Fast jede Woche melden die Nachrichten ein neues Bootsunglück auf dem Mittelmeer. Erst gestern haben die EU-Innenminister wieder einmal beraten, wie Schutzsuchende verteilt werden können - erneut ohne Einigung.
Doch das Drama auf dem Mittelmeer ist nur ein Fluchtszenarium. Weitgehend unter Ausschluss der Öffentlichkeit spielt sich in der Sahara ein Flüchtlingsdrama ab. So verdursten im Niger regelmäßig Menschen bei ihrem Versuch, die Wüste zu durchqueren. In den ersten zehn Monaten des vergangenen Jahres sollen nach Schätzungen der Internationalen Organisation für Migration 540.000 Flüchtlinge durch den Niger gezogen sein.
Ärzte ohne Grenzen ist eine der Organisationen, die dort Hilfe leisten. Bis September war auch Florette Razafimeva als Logistikerin vor Ort.
Rainer Brandes: Wie müssen wir uns die Flucht dieser Menschen durch die Sahara vorstellen? Gehen die Menschen zu Fuß? Gibt es Schlepper, die sie auf LKW mitnehmen? Wie funktioniert das?
Florette Razafimeva: Es ist sowohl zu Fuß als auch mit Schleppern. Bloß das Problem, das ich da gesehen habe während meiner Zeit, ist: Durch diese Kriminalisierung der Fahrt durch die Wüste von der EU und der nigerischen Regierung, nehmen die Leute jetzt nicht mehr die normalen Routen, wo sie an Wasserstellen vorbeigehen, sondern sie nehmen unterschiedliche Routen – vor allem, um nicht von den Grenzpolizisten ertappt zu werden. Das macht die Arbeit ein bisschen schwierig, weil manchmal die Schlepper, wenn sie unterwegs sind und sie werden dann gejagt von den Polizisten, dann passieren manchmal Unfälle, oder sie schmeißen einfach die Migranten da in die Wüste.
Brandes: Jetzt sagen Sie, die Migranten nehmen jetzt andere Fluchtrouten. Das heißt, das sind Routen mitten durch die Wüste?
Razafimeva: Ja, genau. Stellen Sie sich mal vor, es gibt nämlich zwei Routen: eine über Algerien. Die geht dann hoch nach Spanien, Marokko und Spanien. Und die andere Route ist über Niger nach Libyen. Das sind unterschiedliche Routen, die man gar nicht bezeichnen kann. Nur sie wissen, wohin sie gehen, oder sie selber wissen manchmal nicht mal, wohin sie gehen, und da laufen sie tausend Kilometer oder mehr.
Neues Projekt von Ärzte ohne Grenzen im Niger
Brandes: Jetzt ist Ärzte ohne Grenzen dort vor Ort und sucht nach diesen Flüchtlingen. Haben Sie überhaupt eine Chance, diese Menschen zu finden?
Razafimeva: Das Projekt ist jetzt noch ganz neu. Es hat erst im Januar 2019 gestartet. Wir unterstützen das Gesundheitswesen der nigerischen Regierung, indem wir die Leute, die jetzt zum Beispiel von Algerien nach Niger geschickt werden – da ist ein sogenannter Punkt null und von da laufen sie zwölf Kilometer bis zum nächsten Gesundheitszentrum, wo Ärzte ohne Grenzen Hilfe anbietet, durch die Unterstützung vom Gesundheitswesen.
Wir haben ein Erste-Hilfe-Kit entwickelt. Das beinhaltet Hygiene-Artikel, Energiekekse und auch Klamotten, weil manchmal kommen sie auch ohne Klamotten. Während der kalten Jahreszeiten haben wir auch Jogging-Anzüge und auch Decken ausgegeben.
Die Rettungsaktion in der Wüste, die machen wir durch Unterstützung auch vom Gesundheitswesen in der Bevölkerung. Weil stellen Sie sich vor: Die Leute laufen normalerweise mit ihrem Handy, weil das ganze Netzwerk läuft ja übers Handy. Jedoch wird denen das alles abgenommen und nur die Bevölkerung kann sie finden und uns dann Bescheid geben, und dann arbeiten wir zusammen mit den Einheimischen da, die Autos haben, um die zu retten. Zu meiner Zeit konnten wir 40 Leute zum Beispiel aus der Wüste retten, denen wir Wasser und Säfte und allen ein Erste-Hilfe-Kit auch gegeben haben.
"Viele haben psychische Belastungen"
Brandes: In welchem Zustand waren diese Menschen, die Sie dort gefunden haben?
Razafimeva: Es ist sehr unterschiedlich. In der Menge der Personen, die da laufen, da sind ungefähr zwei Prozent Frauen, und manche Frauen kommen sogar mit Kindern. Viele haben psychische Belastungen, weil sie sind schon mehrmals durch die Wüste und dann ertappt worden, und dann kommen sie wieder, und sie sind wirklich am Boden. Es gab auch schwangere Frauen. Die waren total fertig durch das Laufen und manchmal mussten wir sogar durch das Gesundheitspersonal Leute holen, die nur noch getragen werden konnten. – Sehr, sehr schlechter Zustand.
Brandes: Jetzt habe ich gelesen, dass vor allem Algerien Tausende von Flüchtlingen in Richtung Niger abschiebt, und es gibt Berichte über Folterungen, Misshandlungen und auch Vergewaltigungen. Können Sie das bestätigen?
Razafimeva: Ja, ich kann das bestätigen. Wir haben hier auch Fälle, denen durch unsere Psychologen geholfen werden und die unterstützt werden, Frauen, die vergewaltigt worden sind. Viele kamen dann auch mit vielen Wunden zu uns und richtig total am Boden, dass die dann manchmal sogar etwas aggressiv sind.
"Ihre Hoffnung ist, in Europa anzukommen"
Brandes: Jetzt kann Ärzte ohne Grenzen da ja eigentlich nur akute Nothilfe leisten, so wie Sie das gerade beschrieben haben. Aber aus Ihrer Sicht: Was bräuchten diese Menschen jetzt am dringendsten, damit solche Situationen erst gar nicht entstehen?
Razafimeva: Solange diese Routen und diese Verfolgungen bestehen, jetzt von Seiten der nigerischen Regierung - diese Leute werden sowieso immer weiterlaufen. Wir können nur unsere Hilfe anbieten, indem wir, wie ich schon beschrieben habe, sie suchen und wieder helfen, wie wir können. Aber sie werden immer laufen. Das kann man nicht stoppen. Ich habe mit denen geredet. Ihre Hoffnung ist, in Europa anzukommen. Sie werden verschoben; sie werden aber immer wieder gehen, haben sie gesagt.
Brandes: Das heißt, aus Ihrer Sicht wäre das die einzige Lösung, legale Fluchtmöglichkeiten aufzumachen?
Razafimeva: Absolut! Das wäre jetzt meine Einsicht.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.