Schweden fuhren. Und so lauerten auf See noch einmal Gefahren. Viele Boote gerieten in Herbststürme. Auf anderen verloren die Seeleute in stockdunkler Nacht die Orientierung. Zwei Familien wurden so auf ihrem Fischkutter weit nach Süden getrieben, bis fast in deutsche Gewässer; in der Ferne sahen sie schon das Leuchtfeuer der Insel Rügen blinken – dräuend wie ein Fanal des Todes. Aber auch sie schafften es ins rettende Schweden. Und mit ihnen fast 8000 weitere Verfolgte, sodass neun von zehn dänischen Juden ihren Mördern entgingen.
Das Buch lässt die Dramatik jener Herbsttage lebendig werden. Bo Lidegaard kombiniert dabei Auszüge aus den Tagebüchern geflohener Juden mit einer gut lesbaren Schilderung der Ereignisse und auch der politischen und geistigen Rahmenbedingungen. Die Dänen retteten ihre jüdischen Mitbürger, weil sie den humanistischen Geist der Demokratie verinnerlicht hatten. Davor mussten sogar die selbst ernannten Weltherrscher aus Deutschland kapitulieren.
"Ganz offensichtlich schreckten die NS-Täter, sobald man sie vor eine klare Wahl stellte, das heißt, wenn man ihnen wie in Dänemark deutlich zu verstehen gab, dass man ihre strategischen Interessen hintertreiben würde, wenn sie den Juden Leid antun, vor ihren Verfolgungsmaßnahmen zurück."
Wie die Dänen den Judenmord sabotierten, das war aus Bo Lidegaards Sicht wirkungsvoller, als wenn 5000 dänische Partisanen einen verzweifelten Guerillakrieg gegen die SS geführt hätten. Vom dänischen Akt der Menschlichkeit erzählt "Die Ausnahme" auf anrührende Weise.
Wüsste man nicht schon vorher um den meist glücklichen Ausgang der Fluchtgeschichten, das Buch wäre ein haarsträubender Thriller. Den einzigen Wermutstropfen liefert die deutsche Übersetzung: Denn die leistet sich einige sprachliche Schwächen. Sei es die oftmals hemdsärmelige Wortwahl bei den Verben, seien es ein paar offene grammatikalische Schnitzer oder sei es, dass der Genitiv hier ein Mauerblümchendasein fristet. Für eine zweite deutsche Auflage ergibt sich da einiger Überarbeitungsbedarf. Dass eine solche zweite Auflage nötig wird, das ist Bo Lidegaards Buch allerdings lebhaft zu wünschen.
Buchinfos:
Bo Lidegaard: "Die Ausnahme. Oktober 1943: Wie die dänischen Juden mithilfe ihrer Mitbürger der Vernichtung entkamen", Karl Blessing-Verlag, 592 Seiten, Preis: 24,99 Euro, ISBN: 978-3-896-67510-1