Rostock Hauptbahnhof. Wieder trifft ein Zug aus Hamburg ein, und Hikmat Al-Sabty, der einst aus dem Irak floh und seit über 20 Jahren in der Hansestadt lebt, will helfen. Er möchte den arabisch sprechenden Ankömmlingen eine erste Orientierung geben:
"Sie wissen ja nicht, ist Deutschland gut für sie? Oder Schweden? Manche fragen: Ist Schweden besser als Deutschland? Aber wir können natürlich nicht sagen, was besser ist."
Al-Sabty weiß: Für fast jeden Flüchtling, der am Rostocker Hauptbahnhof aussteigt, ist Rostock nicht das Ziel, sondern letzter Zwischenstopp vor dem Wunschland Schweden. Das nimmt gemessen an der Bevölkerungszahl von knapp zehn Millionen seit Langem mehr Kriegs-und Armutsflüchtlinge auf als jedes andere europäische Land.* Nahezu 32.000 unregistrierte Ausländer kamen allein seit Anfang September über die Ostseeroute Rostock-Trelleborg nach Schweden. Und so erleben die Helfer am Rostocker Hauptbahnhof mitunter auch das:
"Eben war eine Frau da. Aus Schweden, behauptete sie, von der schwedischen Autorität, also Stadtregierung. Keine Ahnung. Und sie hat uns sehr eindrücklich, sehr energisch gesagt, dass wir aufhören sollen. Dass wir keine Leute mehr schicken sollen. Aber wir sind ja nicht die, die schicken. Wir können sie nicht aufhalten. Das wollen wir nicht. Die Leute entscheiden selbst, wo sie hinwollen."
Mehr Flüchtlinge als Plätze auf der Fähre
Tatsächlich nährt auch die Bundesregierung den Eindruck, Flüchtlinge hätten einen Anspruch darauf, sich ihr Schutzland auszusuchen. Denn auch Berlin lässt seit dem Sommer Flüchtlinge mit dem Ziel Skandinavien "durchwinken" statt ihre Registrierung durchzusetzen. Eine Konsequenz spürt Rostock, seit Dänemark Anfang September den Zugverkehr ausgesetzt und begonnen hatte, konsequent jeden ein- und durchreisenden Ausländer zu registrieren. Das machte Dänemark schlagartig unattraktiv als Knotenpunkt auf der Fluchtroute nach Schweden. An diese Stelle rückte Rostock, wo gleich zwei Fährreedereien Trelleborg ansteuern. Stadtsprecher Ulrich Kunze erinnert sich:
"Am 8. September abends hat unser Sozialsenator einen Anruf aus dem Innenministerium bekommen, dass 80 Flüchtlinge auf der Reise nach Rostock seien, im Regionalexpress Schwerin gerade verlassen haben und wir uns doch bitte um die Beherbergung kümmern. In einer Stunde wären sie am Rostocker Hauptbahnhof."
So gehe das seitdem täglich von morgens bis nachts um zwei Uhr, und zwar im Takt von 2 Stunden und 45 Minuten. Nur dass mal vier "Transitreisende" aus dem Hamburger Zug steigen, mal 400. Und sie alle müssen derzeit für vier Tage untergebracht und verpflegt werden, denn so lange dauert es, bis sie ein Ticket für die nächste Trelleborg-Fähre erhalten können. Mit dem Winterfahrplan legen nur noch sieben Fähren täglich nach Trelleborg ab - vorausgesetzt, es ist nicht zu stürmisch. Zuletzt kamen ständig mehr Flüchtlinge in Rostock an als mit der Fähre weiterreisen konnten. Vor einer Woche der Höhepunkt, als sich rund 2.200 Wartende in Rostock stauten. Die Stadt - am Rande ihrer Möglichkeiten.
