Archiv

Flüchtlinge
Die neue Fluchtroute geht über Spanien

Immer mehr afrikanische Migranten und Flüchtlinge kommen von Marokko über das Mittelmeer nach Südspanien - und damit in die Europäische Union. Die Städte an der spanischen Küste sind überfordert. Auch wenn die Zahl der Flüchtlinge und Migranten, die Europa erreichen, sinkt.

Von Burkhard Birke |
    Flüchtlinge im Hafen von Tarifa. Das Boot ist die "Arturos". Im August 2018
    Flüchtlinge auf dem Boot Arturos im Hafen von Tarifa, Spanien (Deutschlandradio / Burkhard Birke)
    Das Bild ist irgendwie surreal: Vorne im Hafen von Tarifa hat eine große Fähre angelegt: Autos und Passagiere verschwinden im großen Bauch des Schiffes. Es wird sie gleich mühelos dorthin bringen, von wo jene Menschen kommen, die ihr Leben riskiert haben, um europäischen Boden zu betreten und die jetzt ganz hinten an der Hafenmole herumlungern oder meist erschöpft in rote Decken gehüllt auf dem Boden liegen, bewacht von der Guardia Civil.
    Es sei hart gewesen. Zwei Männer eine Frau in einem kleinen Schlauchboot, erzählt der 27 jährige Salim aus Mali – dreieinhalb Stunden seien sie mit Holzbrettern gerudert, bis die Seerettung sie gefunden hat.
    Das war vor 24 Stunden. Drei Tage und Nächte hat die Besatzung des Rettungsschiffs Arturos durchgearbeitet, um Flüchtige wie Salim aus dem Meer zu fischen. Jetzt liegt die Arturos an der Mole, aber es gibt kein Personal, um die Neuankömmlinge zu versorgen. "Auf dem Schiff befinden sich mehr als 150 Personen. Dafür ist das Boot überhaupt nicht ausgelegt, aber wir bringen sie so gut unter wie es geht."
    Nur 14 Kilometer trennen Afrika und Europa
    Eugenio gehört zur Mannschaft. Das Schlafdefizit sieht man ihm nicht an: Schließlich galt und gilt es, Menschen vorm Ertrinken zu retten. Eugenio zeigt auf einen Haufen Schlauchboote:
    "Das hier sind die großen. Die kommen aber auch in kleinen Schlauchbooten wie die, mit denen die Kinder am Strand spielen. Da sind dann manchmal 10, 12 Leute drin, darunter schwangere Frauen und Kinder, und rudern."
    Nur 14 Kilometer trennen hier an der Meerenge von Gibraltar Afrika und Europa. Die Wellen sind niedrig, das Wetter ist gut – das erleichtert die Überfahrt.
    Traditionell versuchen im Sommer immer mehr Menschen ihr Glück, aber in diesem Jahr scheint die Zahl inflationär. Es gibt nicht genügend Landepunkte, nicht genügend Aufnahmestätten, nicht genügend Personal.
    Neben den Beamten einer sichtlich überforderten Guardia Civil wartet Ana vom Roten Kreuz auf ihre Kollegen und geht den Uniformierten bei der Essenverteilung zur Hand. Es gibt eine Art Lunchpaket, aber nur für die bereits an Land befindlichen. Männer und Frauen bilden eine Reihe, während die Blicke der hungrigen und durstigen Flüchtlinge auf der Arturos die Aktion verfolgen.
    Spanien hat Italien und Griechenland überholt
    "Wir geben ihnen Essen, neue Kleidung, Kranke wie eben zum Beispiel eine an Unterkühlung leidende Frau werden medizinisch versorgt. Babys und Schwangere dürfen zuerst von Bord gehen. Dann werden die Menschen registriert, bekommen ein Armband. Dann werden sie normalerweise abtransportiert, damit die nationale Polizei die Fingerabdrücke nimmt."
    Die Sporthalle ist aber auch schon voll – wir platzen aus allen Nähten. Sagt Ana vom Roten Kreuz. Binnen zehn Tagen sind mehrere Tausend Flüchtlinge in Tarifa, Cadiz, Barbate und Algeciras gestrandet.
    "Es una situacion alarmante."
    Von einer alarmierenden, kontrollierten Situation, die jedoch aus den Fugen geraten könnte spricht der Bürgermeister der Hafenstadt.
