Noch nie hat das Flüchtlingswerk UNHCR so hohe Zahlen vorgelegt wie im letzten Jahresbericht: Fast 60 Millionen Flüchtlinge gab es Ende 2014 weltweit. Etwa zwei Drittel von ihnen sind Binnenvertriebene, die Schutz im eigenen Land suchen. Die anderen haben sich auf den Weg ins Ausland gemacht, die meisten aus Syrien, Afghanistan und Somalia. Ein Ende der dramatischen Lage ist nicht in Sicht. In diesem Jahr erreichte die Zahl von Flüchtlingen und Asylsuchenden auch in Europa eine neue Dimension. Bis zu 1,5 Millionen Menschen könnten bis Jahresende allein in Deutschland eintreffen.
"Es gibt ja so verschiedene Arten und Weisen, die im Moment auch in den Me-dien kursieren, die Ursachen für Flucht und Vertreibung zu erklären. Mal ist es die US-amerikanische Nahost-Politik, mal wird durchaus auch die Entwicklungszusammenarbeit genannt oder die europäische Agrarsubventionspolitik. Natür-lich kann man auch zurückgehen und den Bogen spannen zum Kolonialismus: Willkürliche Grenzziehungen, die ethnische Gruppen auseinanderdividiert haben und so weiter."
Benjamin Schraven ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Deutschen Institut für Entwicklungspolitik in Bonn. Als Denkfabrik berät das Institut neben Bundesregierung und Europäischer Kommission auch internationale Organisationen wie die Vereinten Nationen und die Weltbank.
Die Auslöser der Probleme sind divers
"Gewiss haben der ein oder andere Faktor Anteil an dieser Entstehungsgeschichte von Konflikten, die jetzt auch zu massiven Fluchtbewegungen führen. Letztendlich taugen aber alle diese unikausalen Erklärungsmuster recht wenig. Und vor allem sollte man nicht vergessen, gibt's natürlich auch noch eine Verantwortung lokaler Machteliten. Weil die europäische Kolonialisierung oder die Agrarpolitik hat im Endeffekt auch wenig damit zu tun, dass Herr Assad zum Beispiel Fassbomben auf seine eigenen Staatsbürger schmeißt."
Die möglichen Auslöser der Probleme sind divers. Ebenso vielfältig sind die diskutierten Maßnahmen, um die Fluchtursachen zu bekämpfen. Dabei setzt die Politik auch Hoffnung in Entwicklungszusammenarbeit: Gesellschaft und Wirtschaft stabilisieren; Schulen, Krankenhäuser und Straßen aufbauen. Anfang 2014 rief das Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Ent-wicklung dafür eine Sonderinitiative ins Leben. Doch inwieweit können solche Projekte tatsächlich helfen? Ein Großteil der Menschen flüchte vor bewaffneten Konflikten wie in Syrien oder Afghanistan, sagt Schraven. Entwicklungszusammenarbeit sei in diesen Ländern selbst nachgeordnet.
"Ich denke an erster Stelle ist hier die internationale Gemeinschaft mit ihrem sicherheitspolitischen Instrumentarium gefragt."
Politische Konfliktlösung stehe auch in Ländern mit staatlicher Repression wie Eritrea im Vordergrund; oder in Nigeria, wo die Terrorgruppe Boko Haram wütet. Priorität habe ebenso die humanitäre Hilfe in existierenden Flüchtlingslagern. Millionen Syrer leben beispielsweise in den Nachbarländern Türkei, Jordanien und dem Libanon.
"Vor zwei Monaten hat es ja auch Schlagzeilen gemacht, sind dem World Food Programme die Mittel ausgegangen, weil vorher getroffene Zusagen der Länder nicht eingehalten wurden und dementsprechend auch Lebensmittelrationen für Syrer in den genannten Ländern gekürzt werden mussten. Also ein guter Anfang wäre, dass man entsprechende finanzielle Zusagen nicht nur erhöht, sondern in erster Linie auch mal einhält."
Nicht alle flüchten vor unmittelbarer Gefahr und Verfolgung
Entwicklungszusammenarbeit könne schließlich den Übergang leisten von der humanitären Hilfe hin zu einer längerfristigen Perspektive für Bildung und Beschäftigung der Menschen in den Flüchtlingslagern.
