Frank Kaspar: Charlotte Wiedemann, Mali ist durch eine lange Geschichte von Migration und Mobilität mit seinen Nachbarländern und auch mit Europa verbunden. Bevor wir darüber sprechen, geben Sie uns bitte eine erste Idee davon, wie das moderne Mali aussieht. Vielleicht können wir dafür ein Bild aufgreifen, das Sie an den Anfang Ihres Buchs gestellt haben!
Dort schreiben Sie: Wenn ich nur einen einzigen Gegenstand zur Verfügung hätte, um Mali und das Anliegen dieses Buches zu erklären, dann wäre das ein blauer Eisenstuhl. Besser gesagt, die blauen Eisenstühle, denn sie kommen nur in der Mehrzahl vor. Sie stehen auf der Straße, in einem Hof oder im Schatten eines Mangobaums, ihre Bauart ist schlicht und robust, der Sitz klein und hart, die Lehne gerade. Frau Wiedemann, was hat es mit diesen Stühlen auf sich?
Charlotte Wiedemann: Ich habe selbst oft auf diesen blauen Eisenstühlen gesessen und sie sind für mich eigentlich ein Symbol für eine bescheidene Moderne in Mali, auch für Teilhabe. Das sind die Stühle, auf denen sich sozusagen die Malier sitzend versammeln, auf denen sie debattieren und Entscheidungen treffen.
Man kann noch zwei andere Möbelstücke mit in den Blick rücken, und zwar, einmal ist das der braune Plastiksessel, auf dem die leider meist korrupten Politiker sitzen und der sozusagen der natürliche Feind dieses schlichten blauen Eisenstuhls ist, und diejenigen, die auf den blauen Eisenstühlen sitzen, sprechen meistens auch mit großem Zorn von denen, die sich eben in den braunen Plastiksesseln breitmachen.
Und das dritte wäre dann noch ein mehr traditionelles Möbelstück, ein meistens etwas schiefer, niedriger Bambussessel, ich nenne ihn das Modell Dorfchef, auf dem dann in der Tat der Dorfchef sitzt, halb sitzt, halb liegt und auf diese Weise sein Amt versieht. Ja, also, so kann man, an diesen drei Möbelstücken kann man vielleicht ein bisschen die Struktur der Gesellschaft ganz kurz sich vorstellen.
Ein Stuhl ist in Mali wertvoll
Kaspar: Die Kräfteverhältnisse, die Machtinsignien aus verschiedenen Zeiten eigentlich, die jetzt in Mali aufeinandertreffen. Sie schreiben, diese blauen Metallstühle, es sind Leihstühle. Das heißt, ganz schlicht und ergreifend, Mali ist ein armes Land, da ist Stühleverleiher ein Beruf. Insofern sind die Stühle auch ein Symbol möglicherweise für die große Armut im heutigen Mali.
Wiedemann: Na ja, sie sind vielleicht … Also, an der Tatsache, dass da hinten eine Nummer auch draufsteht - ein Stuhl ist wertvoll, er hat eine Nummer, obwohl er nur ein schlichter Eisenstuhl ist -, kann man auch sehen, dass natürlich die ganze alltägliche Lebenssituation sehr prekär ist. Also, man muss ja schon etwas Bargeld in der Hand haben, um überhaupt 20 Eisenstühle mieten zu können, auch vielleicht für eine Hochzeit, für ein privates Familienfest. Also, da geht es eigentlich schon los, wie kommt man überhaupt in einem derart armen Land an Bargeld? Das liegt ja nicht auf der Hand, in der Regel ist es so, dass man das, was man am Tag verdient - zum Beispiel auf dem Markt -, dass man das dann wieder ausgibt, um davon das zu kaufen, was man abends isst. Also, man lebt tatsächlich ja von der Hand in den Mund.
Charlotte Wiedemann, geboren 1954, ist Autorin von Auslandsreportagen und Büchern unter anderem über „Islamische Lebenswelten“. Ihre Recherchereisen führten sie nach Pakistan, Iran, Libanon, Syrien, Tunesien, Marokko und ins sub-saharische Afrika. Charlotte Wiedemann reist seit Jahren nach Mali. Von den 16 Millionen Einwohnern Malis lebt etwa ein Viertel im Ausland. Frank Kaspar spricht mit Charlotte Wiedemann über afrikanische Träume und Traumata der Migration. Zuletzt erschien ihr Buch Mali oder das Ringen um Würde. Meine Reisen in einem verwundeten Land und 2014 im Pantheon Verlag erschienen.