    Algeciras – so José Ignacio Landaluce, der auch Senator der Volkspartei ist - könnte das neue Lampedusa werden.
    Insgesamt sind laut UNHCR 28.000 Personen seit Jahresbeginn über Spanien in die EU gekommen, 24.000 davon auf dem Seeweg über die Meerenge von Gibraltar. Damit hat Spanien Italien und Griechenland überholt. Der Anstieg sei, so die für Migration zuständige Staatssekretärin Estrella Rodriguez mit einem Seitenhieb auf die konservative Vorgänger-Regierung, absehbar gewesen.
    "Man hätte Vorsorge treffen können. Der Wechsel der Routen war zwar nicht unbedingt vorhersehbar, allerdings hat sich schon vergangenes Jahr die Zahl der Zuwanderer verdoppelt."
    Neue Aufnahmelager werden geschaffen
    Tagelang mussten Flüchtlinge mangels Aufnahmekapazitäten auf der Maria Zambrano im Hafen von Algeciras übernachten, womit das Schiff für weitere Rettungsaktionen blockiert war.
    "Wir brauchen dringend übergangsweise Aufnahmekapazitäten, um die Flüchtlinge menschenwürdig unterzubringen, fordert Maria Segurado von Caritas vor einigen Wochen haben sie Flüchtlinge im Gefängnis untergebracht. Das ist inakzeptabel."
    Jetzt sollen Kapazitäten geschaffen und die Aktivitäten an einigen wenigen Orten gebündelt werden. Heute soll in Algeciras ein vorübergehendes Erstaufnahmelager für die Registrierung von 350 Personen öffnen.
    "Wir öffnen schnell neue Kapazitäten wie in Chiclana für 500 Leute, eventuell mehr. Das ist für die Unterbringung nach den ersten 72 Stunden, die die Polizei per Gesetz für die Personenerfassung hat. Von da können wir die Menschen dann weiter an Unterkünfte der Hilfsorganisationen vermitteln", sagt Staatssekretärin Estrella Rodriguez. Sie ist Teil eines Krisenstabes, der das Problem lösen soll.
    "Flüchtlingsströme nach Europa stark zurückgegangen"
    Denn abgesehen von der mangelnden Vorkehrung ist das Kompetenzwirrwarr in Spanien ein Problem: Die Guardia Civil ist für Grenzschutz und zusammen mit Salvamento Maritimo für die Seerettung, die nationale Polizei und damit das Innenministerium für die Registrierung, die Kommunen und das Arbeits- und Migrationsministerium sind für die Unterbringung und Versorgung der Menschen zuständig – eine Aufgabe, die weitgehend an Hilfsorganisationen delegiert wird.
    Auch die sind der Meinung: Man hätte früher reagieren können und müssen. Durch den Regierungswechsel und die mit viel Medienhype inszenierte Aufnahme der Flüchtlinge der Aqarius durch Spaniens sozialistischen Ministerpräsidenten Pedro Sánchez hat die Situation an der andalusische Küste die politische Debatte zusätzlich angeheizt.
    Ein Land wie Spanien können den Zustrom einer Million Migranten nicht ohne Wohlstandsverlust bewältigen, sagte denn der frisch gekürte Chef der konservativen Volkspartei, Pablo Casado. Laut Experten würden nämlich so viele in Libyen auf die Überfahrt warten.
    Wird da Öl ins Feuer gegossen? Spanien sucht eine europäische Lösung des Problems. Angeblich hat auch Marokko trotz Kooperationsabkommens weniger aktiv den Zustrom gestoppt, da es von der EU 35 Millionen Euro Hilfe will.
    Bei allem Flüchtlingselend sollte man aber auch die realen Zahlen im Blick behalten, meint Maria Jesus Vega von UNHCR Spanien:
    "Global sind die Flüchtlingsströme nach Europa stark zurückgegangen. Hört man die Reden einiger europäischer Politiker und die Medienberichte, bekommt man jedoch den Eindruck da fände eine Invasion statt. Nichts ist weiter von der Wahrheit entfernt. Denn die Zahlen sind viel geringer."
    Mit knapp 60.000 kamen bisher dieses Jahr nur etwa halb so viele Flüchtlinge übers Mittelmeer nach Europa wie im gleichen Vorjahreszeitraum.