Birgid Becker: Verteilungsfragen - wer kann geben, wem sollte gegeben werden. Das gehört zum Kernbereich der gewerkschaftlichen Arbeit, nicht nur, wenn es um das Aushandeln höherer Löhne geht. Nein, auch wenn es sich um allgemeinere Fragen der Gesellschaftspolitik dreht.
Mitgehört hat der Koblenzer Sozialwissenschaftler Stefan Sell. Guten Tag.
Stefan Sell: Guten Tag, Frau Becker.
Becker: Rente stärken, Mitglieder gewinnen, ja und auch Flüchtlingen helfen, das war eben der Dreiklang, den sich der DGB-Chef laut unseres Berichts für dieses Jahr verordnet hat.
Im Vergleich dazu, wie dezidiert die Arbeitgeber in den vergangenen Wochen bereits für eine Willkommenskultur geworben haben und geschlossenen Grenzen eine Abfuhr erteilt haben, kommt da der DGB-Chef nicht etwas spät und etwas leise?
Sell: Na ja, es ist so: Wenn man es etwas zuspitzen sollte, kann man schon von einer gewissen Beißhemmung bei diesem Thema sprechen. Das liegt natürlich auch daran - das ist jetzt kein Vorwurf, sondern eine Beschreibung -, dass der große DGB ja aus Gewerkschaften besteht, die Mitgliedsorganisationen sind, und die Mitglieder, die gewerkschaftlichen Mitglieder sind natürlich bei dieser Frage ähnlich gespalten wie große Teile der Bevölkerung.
"Tendenziell müssen die Gewerkschaftsmitglieder die Spannungen aushalten"
Becker: Auf der anderen Seite ist der DGB als Dach ja gerade das politische Sprachrohr der Einzelgewerkschaften und kann sich vielleicht Dinge leisten, oder kann es sich leisten, sich unbeliebter zu machen, als das die Einzelgewerkschaften können.
Sell: Das ist richtig. Auf der anderen Seite, glaube ich, erkennt man bei dem Gewerkschaftsdachverband schon auch die großen Spannungen, die mit dem Thema Flüchtlinge verbunden sind.
Es ist ja auffällig, dass heute an mehreren Beispielen auf die großen Baustellen Arbeitsmarkt, Wohnungsmarkt, Öffentlicher Dienst hingewiesen wurde, Baustellen, die wir ja schon vor der großen Flüchtlingswelle hatten und die unbearbeitet waren, und man weiß natürlich beim DGB, da beißt die Maus keinen Faden ab, dass diese große Integrationsaufgabe, die jetzt vor uns liegt, zu erheblichen Spannungen führt, und aushalten müssen diese Spannungen auf dem Wohnungsmarkt, in bestimmten Bereichen des Arbeitsmarktes, da wo man gerade den Mindestlohn durchgesetzt hat beispielsweise, tendenziell eher die Mitglieder der Gewerkschaften.
Becker: Aber wie tragfähig ist überhaupt der Gedanke, dass es solch eine Konkurrenzsituation geben könnte zwischen Flüchtlingen und, sagen wir, anderen Problemgruppen auf dem Arbeitsmarkt, im Sozialbereich oder bei der Suche nach preiswertem Wohnraum?
Sell: Ja, wir haben eine Verschiebung der Debatte. Wenn wir das Arbeitsmarktbeispiel nehmen: an Anfang großer Jubel auch auf der Wirtschaftsseite über diese Zuwanderung. Dann wurde genauer hingeschaut. Man hat gesehen, was für Menschen sind das, was bringen die mit, das sind primär Flüchtlinge, das sind gerade keine Wirtschaftsflüchtlinge, die eine gewisse Voraussetzung mitbringen, sondern erhebliche Investitionen werden fällig, bevor die überhaupt vernünftig auf dem Arbeitsmarkt integriert werden können. Gleichzeitig haben wir weiterhin noch Arbeitsverbote und lange Zeiten, wo die gar nicht tätig werden dürfen, und das erhöht natürlich den Druck, ob man das nun gut findet oder nicht, dass zum Beispiel auch im Bereich der Schwarzarbeit, der illegalen Beschäftigung der Druck steigt, und das spüren die Gewerkschaften.
"Das ist natürlich ein Spagat"
Becker: Wäre an der Stelle aber nicht erst recht ein Plädoyer für Integration fällig? Denn auf der anderen Seite, wenn der BDA-Chef, der Präsident der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände, wenn der für eine Willkommenskultur wirbt, dann wird er ja auch nicht unbedingt die Meinung eines jeden Mitgliedsunternehmens spiegeln, und er tut es dennoch.
Sell: Ja. Die Gewerkschaften oder der DGB hat das ja heute versucht, ganz klar auch mit Zahlen, wie viele Lehrer brauchen wir, Erzieher. Aber es ist natürlich klar, das muss bezahlt werden, und da hat der DGB zurecht darauf hingewiesen, dass das auch bedeutet, dass man an die Steuereinnahmen heran muss, und das ist ein unangenehmes Thema. Aus der Wirtschaft kommt zwar die Forderung, aber sofern es dann um die Frage geht, wer bezahlt das, hört man relativ wenig konkrete Vorschläge. Der DGB hat da welche vorgelegt, weiß allerdings, dass das nicht unumstritten ist. Das ist natürlich ein Spagat, den man auch in dieser Organisation gegenüber den Mitgliedern gehen muss.
Becker: Was könnten, wenn sich die Gewerkschaften tatsächlich der Integration mehr verpflichtet fühlen würden, als das derzeit der Fall ist, was konkret könnten sie tun, um diesem Integrationsgedanken, gerade dieser Brücke in den Arbeitsmarkt Auftrieb zu geben?
Sell: Sie müssen auf der einen Seite natürlich die Standards verteidigen. Das ist ihre Aufgabe. Sie müssen auf der anderen Seite oder sollten ganz stark Wert legen darauf, dass man eine mittel- und langfristig angelegte Integration anstrebt.
Das bedeutet, dass man sagt, bevor man die Leute in irgendwelche Jobs vermittelt, die so schlecht bezahlt sind, dass sie dann auf Dauer trotzdem zum Beispiel aufstocken müssen, sollte man unbedingt den Berufsausbildungsansatz fahren, das heißt jeden Flüchtling, der hier bleiben kann und wird, in eine Berufsausbildung zu bringen, um mittel- und langfristig daraus selbsttragende Arbeitskräfte zu machen. Das erfordert große Anstrengungen in unserem Ausbildungssystem, auch im Berufsschulsystem. Da müsste der DGB sicherlich ganz vorweg marschieren.
Becker: Der Koblenzer Sozialwissenschaftler Stefan Sell war das - vielen Dank.
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