Kaspar: Und es gibt viele Menschen aus Mali, ein Viertel der Bevölkerung, die im Ausland leben und zum Teil unter abenteuerlichen Bedingungen dann Bargeld zu ihren Familien, zu ihren Dörfern schaffen. Arbeitsmigration hat in Mali eine lange Tradition, es gilt heute noch als ehrenhaft, auch dieses Abenteuer der Migration auf sich zu nehmen. Um das zu verstehen, was es bedeutet, muss man vielleicht ein bisschen weiter ausholen. Wie verhält es sich mit dieser Vorgeschichte der Migration, die wir heute erleben, wie weit reicht die zurück und wie sieht diese Geschichte in Mali aus? Charlotte Wiedemanns Buch Mali oder das Ringen um Würde. Meine Reisen in einem verwundeten Land ist 2014 im Pantheon Verlag erschienen.
Wiedemann: Ich glaube, man muss zunächst sehen, dass die Mobilität, die wir heute so für uns beanspruchen, dass es diese Mobilität ja seit Jahrhunderten in Afrika gibt. Also, man ist ja auch zu einer Mobilität gezwungen, die Migration, wenn man es so nennen will, fängt schon da an, wo während der Trockenzeit der Bauer in die Stadt geht, die im Fall Mali - ein sehr großes Land - auch mal eben 900 Kilometer entfernt sein kann, um dort eben halt im Verkauf oder irgendwo zu arbeiten, um diese Zeit zu überbrücken. Und wie Sie sagten, ein Viertel der Leute ist außerhalb des Landes, die sind ja aber überwiegend nicht in Europa, die sind in anderen afrikanischen Ländern, manche gehen auch bis nach China. Also, Mobilität an sich ist, glaube ich, eine ganz alte Praxis und aber auch ein alter Wert in afrikanischen Gesellschaften. Und das hat direkt etwas mit der Mobilität als Produktivkraft zu tun. Denn gerade eine bestimmte Ethnie, die wir heute auch häufig unter malischen Migranten antreffen, hat im Mittelalter dafür gesorgt, dass eigentlich der Fernhandel funktionierte.
Also, sie legten weite Strecken zurück als Händler, sie öffneten dadurch Fernhandelsrouten. Und so kam überhaupt der Goldhandel in Schwung, weil sie eben die Wasserstraße des Niger verbanden mit den Karawanenstraßen durch die Wüste und so überhaupt die damalige Globalisierung möglich wurde. Man kennt Timbuktu, eine Stadt am Rande der Wüste, auch deren Aufschwung wäre gar nicht möglich gewesen eigentlich ohne diese Art von Binnenmigration, ohne die Mobilität.
Kaspar: Insofern gibt es in Mali sozusagen eine stolze Tradition von Migranten als Pionieren des Handels, des damaligen Wohlstands. Das ist alles lange her. Was haben Malier heute vor Augen, welche Vorgeschichte von Migration, die Mali und Europa verbindet, haben sie vor Augen, wenn viele von ihnen immer noch die Idee haben, dass es sich lohnt, dass es ehrenhaft ist, dass es ein wichtiger Schritt im Leben ist, sich zu bewähren als Migrant nach Europa?
Wiedemann: Ja, so lange ist das eigentlich nicht her. Man kann sich es so vorstellen: Die Zeit, wo wir in Deutschland vor allen Dingen die Migration jetzt aus der Türkei hatten, wo wir die sogenannten ehemaligen Gastarbeiter, also die 1960er- und 1970er-Jahre … Das war eigentlich die Zeit, wo sehr viele Malier nach Frankreich gingen. Auch sie waren gewollt, sie waren als Arbeitskräfte gesucht, sie gingen ganz legal mit einem ganz schönen, tollen Visum. Und manchmal gingen ganze Schulklassen oder ganze Jahrgangsklassen, selbst wenn sie nicht zur Schule gegangen waren, gingen nach Europa und lebten eigentlich der nachfolgenden Generation vor, wie man erfolgreich - die Grundlage dann für ein späteres Leben - in einem bescheidenen Wohlstand in Mali leben kann, durch die Arbeit im Ausland.