Nachrichten und falsche Interpretationen verbreiten sich schnell
In der "Fiete-Reder-Sporthalle" hatte das Deutsche Rote Kreuz 465 obdachlose Transitreisende aufnehmen können. Die Lage habe sich nun wieder etwas entspannt, sagt der Leiter der Notunterkunft, Gunnar Jasinski. Gerade seien "nur 300 Menschen in der Halle", wobei: Schon spuckt ein Kleinbus wieder 20 Neuankömmlinge aus.
"Das sind jetzt Familien mit Kindern. Die kommen zuerst rein, die kleinen Kinder, damit sie aus dem Regenwetter herauskommen. Sie setzen sich erst mal hierhin, und dann kommt immer ein Dolmetscher und nimmt eine Gruppe oder eine Familie."
In einem Teil der Sporthalle liegen keine Matratzen. Dort darf, ja soll Basketball gespielt werden. "Beschäftigung" sei "gerade jetzt extrem wichtig, um die wartenden Menschen abzulenken", sagt Gunnar Jasinski. So mancher ist sehr nervös: Was, wenn Schweden in der Zwischenzeit den Neuankömmlingen wirklich keine Bleibe mehr bietet? Oder Schlimmeres? Nachrichten verbreiten sich schnell, falsche Interpretationen oft noch schneller.
"Man muss immer gucken, was in den Medien gesagt wird und was es denn - wir verfolgen das ja auch - was es denn bedeutet." - "Wie haben Sie das denn verstanden?" - "Dass die eigentlich nicht in der Lage sind, staatlich das noch abzudecken. Aber es gibt welche, die sagen, die haben die Grenze zugemacht. Ich sage, kann ich mir nicht vorstellen, weil, es wäre ja irgendwo Rücklauf zu uns gekommen. Also es ist noch keiner von den Flüchtlingen, die unsere Einrichtung verlassen haben, wieder zurückgekommen."
Von Abschreckung noch nichts zu spüren
Fährterminal am Überseehafen Rostock. Nächste Fahrt nach Trelleborg? In drei Stunden um 15 Uhr. In einem weißen Zelt verteilt ein junger Mann von "Rostock hilft" gespendetes Essen und Tee an rund 30 junge Syrer und Afghanen. In Absprache mit den Fährgesellschaften organisieren sie auch den Ticketverkauf.
"Wir nehmen das Geld entgegen, gehen in die Büros, kaufen die Tickets, kümmern uns darum, dass es hier koordiniert ist. Es sind ja manchmal auch mehr Leute als Tickets da sind, dass es keine Rangeleien gibt, dass die Leute beruhigt werden."
Dass Schwedens Tritt auf die Bremse abschreckend wirkt, habe er noch nicht bemerkt. Die Tickets nach Trelleborg - weiterhin heiß begehrt. Die Zahl der Flüchtlinge, die lieber wieder aus Schweden zurückkehren - noch übersichtlich:
"Zurück kommen regelmäßig Leute, aber das sind eher kleine Gruppen. Maximal pro Schiff 5,6 Mann, wenn überhaupt. Einfach weil sie doch gesehen haben, dass Schweden nicht das ist, was sie sich so vorgestellt haben."
Zwar haben sich seit Schwedens Ankündigung mehr als 200 Flüchtlinge in Rostock entschieden, doch lieber in Deutschland Asyl zu beantragen statt nach Schweden auszureisen. Doch ob es schon bald einen größeren Rückstau geben werde? Unklar, meint Rostocks Sprecher, Ulrich Kunze. Nur eines sei absehbar, falls Schweden die Aufnahme weiterer Flüchtlinge und Migranten tatsächlich erschwert:
"Genauso, wie wir ein wichtiger Punkt geworden sind, könnten wir auch wieder von der Flucht-Landkarte verschwinden. Auf der anderen Seite hat Rostock dadurch, glaube ich, sehr gute Kapazitäten, um für die integrierend zu wirken, die dauerhaft bleiben und ein Leben zwischen uns aufbauen wollen."
*In einer vorherigen Fassung hieß es an dieser Stelle "als jedes andere Land der Welt". Richtig ist aber "jedes europäische Land".