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Flüchtlinge auf Lesbos
Tausende müssen leiden, um Millionen abzuschrecken

9.000 Migranten leben im Lager Moria auf der griechischen Insel Lesbos - gebaut ist es für 3.000 Menschen. Die ärztliche Versorgung ist schlecht, Suizide und blutige Konflikte um Essen häufen sich offenbar. Bisher wird kaum etwas getan, um das Leid der Bewohner zu lindern.

Von Michael Lehmann |
    Flüchtlingslager Moria auf der Insel Lesbos
    "Warum müssen die Flüchtlinge leiden? Sie müssen leiden, weil Griechenland oder die EU – irgendjemand will, dass sie leiden." Salam Aldeen von der Hilfsorganisation Team Humanity (dpa / picture alliance / Nicolas Economou)
    Ein dicker, schwarzer Schlauch liegt vor dem Eingang. Es ist die Abwasser-Leitung des Flüchtlingslagers Moria. Eine enorme Menge Fäkalien fällt an bei inzwischen 9.000 Bewohnern im Lager. Afrikanerinnen in farbigen und sehr sauberen Kleidern gehen mit ernsten Gesichtern an einem der Lastwagen vorbei, die zum Abpumpen gekommen sind.
    Es stinkt, aber dieser Gestank ist es nicht, vor dem Hawdin, der 27-jährige Kurde, ans Meer geflüchtet ist. Hawdin lebt seit 4 Monaten ganz für sich alleine außerhalb des Lagers an einem der wilden Strände.
    "Jeden Tag – immer wieder gab es Kämpfe im Lager. Ich bin mehrmals angegriffen worden. Als Kurde von Arabern. Hier am Auge meine Narbe – sehen Sie?
    Am Strand – alleine – fühle ich mich sicher. Und weil ich es im Lager nicht mehr aushalte, bringen mir meine Freunde dort runter an meinen Platz am Meer etwas zu essen."
    9.000 Menschen zusammengepfercht auf engstem Raum
    9.000 Migranten aus zig verschiedenen Ländern zusammengepfercht in einem Lager, das für 3.000 Menschen gebaut wurde. So viele Menschen auf engstem Raum bedrohen sich auch gegenseitig – durch Gewalt und durch Krankheiten. Suleman Ousman, ein junger libyscher Mitarbeiter von Ärzte ohne Grenzen, legt ein kleines Baby, das er untersucht hat, zurück in die Arme seiner Mutter:
    "Die häufigsten Krankheiten wechseln oft. Wir haben echte Notfälle, wo wir schnell eingreifen müssen – epileptische Anfälle – leider auch vermehrt psychische Attacken, weil die Belastung grade für Frauen und Kinder extrem ist. Während der Hitze waren viele im Lager dehydriert. Dann sehr viele Lungenentzündungen, da müssten viel mehr Leute sofort ins Krankenhaus gebracht werden"
    "Ärzte ohne Grenzen" muss sein Feldlazarett direkt am Flüchtlingscamps Moria immer wieder aus- und umbauen.
    "Wir sind mit einer kleinen Gruppe Ärzte hier gestartet – dann mussten immer mehr Freiwillige aus aller Welt herkommen. Wir sind jetzt wie eine kleine Klinik ausgestattet – mit Überwachungsraum sogar. Denn wir können nur wenige ins örtliche Krankenhaus schicken. Die sind überlastet und schicken zurück."
    Flüchtlinge im Aufnahmelager Moria auf der griechischen Insel Lesbos
    Flüchtlinge im Aufnahmelager Moria auf der griechischen Insel Lesbos (AFP / Aris MESSINIS)
    Junger Afghane sucht seit Tagen Hilfe für seine Frau
    "Oliven-Camp" heißt die Zeltstadt, die um das Lager mitten in Olivenhainen immer schneller wächst. "Oliven-Camp" ist ein hübscher Name für eine Zeltstadt ohne Kanalisation mit nur wenigen Waschplätzen und Toiletten. Mittendrin im Gewühle steht verzweifelt ein junger afghanischer Vater.
    Seit vier Tagen sucht er mit dem Attest einer Frauenärztin in der Hand nach Hilfe für seine hochschwangere Frau. Ein Übersetzer erklärt uns, wie ernst die Lage ist:
    "Sie verliert Blut – und es besteht die Gefahr, dass sie ihr Baby ganz verliert. Bitte sofort kontrollieren".
    Blutverlust mit Lebensgefahr für das Kind im Bauch der Mutter – ungewiss, ob und wann der Afghane mit seiner Frau im Zelt echte Hilfe bekommen kann mitten im Chaos des Flüchtlingslagers.