Migration ist in Mali Teil des Erwachsenwerdens
Kaspar: Jetzt ist dieser Weg für viele verschlossen.
Wiedemann: Also, ich habe ein Dorf besucht in Mali, das eigentlich noch sozusagen seine Prosperität durch genau diesen Wohlstand der vergangenen Generation erworben hat. In diesem Dorf ist fast jeder ältere Mann ein ehemaliger Migrant. Zum Zeitpunkt, wo ich da war, waren also von den 4.000 Einwohnern 200 draußen, so nannte man das. Und die zahlten also sämtliche Steuern für das Dorf, also, auch viele Familien lebten reineweg eben halt von dem, was die Migranten schickten.
Insgesamt muss man sich vorstellen, dass es so ist, dass das, was die malischen Migranten aus dem Ausland überweisen, nicht nur aus Europa, aber eben auch aus Europa, ist insgesamt wesentlich höher als das, was die offizielle Entwicklungshilfe in Mali leistet. So muss man sich die Relationen vorstellen. Es ist aber vielleicht noch wichtig, zu sehen, es geht einmal immer um das Materielle, aber es geht auch um einen immateriellen Wert, es geht darum, dass die auch noch in den jüngeren Jahrzehnten … eben es diese Kultur der Migration gibt, die so aussieht, dass es zumal für einen jungen Mann, aber zunehmend auch für einige junge Frauen ein ganz wichtiger Schritt des Erwachsenwerdens ist, dass man weggeht, dass man rausgeht, um anderswo Erfolg zu haben, und dann sozusagen mit dem kleinen Grundstock zurückkommt, mit dem man dann eine Familie gründen kann, ein Haus bauen kann. Zement ist teuer. Also, all das ist sehr stark in der malischen Kultur verankert.
Man muss dazu sehen, Mali ist ein Land mit vielen Ethnien, es ist nicht bei allen Ethnien gleichermaßen ausgeprägt, aber gerade die Gruppe, die ich vorhin erwähnte, die sogenannten Soninke, die damals eben halt im Mittelalter dafür gesorgt haben, dass der Goldhandel florierte und dass Timbuktu blühen konnte, gerade diese Leute haben eine ganz, ganz tief verwurzelte Migrationskultur auch in ihrer Folklore. Jemand, der absolut nicht gehen will, der wird eher verspottet, er ist ein Faulpelz, ein Drückeberger oder auch ein Feigling. Also, das sind alles Dinge, die mit dazu beitragen, sowohl das Materielle als auch das Immaterielle, dass auch bei allen Schreckensgeschichten von Bootsunglücken weiterhin sehr viele Leute gehen möchten.
Malier sind Wanderarbeiter
Kaspar: Sie haben schon gesagt, viele genau aus dieser Volksgruppe der Soninke sind eben unter den Bootsflüchtlingen, die an Europas Grenzen oft scheitern.
Wiedemann: Ja, ich möchte vielleicht den Ausdruck Flüchtlinge in diesem Augenblick ein klein bisschen zurechtrücken: Ich habe ein Unbehagen damit, die Malier pauschal als Flüchtlinge zu bezeichnen. Ich glaube, die allermeisten Malier sind keine Flüchtlinge in dem Augenblick, wo sie in Mali starten. Aber dadurch, dass sie gezwungenermaßen aufgrund der europäischen Grenzpolitik ihre Reise unter illegalen Bedingungen, unter illegalisierten Bedingungen antreten und fortsetzen, werden sie zum Opfer allen möglichen Unrechts.