"UNICEF und andere Organisationen sprechen ja jetzt schon von einer "lost generation". Also junge Menschen, die in diesen Lagern leben, vor sich hinvegetieren und keine Lebensperspektive in dem Sinne haben. Ich denke, hier wäre ein ganz wichtiger Ansatzpunkt, dass die Entwicklungszusammenarbeit auch massiv ihre Bemühungen investiert, in die sogenannte Übergangshilfe."
Entwicklungszusammenarbeit kann nach Schraven unter diesen Umständen zwar Migration aus den Flüchtlingslagern beeinflussen, nicht aber die Lebensbedingungen in den von Krieg und Terror betroffenen Herkunftsländern wie Syrien selbst verbessern.
"Wenn wir dann weiter denken, wenn es dann im Falle Syriens hoffentlich schon bald eine Friedenslösung gäbe, kann Entwicklungspolitik natürlich auch hier dazu beitragen – sogar massiv dazu beitragen – gesellschaftliche Strukturen zu stabilisieren, rechtliche Strukturen zu stabilisieren, Verwaltungshandeln zu stabilisieren und Wirtschaft wieder zu fördern."
Nicht alle, die derzeit nach Europa kommen, flüchten vor unmittelbarer Gefahr und Verfolgung. Menschen aus den Westbalkan-Ländern etwa treibt wirtschaftliche Not und Perspektivlosigkeit ins Ausland. Ob und wie in diesen Regionen über Entwicklungszusammenarbeit gezielt Korruption bekämpft und das Wirtschaftswachstum angeregt werden kann, ist dabei in Expertenkreisen umstritten.
Ob Entwicklungszusammenarbeit generell die Lebensbedingungen in einem Land verbessert, sei wissenschaftlich schwer nachweisbar, sagt Axel Dreher, Professor für Internationale Wirtschafts- und Entwicklungspolitik an der Universität Heidelberg.
Ob Entwicklungszusammenarbeit generell die Lebensbedingungen in einem Land verbessert, sei wissenschaftlich schwer nachweisbar, sagt Axel Dreher, Professor für Internationale Wirtschafts- und Entwicklungspolitik an der Universität Heidelberg.
"Hier gibt's in der Tat überhaupt keine belastbare Evidenz, dass sich irgendwas getan hat. Das gilt zu Beginn der Entwicklungshilfe, wenn sie so in die 50er Jahre zurückgehen, bis heute."
Ein Beweis für die Wirkungslosigkeit von Entwicklungshilfe sei das wiederum nicht. Es gebe viele Beispiele für gelungene Projekte.
"Wenn sie statistisch nicht nachweisen können, dass es diesen Zusammenhang gibt, kann das viele Gründe haben: Die Hilfe ist nicht hoch genug. Die Daten sind schlecht gemessen. Die Hilfe ist vielleicht regional konzentriert auf bestimmte Regionen in einem Land. Vielleicht hat sie dort einen messbaren Erfolg, aber sie messen in der Regel ja das Wirtschaftswachstum für das ganze Land und die Hilfe für das ganze Land."
Die Empfängerländer dürften nicht von Korruption und Rechtlosigkeit beherrscht werden, sagt Dreher. Doch vorausgesetzt diese Mindestvorgaben sind erfüllt: Wie sollte effiziente Entwicklungszusammenarbeit organisiert sein? Immer wieder konkurrieren unterschiedliche Ansätze.
"Sollten sie vor Ort eine Straße nicht einfach nur so finanzieren, dass sie das Geld der Regierung geben, und die kümmert sich um die Straße? Sondern sollten sie Mitarbeiter schicken, die dann mitarbeiten am Bau der Straße beispielsweise, Berater schicken, wie die Straße gebaut werden soll und so weiter."
Das Zusammenspiel der Akteure ist schlecht abgestimmt
Oft sind Projekte auf kurze Zeit begrenzt. Dreher plädiert für verlässliche Finanzierungen über etwa 30 Jahre – geknüpft an bestimmte Voraussetzungen – um langfristig Planungssicherheit zu gewährleisten. Problematisch sei auch, dass Geberländer gut sichtbare Projekte bevorzugen.