    Am Rande des sogenannten "Oliven-Camps" - eine wilde Zeltstadt mit wenigen Toiletten
    Am Rande des sogenannten "Oliven-Camps" - eine wilde Zeltstadt mit wenigen Toiletten (ARD / Michael Lehmann)
    Unten am Haupteingang können andere Frauen lächeln. Ihre Männer packen schwere Säcke in ein Dutzend Busse.
    "Die Entlastung hat begonnen" heißt die Schlagzeile in der Lokalzeitung dazu. Etwa 400 Bewohner von Moria sind in dieser Woche aufs Festland gebracht worden. Wie viele davon in andere griechische Lager umziehen und wer zu seiner Familie zum Beispiel nach Deutschland weiter reisen darf – das ist noch nicht klar.
    Hilferufe des Insel-Bürgers werden nicht gehört
    Sypros Galinos, der Bürgermeister der Inselhauptstadt Mytilini, sagt, es sei jetzt wichtig, dass möglichst ein paar tausend Flüchtlinge aufs Festland verlegt werden:
    "Ich glaube und hoffe, dass das jetzt bald verstanden wird. Wir alle kennen die Flüchtlingsbilder, die um die Welt gegangen sind. Für uns auf der Insel ist das auch eine furchtbare Verleumdung. Unsere Bewohner haben beim dramatischen Beginn dieser Flüchtlingskrise Enormes geleistet. Viele Belastungen ertragen und geholfen. Es kann nicht sein, dass sich die Welt für immer darauf verlässt, dass wir Menschen auf Lesbos das alleine schaffen."
    Sypros Galinos, der Bürgermeister der Inselhauptstadt Mytilini, fordert von der griechischen Regierung schon seit langem, dass Lesbos entlastet wird
    Sypros Galinos, der Bürgermeister der Inselhauptstadt Mytilini, fordert von der griechischen Regierung schon seit langem, dass Lesbos entlastet wird (ARD / Michael Lehmann)
    Galinos, der Bürgermeister, fordert von der griechischen Regierung schon seit langem, dass Lesbos entlastet wird. Regierungschef Tsipras hat im Sommer bei seinem Besuch auf Lesbos genau dies versprochen. Sein Migrationsminister Vitsas wiederholte es vor wenigen Wochen auf einer Pressekonferenz in Athen.
    Doch statt weniger wurden es immer mehr Flüchtlinge – an manchen Tagen kommen weiterhin mehr als 200 neue Flüchtlinge mit Booten von der Türkei:
    "Mein Aufruf heißt – bitte – entlasten sie die Insel, denn das Wetter kann bald umschlagen, der Winter steht vor der Tür. Und die Lage ist jetzt schon dramatisch gefährlich. Wir können uns nicht erlauben, dass noch mal Menschen im Winter sterben müssen. Der Hotspot Moria muss vorher entlastet werden."
    Journalisten wird Zutritt zum Lager verweigert
    Bis dahin müssen die vielen tausend Flüchtlinge in Moria und auch die, die weiterhin täglich dazukommen, irgendwie durchhalten. Journalisten, die sich im Innern des Lagers umschauen wollen, werden weiterhin vor allem vertröstet und abgewiesen.
    Diese Woche reagierte ein Sicherheitsmann in Zivil äußerst gereizt auf die Nachfrage eines Reporters am Seiteneingang des Lagers. Der Sicherheitsmann führte den Journalisten für ein paar Minuten auf die Polizeistation des Lagers und lies ihn ausführlich befragen zu den Gründen seines Besuchs. Salam Aldeen von der Hilfsorganisation Team Humanity aus Dänemark sieht dahinter eine Taktik.
    Er ist harte Konfrontation mit den staatlichen Lager-Verwaltern in Moria gewöhnt. Er glaubt, dass die Ansage für Sicherheitskräfte und Mitarbeiter in Moria heißt: Wir lassen uns beim Organisieren des Camps nicht auf die Finger schauen.
    Von Suiziden und Kämpfen ums Essen soll niemand erfahren
    Zum Beispiel soll niemand erfahren, dass auch schon mit Messern um Essen gekämpft wurde oder dass sich einzelne Migranten versucht haben umzubringen, indem sie auf die Masten mit den Stromverteilern geklettert sind:
    Salam Aldeen: "Warum müssen die Flüchtlinge leiden? Sie müssen leiden, weil Griechenland oder die EU – irgendjemand will, dass sie leiden. So soll den noch wartenden in der Türkei gezeigt werden – kommt nicht, sonst leidet ihr auch.
    Und warum werden wir humanitären Mitarbeiter kriminalisiert ? Man will uns loswerden – und das verstehe ich nicht. Wenn es die humanitären Helfer nicht gäbe, würde diese Insel endgültig im Chaos versinken."