Wir hatten ja die Fälle, wo die Leute dann über Libyen gereist sind und dann schließlich in Lampedusa strandeten und dann tatsächlich als Flüchtlinge hier ankommen. Aber sie werden eigentlich zu Flüchtlingen gemacht durch die Art und Weise des Reisens, zu der wir sie zwingen. Ich finde es auch im Fall Mali heikel, von Wirtschaftsflüchtlingen zu sprechen. Es gibt wohl auch den Begriff der erzwungenen Reise oder der erzwungenen Migration, wenn man sagt, jemand hat keine Möglichkeit mehr, seinen Lebensunterhalt in dem Land zu fristen, ohne politisch oder sonst wie individuell krass verfolgt zu sein. Ich denke aber, dass, wenn wir mehr Möglichkeiten der legalen Migration schaffen und damit auch der legalen Reise, haben wir dieses Problem besser gelöst als durch viele lange Begriffsdebatten. Wenn wir den Maliern zeitlich begrenzte Arbeitsvisa geben, dann machen die ihre Reise selber.
Die liegen uns ja jetzt nicht auf der Tasche, wie manche denken, sondern die werden dann ihre Reise wie bisher mit klapprigen Bussen und irgendwelchen klapprigen Fähren dann, aber nicht mit Plastikbooten, nach Europa bewältigen, wenn sie überhaupt hierhin wollen, und ein paar Jahre arbeiten und wieder gehen. Es gab ja eine politische Krise oder es gibt sie zum Teil noch in Mali, aber die Leute, die vor dieser Krise geflohen sind, sind ganz, ganz überwiegend in die Nachbarländer geflohen oder sind im eigenen Land in anderen Landesteilen untergekommen, die sind ganz überwiegend eben nicht in den Booten, sind nicht nach Europa gekommen. Also, ich würde eigentlich die überwiegende Zahl der Migranten aus Mali tatsächlich als Wanderarbeiter bezeichnen, das sind Leute, die hier für eine befristete Zeit legal arbeiten möchten, ein bisschen Geld verdienen möchten, die dann zurückgehen möchten.
Kaspar: Welche Bedeutung hat die Arbeitsmigration heute überhaupt für Malis eigene Interessen? Was bewirkt die Migration vieler junger Leute für die Entwicklung, für die Demokratie des Landes selbst?
Wiedemann: Ich denke, für das Land selber ist Migration ein zweischneidiges Schwert. Auf der einen Seite leben viele Dörfer von den Überweisungen der Migranten, das ist sozusagen auch eigentlich die effektivste Entwicklungshilfe, denn die kommt ohne Korruptionsabzug an der Basis an. Das Bargeld wird ja zum Teil direkt von den Leuten in Gürteltaschen aus Europa in die Dörfer gebracht.
Ich würde gerne zunächst noch einmal an die frühere Geschichte Malis erinnern, denn es gab mal eine Zeit in Mali, das erste Jahrzehnt nach der Unabhängigkeit von 1960, wo das Motto war: Vertrauen in die eigene Kraft. Also, wo Mali eigentlich versucht hat, einen selbstbestimmten Weg der Entwicklung zu gehen, eine bescheidene Industrialisierung zu schaffen, es gab sogar das Label „Made in Mali“, und eben halt auf die eigenen Kräfte zu setzen. Schon auch mithilfe von außen, aber vor allen Dingen auf die eigenen Kräfte. Das ist eigentlich bis heute weitgehend verloren gegangen. Dafür gibt es verschiedene Gründe.
Einer der Gründe ist: Die junge Generation heute in Mali - und das ist die Mehrzahl der Bevölkerung - ist daran gewöhnt, dass sozusagen sich Projekte nur realisieren lassen, wenn man entweder Entwicklungshilfe bekommt oder wenn es einen Migranten gibt, der Geld überweist. Das heißt also, es geht zunehmend verloren, dass es überhaupt ein erfolgreiches Leben oder wir würden sagen, ein gelungenes Leben gibt, wenn man im Land bleibt und dort arbeitet. Was ja nach wie vor die große Mehrheit der Bevölkerung tut. Und das finde ich eine sehr heikle Angelegenheit, denn dadurch wird letztendlich das, was es braucht, nämlich das Vertrauen in die eigene Kraft, wird dadurch letztendlich auch abgewürgt.
Ohne Erfolg im Westen ist man ein Versager
Kaspar: Was hat sich eigentlich durch das, was wir die europäische Abschreckungspolitik in Bezug auf Flüchtlinge nennen, was jetzt eben wieder verstärkt diskutiert wird, was hat sich dadurch für die Bedeutung, die Europa als Ort für Arbeitsmigranten hat, in Mali konkret verändert?