"Sie müssen auch vor der eigenen Bevölkerung rechtfertigen, warum sie Entwicklungshilfe geben. Dann ist es immer schön, wenn der Entwicklungshilfeminister sich vor einem schönen neuen Bahnhof fotografieren lassen kann. Wer dann hinterher die Schienen für die neue Bahn finanziert, das bleibt dabei offen. Und sie können sich vorstellen: Wenn Deutschland eine neue Bahn finanziert, hat Frankreich keine Lust hinterher für die Aufrechterhaltung der Schienen zu bezahlen. Und wenn Deutschland sich dann in Zukunft mit dem Aufbau einer Autobahn beschäftigt, verfällt das Schienennetz."
Generell sei das Zusammenspiel der Akteure in der Entwicklungszusammenarbeit schlecht abgestimmt.
"Ich kann nicht einsehen, warum wir von allen verschiedenen Geberländern und internationalen Organisationen Vertreter in diesen Ländern brauchen, die sich gegenseitig auf den Füßen rumtrampeln, die jeweils dann ihre eigenen Projekte beaufsichtigen und mit durchführen."
Hinter der Tatsache, dass jedes einzelne Land für sich Entwicklungszusammenarbeit betreibt, sieht Dreher hauptsächlich das Interesse an bilateralen Beziehungen zu den Empfängerländern.
"Wenn das nicht das Ziel wäre, kann ich nicht einsehen, warum wir überhaupt eine deutsche Entwicklungszusammenarbeit brauchen. Sie könnten völlig problemlos das komplett abschaffen, könnten die Mittel dafür an die Europäische Union geben. Dann hätten wir eine europäische Entwicklungszusammenarbeit. Viele Probleme würden damit gelöst werden, Koordinationsprobleme, dieses sich gegenseitig auf den Füßen rumtrampeln, wäre alles ein viel kleineres Pro-blem, wenn sie multilaterale Organisationen einsetzen würden. Sie könnten auch die Weltbank verstärkt einbinden, mit mehr Geld, wenn's wirklich darum ginge, Armut zu reduzieren und nicht doch eher um bilaterale, geostrategische Motive."
Neue Geberländer werden immer beliebter
Auch Benjamin Schraven beklagt, dass westliche Entwicklungsprojekte oft wenig nachhaltig und unzureichend koordiniert sind. Darin sieht er auch einen Grund dafür, dass neue Geberländer wie China immer beliebter würden, etwa in Afrika.
"Weil die haben keine Konditionalitäten wie jetzt etwa die deutsche Entwicklungszusammenarbeit, wo Projekte dann auch bürokratische Spielregeln zu beachten haben selbstverständlich (...) und es natürlich Konditionalitäten gibt wie ökologische Nachhaltigkeit oder Teilhabe der lokalen Bevölkerung und so weiter. Das hat die chinesische Entwicklungszusammenarbeit zum Beispiel so nicht."
Wie effiziente Entwicklungszusammenarbeit gestaltet sein sollte, ist also umstritten. Generell ließen sich dadurch Migrationsbewegungen innerhalb und auch zwischen Ländern kaum steuern, sagt Schraven. Frühzeitig in Krisenregionen eingesetzt, könne sie eventuell helfen, Konflikte einzudämmen und so große Fluchtbewegungen zu vermeiden. Schraven plädiert aber auch dafür, Migration als Chance für alle beteiligten Länder zu begreifen.
"Es fängt ja an mit den sogenannten Rücküberweisungen: Die Migranten arbeiten in den Aufnahmeländern, schicken Geld an ihre Familien. Diese Gelder werden nicht nur benutzt, um Alltägliches zu konsumieren, sondern sie werden natürlich auch genutzt um Bildungsausgaben zu tätigen, Gesundheitsausgaben zu tätigen, und sie werden reinvestiert usw. Also im Endeffekt sind das dann Gelder, von denen nicht nur die Familie etwas hat, sondern dann auch das ganze Herkunftsland. Das Aufnahmeland hat natürlich etwas davon, weil es eine neue Arbeitskraft hat. Und das ist natürlich ein Aspekt, den wir in Europa nicht gering schätzen sollten in Anbetracht des Faktors demografischer Wandel."