Wiedemann: Es ist vieles durcheinandergeraten. Wenn es früher so war, dass halt ein Mann, der sozusagen … ein junger Mann wegging, wenn er gerade im zartesten Erwachsenenalter war, dass man dafür sehr viel anstellen muss, sehr viel sammeln muss, Bündnisse schließen, Netzwerke machen, Leute finden, die in einen investieren, damit man gehen kann … Das Ganze kann Jahre dauern, dann ist man noch Jahre möglicherweise unterwegs. Wenn die Leute endlich in so einem klapprigen Boot sitzen oder, wenn sie Glück haben, in Lampedusa ankommen, dann waren sie ja oft schon mehrere Jahre unterwegs, haben in Libyen, Marokko, in anderen nordafrikanischen Ländern gearbeitet, um immer wieder das nächste Stück der teuren, illegalen Reise bezahlen zu können. So, und dann haben sie entweder ein bisschen Erfolg oder sie haben auch keinen. Möglicherweise kommen sie ohne Erfolg zurück und dann ist es ganz schlimm, dann sind sie schon vielleicht 30. Das ist für Mali schon relativ alt. Und kommen zurück und haben immer noch nichts.
Das Schicksal dieser als gescheitert betrachteten Rückkehrer kann sehr grausam sein. Denn es gibt wenig Verständnis im sozialen Umfeld, sie werden eher als Versager betrachtet und die ganzen Hoffnungen, die man in sie investiert hat, auch das Geld natürlich, aber auch die Hoffnungen vonseiten des ganzen Familienverbandes, alles das ist ja auch gescheitert. Und das führt letztendlich dazu, dass die Leute in der Regel nicht lange bleiben, sondern sie sitzen da mit Schmach beladen, im Falle der Männer, keiner will sie heiraten, weil, sie sind ja Versager. Und was sie tun werden, liegt auf der Hand, sie werden möglichst bald versuchen, wieder zu starten.
Man muss Selbstbestimmungsrecht von Menschen anerkennen
Kaspar: Hier in Europa wird in der Diskussion über Flucht und Migration ja oft der Ruf laut, man solle genauer unterscheiden zwischen den Menschen, die Anspruch auf Asyl haben, auf unseren Schutz haben, weil sie zum Beispiel politisch verfolgt werden, und auf der anderen Seite den sogenannten Arbeitsmigranten. Wenn ich höre, aus welchen Gründen seit langem Menschen aus Mali in die Nachbarländer oder auch nach Europa gekommen sind, um dort zu arbeiten, dann kann man in dem Fall ja eigentlich nicht von Flüchtlingen sprechen. Dennoch, sagten Sie aber, sitzen die Menschen ja oft in denselben Booten wie Flüchtlinge, die versuchen, nach Europa zu kommen.
Wiedemann: Wenn man die Fernsehbilder sieht von den Leichen im Meer oder auch von den überbesetzten Booten, dann fällt es vielleicht schwer sich vorzustellen, dass es doch letztendlich für viele eine Entscheidung ist, sich auf diese Reise zu machen. Das gilt natürlich nicht für die Syrer, die sozusagen das brennende Land hinter sich haben und einfach nur fliehen. Aber ich denke, für einen Großteil der Malier muss man feststellen, dass…am Anfang der Reise steht eine Entscheidung. Steht die Entscheidung eines Individuums, was sagt, ich will diesen Weg gehen!
Möglicherweise sind solche Entscheidungen - wie immer beim Menschen - nicht ganz frei, manche haben ihm da reingeredet, die Kultur hat was nahegelegt, das ist bei unseren Entscheidungen ja auch so. Aber ich denke, man sollte zunächst einmal anerkennen, dass diese Menschen eine Entscheidung treffen, die nach den Maßstäben ihres Lebens in Mali für sie eine richtige Entscheidung ist. Und ich denke, man muss auch dieses Selbstbestimmungsrecht von Menschen anerkennen. Diese Leute haben das gleiche Recht auf Reisen wie wir. Es kann nicht sein, dass man nur mit bestimmten Pässen, einer bestimmten Hautfarbe und mit den anerkannten Kreditkarten heutzutage mehr in der Welt reisen darf.
Kaspar: Was, glaube ich, oft nicht gesehen wird in der Situation, in der nun viele Menschen versuchen, nach Europa zu kommen, und durch die Abschottungspolitik der letzten Jahre immer häufiger für uns sichtbar werden, weil sie scheitern, weil es eine Krise an den Grenzen gibt, was dabei in den aktuellen Berichten oft unter den Tisch fällt, ist die Frage, wie weit Europa selbst diese Krise vorangetrieben hat durch die Politik der letzten Jahre. Sie hatten schon in Ihrem Text über die Mythen der Migration angedeutet, eigentlich ist auch diese Festung Europa mittlerweile ein Mythos. Denn es geht gar nicht so sehr um die Zäune und um die anderen Barrieren, sondern es gibt ja seit Jahren auch eine Art Migrationsmanagement im Vorfeld. Was heißt das für Mali?
Europa hat Mitschuld an Misswirtschaft in Mali
Wiedemann: Letztendlich zielt die europäische Politik, auch die Sicherheitspolitik darauf, dass man halt überwiegend die Menschen daran hindert zu kommen. Man muss sich auch vorstellen, dass, wenn man in Mali als Malier zu einem europäischen Konsulat geht und ein Visum beantragt, dann muss man zum Beispiel eine Kreditkarte haben oder andere Güter vorweisen. Das ist natürlich irgendwie zynisch. Und man kann vielleicht den Bogen mal so schlagen, und das ist nur ein kleines bisschen vergröbert, ein kleines bisschen vergröbert, das mag mir nachgesehen werden:
Europa arbeitet nach wie vor mit den korrupten Eliten Afrikas zusammen, das gilt auch für Mali, das sind diese berühmten Leute eben in diesen braunen Plastiksesseln. Das sind die Leute, die haben natürlich alle Kreditkarten. Man sollte aufhören, mit diesen Leuten zu kooperieren, und stattdessen für die Leute, die in der Regel arm, aber ehrlich sind, ein paar legale Möglichkeiten schaffen, etwas Geld zu verdienen. Ich glaube, man übersieht, dass man ja auch durch die Zusammenarbeit mit diesen Eliten einerseits immer erneute Gründe schafft, dass die Misswirtschaft auch in einem Land wie Mali anhält und dass die Leute auch weiter auf die Migration gehen müssen, und dass aber auch soziale Verelendung dazu führt, dass sich eben auch radikale Tendenzen im Islam eher breitmachen können. Und stattdessen macht man aber von Europa aus es so, dass man sagt, wir kooperieren mit den nationalen Sicherheitsbehörden in Mali, um sozusagen zugleich die Migration – in Klammern: Sie ist ja illegal - zu bekämpfen wie auch den Terrorismus. Also, man macht es eigentlich genau falsch herum.
Kaspar: Aus der Region, in der heute noch Gold abgebaut wird in Mali, kommen viele der Ärmsten, die sich auf den Weg der Migration machen. Wie kommt das?
Wiedemann: Ja, Mali ist ein Vielvölkerstaat und die Kulturen der Mobilität sind unterschiedlich. Und in diesem westlichen Teil Malis leben eben unter anderem jene Soninke, die ich schon erwähnte, die eben schon im Mittelalter diese Fernhändler waren. Zugleich ist diese Region - man kann sie die Region Kaï nennen, nach der sozusagen Provinzhauptstadt - die Region, in der sehr viele Goldminen sind, nämlich es sind dort sieben Goldminen von den 13 Minen, die Mali insgesamt besitzt. Alle diese sieben Minen werden von ausländischen Firmen ausgebeutet. Wir haben also in dieser Region das klassische Zusammenfallen von Rohstoffreichtum und sozialer Armut. Ein Großteil der Dörfer in dieser Region überlebt eigentlich nur durch die Überweisungen oder durch das gebrachte Bargeld der Migranten, zugleich wird in großem Maße Gold abgebaut, aber davon haben die Aktionäre ausländischer Bergbauunternehmen mehr als die malische Nation, oder auch vom einzelnen Malier zu schweigen. Also, wir haben hier das ganz klassische Zusammenkommen von Rohstoffreichtum und sozialer Armut, die eigentlich nur abgefedert wird durch die positiven Wirkungen, in diesem Fall von Migration.
Kaspar: Frau Wiedemann, Sie sind selbst ja viel in Mali gewesen. Haben Sie vielleicht im Zusammenhang mit den blauen Stühlen auch Entwicklungen beobachtet, die Ihnen Hoffnung machen?
Wiedemann: Ja, selbstverständlich, ich bin nicht so … bin gar nicht so pessimistisch. Es gibt das Motto: das Recht zu gehen und das Recht zu bleiben. Ich finde, das ist ein sehr gutes Motto. Und wenn man sich vorstellt, man hat jetzt eine Runde von demokratischen Aktivisten, die gerade in Mali auf den blauen Eisenstühlen zusammensitzen und darüber diskutieren, dann, denke ich, wäre man sich schnell einig, dass es beides geben muss: Es muss das legale Recht zu gehen geben, ohne dabei zu Tode zu kommen, um Geld zu verdienen, und es muss das Recht zu bleiben geben, also das Recht, im eigenen Land ein zumindest menschenwürdiges, wenn auch nicht luxuriöses Leben führen zu können.
Und es gibt eine ganze Reihe von Kräften, die sozusagen in Mali dazu beitragen, dass Letzteres geschieht. Es gibt Leute, die sich dagegen wehren, dass Großinvestoren Kleinbauern verjagen, das berühmte Stichwort Land Grabbing, es gibt Leute, die Kooperativen gründen, es gibt eine recht aktive Zivilgesellschaft, es gibt jetzt erstmals zum Glück auch ein größeres Solarenergieprojekt in Mali. Also, es gibt eine ganze Menge Ansätze. Und ich denke, oft wäre es schon sehr nützlich, wenn wir in Europa, im Norden, wenn wir statt uns zu fragen, was können wir tun, um das zu unterstützen, einfach erst mal fragen, was sollten wir sein lassen? Also, wenn wir es sein lassen, afrikanische Märkte durch unsere Lebensmittelabfälle - Stichwort Hähnchenschenkel - zu zerstören, wenn wir es auch sein lassen, dass wir afrikanischen Ländern Freihandelsabkommen aufzwingen, die wir selber im Fall von TTIP, wo wir selber die Auswirkungen als Europäer bekämpfen … Also, wenn wir mit dieser Art von Heuchelei aufhören würden und tatsächlich faire Handelsbeziehungen ermöglichen würden, dann hätten wir schon vieles getan, um dem Recht zu bleiben näherzukommen.
Mali nimmt selbst tausende Flüchtlinge auf
Kaspar: Charlotte Wiedemann, Ihr Buch heißt "Mali oder das Ringen um Würde. "Sieben Jahre persönlicher Begegnungen und Beobachtungen sind in das Buch eingegangen. Es ist ein Land, das wir aus den Nachrichten vor allem als ein Land kennen, das mit Armut zu kämpfen hat, jetzt auch wieder mit Gewalt zu kämpfen hat. Warum ist Ihnen die Würde so wichtig, dass Sie sie im Titel herausstellen.
Wiedemann: Das Stichwort Würde ist mir deshalb wichtig, weil ich gerade bei einem so armen Land wie Mali einen großen Unterschied sehe zwischen Armut und Elend. Nach unserer Vorstellung sind eigentlich gerade die Länder der Sahelzone immer mit Elendsbildern verbunden, Mali passt für mich da aber nicht rein. Vielleicht passen auch andere Länder nicht rein, aber die kenne ich nicht so gut. Mich hat in Mali immer der gesellschaftliche Zusammenhalt beeindruckt, und der gesellschaftliche Zusammenhalt führt auch in Notzeiten dazu, dass es eigentlich sehr wenig tatsächliches Elend gibt. Während wir hier einen großen Aufstand darum machen, wie wir diesen und jenen Flüchtling unterbringen können, hat man im armen Mali ungefähr 150.000 Flüchtlinge in der letzten Krise mal eben im Land selber untergebracht. Ich habe selber Familien dabei besucht, wie sie das machen, und es waren oft Familien, wo schon vorher man eigentlich nicht wusste, wovon die 20 Leute leben. Dann kamen halt noch mal 20, dann waren es 40. Darum war für mich immer das Symbol der Krise in Mali, war nicht die Kalaschnikow, sondern eigentlich eine Schüssel Reis, in die immer mehr Hände greifen.
Man bewältigt aber diese Krisen. Das führt dazu, dass eben, auch wenn viele Leute ihr Heim und ihr Haus verloren haben, man in der Hauptstadt kaum Obdachlose gesehen hat. Also, die Malier sind eigentlich in der Lage, durch ihren gesellschaftlichen Zusammenhalt und auch durch die Werte, die sie haben, Krisen zu bewältigen, die wir anscheinend nicht bewältigen können, denn sonst würden wir nicht von einer Flüchtlingskrise sprechen.
Kaspar: Was sollte Europa tun, um Mali zu unterstützen? Müssen wir mehr Entwicklungshilfe leisten?
Wiedemann: Also, zu den zahlreichen Mythen, die es zum Thema Migration gibt, zählt ja auch folgender, nämlich dass man Entwicklungshilfe aufstocken sollte wie im Falle Mali, um dadurch Migration zu verhindern. Diese These ist aber wissenschaftlich nicht haltbar. Denn tatsächlich ist es so, dass, wenn sich ein kleiner Wohlstand einfindet, dass gerade dann die Migration zunimmt. Liegt auch auf der Hand: Wer gar nichts hat, der bleibt einfach da hocken und betet und hofft das Beste. Dagegen, wer ein bisschen Geld hat, der kann auch eine Reise planen. Migrationsforscher sprechen vom sogenannten Migrationsbuckel, also, ein Wohlstand muss erreicht sein tatsächlich in beträchtlichem Maße, damit nicht mehr migriert wird. Und der liegt wohl nach Ansicht dieser Forscher bei einem Pro-Kopf-Jahreseinkommen von 4.000 Dollar. Davon ist man im ganzen Subsahara-Afrika weit entfernt und in Mali ganz besonders.
Kaspar: Mali sucht eigentlich - wie Europa, schreiben Sie - nach dem Weg in eine solidarische Moderne, und zwar nach einem eigenen Weg.
Wiedemann: Es gibt in Mali eine ganz starke Kultur des Dialogs, eine ganz starke Tradition der Konsensfindung. Als es noch Tourismus gab in Mali, haben sich die Touristen gerne solche niedrigen Steinhäuser angeschaut einer bestimmten Ethnie, der Dogon, wo man drin sitzt und tagelang berät, und es kann niemand aufspringen vor Wut und davonlaufen, weil eben das Dach so niedrig ist, dass es einen dazu zwingt, still sitzen zu bleiben, dem anderen zuzuhören und so lange zu debattieren, bis man eine Entscheidung gefunden hat.
Kaspar: Frau Wiedemann, in Ihrem Buch geben Sie auch einige Beispiele dafür, wie sich die Leute in den Dörfern organisieren und gemeinsam für ihre politischen Interessen einsetzen. Ist diese direkte Demokratie der Bürgerversammlung etwas, was wir vielleicht von Mali lernen könnten?
Wiedemann: Natürlich. Ich meine, in Mali selber muss Bürger zu sein erkämpft werden auch gegenüber der einheimischen Elite, also gegen die berühmten Leute in den Plastiksesseln. Man erkämpft sozusagen das Recht, Bürger zu sein auf den blauen Eisenstühlen, man muss es sich nehmen. Aber letztendlich ist unter den Maliern selber, also unter der Masse der Malier, ist Bürger zu sein keine Frage des Einkommens. Man sieht einander ja als Bürger, man bezeichnet sich auch so, die gebildeteren Leute nutzen dafür das französische Wort citoyen. Und ich denke, es sind auch Bürger, die sich auf den Weg machen zu uns. Wir zwingen sie nur, auf eine Weise zu reisen, wo sie sozusagen nicht mehr als ansehnliche Bürger bei uns ankommen, sondern wo sie als abgerissene sogenannte Flüchtlinge hier ankommen.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Am kommenden Sonntag setzen wir die Reihe "flucht ff" fort mit einem Gespräch, das Hermann Theissen mit Rupert Neudeck führt. Rupert Neudecks lebenslanges Engagement für Flüchtlinge geht in die 1970er-Jahre zurück. In "Essay & Diskurs" spricht er über Initiative und Verantwortung in der weltweiten Flüchtlingshilfe heute.