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Flüchtlinge
"Eine Grenze ist keine Lösung"

Die Menschen, die jetzt nach Deutschland kämen, könnten sich nicht aussuchen, wo sie leben wollten, sagte die Schriftstellerin Jenny Erpenbeck im DLF. "Die Flüchtlinge werden kommen. Wir müssen das zur Kenntnis nehmen." Es müsse schnell über gute Lösung nachgedacht werden, statt so zu tun, "als ob eine Grenze eine Lösung sein könnte".

Jenny Erpenbeck im Gespräch mit Burkhard Müller-Ullrich |
    Die Schriftstellerin Jenny Erpenbeck liest in einer Buchhandlung in Koblenz.
    Die Schriftstellerin Jenny Erpenbeck liest in einer Buchhandlung in Koblenz. (picture alliance / dpa /Thomas Frey)
    Burkhard Müller-Ullrich: Die Willkommenskultur beschäftigt uns jetzt auch in einem Interview mit der in Berlin lebenden Schriftstellerin Jenny Erpenbeck, deren Roman "Gehen, ging, gegangen“ für den Deutschen Buchpreis nominiert wurde und von einem perfekten Vertreter des, wie man jetzt sagt, hellen Deutschlands handelt. Ein emeritierter Professor mit DDR-Vergangenheit, der sich für die Flüchtlinge in seiner Nähe interessiert und auf sie zugeht und ihnen hilft. Aber gibt es überhaupt "die Flüchtlinge", habe ich Jenny Erpenbeck gefragt? Muss man nicht nach Herkunft und Motivationslage ein bisschen unterscheiden, oder ist das schon Rassismus?
    Jenny Erpenbeck: Da bin ich natürlich als Schriftstellerin nicht die ganz richtige Partnerin für die Frage. Aber wenn ich als Mensch antworten soll, würde ich sagen, es sollte überhaupt zur Debatte stehen, wer das Recht hat, darüber zu bestimmen, wie Menschen sich über die Erde bewegen. Insofern wäre ich wahrscheinlich eher der Ansicht, dass Grenzen, seien es Zäune oder seien es auch Gesetze, eigentlich eine Vorrichtung sind, die der Existenz von Menschen auf der Erde nicht angemessen sind.
    Müller-Ullrich: In einer besseren Welt als dieser kann man das postulieren, aber wir reden natürlich hier auch als konkrete Staatsbürger, die konfrontiert sind mit einer ganz konkreten Situation. Und Ihr Held, der emeritierte Professor Richard, der stellt sich ja diese Fragen auch.
    Erpenbeck: Ich sehe es einfach so: Es gibt natürlich verschiedene Gründe, aus denen sich Menschen in Bewegung setzen. Manche sind in einen Krieg reingeraten, in Auseinandersetzungen reingeraten, in religiöse Auseinandersetzungen, mit denen sie vielleicht wirklich nicht das Geringste zu tun hatten. Andere setzen sich auch in Bewegung, weil sie schlichtweg nicht überleben können in anderen Gebieten der Erde, weil sie wirklich so arm sind, dass sie nicht wissen, wie sie ihre Familie durchbringen sollen. Ich persönlich finde, es ist vollkommen klar, dass diese Menschen sich in Bewegung setzen und anderswo versuchen, einfach ihr Leben zu retten. Das würden wir in der gleichen Lage ganz genauso machen und es ist vielleicht auch tatsächlich an der Zeit, sich mal daran zu erinnern, dass es tatsächlich um Existenz geht. Es geht nicht um Wohlstand, es geht auch überhaupt nicht um den Versuch, uns hier zu berauben, uns was wegzunehmen, sondern es geht schlichtweg darum, dass diese Menschen ihre Existenz retten wollen.
    Müller-Ullrich: Jetzt gibt es ja auch viele, die vom Balkan kommen und wo es heißt, das sind eigentlich sichere Herkunftsländer. Das heißt, die sind nicht an Leib und Leben gefährdet. Sind das für Sie dann auch Flüchtlinge, die wir aufnehmen müssen?
    Erpenbeck: Ich finde diese Unterscheidung tatsächlich ganz problematisch. Die sogenannten Zigeuner sind ja immer in Verruf gewesen. Wenn man aber sieht, wie die dort in Bulgarien, in Rumänien existieren, wie arm die sind und was für eine lange Geschichte von Rassismus die hinter sich haben, dann versteht man auch, dass überhaupt einen Anfang zu machen mich einem anderen Leben für die praktisch unmöglich ist. Es werden hier tatsächlich auch Familien mit Kindern im Winter zurückgeschickt, wo man weiß, die gehen in die Obdachlosigkeit, die gehen in Unterkünfte, die nicht geheizt werden können, und ich finde das genauso unmenschlich, muss ich ganz ehrlich sagen. Ich denke, in allen Menschen gibt es Möglichkeiten und es gibt ein Potenzial. Es gibt die Möglichkeit, auch diese Menschen einzubeziehen, sodass die hier zu unserem Sozialsystem auch noch was beitragen können und es nicht immer nur heißt, sie kosten irgendwas. Es gibt die Möglichkeit, Ausbildung zur Verfügung zu stellen, Sprachunterricht zur Verfügung zu stellen, und meiner Meinung nach wäre das eine Frage von drei, vier, fünf Jahren, bis man eine Generation von Menschen hat, die anderswo herkommen und trotzdem hier zuhause sein können.
    Müller-Ullrich: Es gibt ja auch bei uns viele, die auf Sozialleistungen angewiesen sind. Was kann man tun, dass von diesem Winter an nicht so eine massive Konkurrenz zwischen den Flüchtlingen und den Menschen, die bei uns auf Sozialwohnungen angewiesen sind, entsteht?
    Erpenbeck: Die Frage ist, denke ich, ob es nicht tatsächlich noch Wohnungen gibt, die man zur Verfügung stellen kann. Ich habe damals diese Geschichten gehört von Wohngebieten im Osten Deutschlands, die ummauert wurden, leergezogen und ummauert wurden und praktisch als leere Neubauten irgendwo stehen. Es gibt natürlich schon seit Langem die Beobachtung, dass die Leute aus den Dörfern weggehen. Es gibt dort sehr viele leerstehende Häuser. Wenn man versuchen würde, mit dem eventuell aufkeimenden Rassismus umzugehen oder Begegnungsmöglichkeiten zu schaffen, sodass vielleicht auch durch die individuelle Begegnung auch die Aversionen oder Vorurteile abgebaut werden, denke ich, wäre es absolut möglich, auch die Leute menschlich unterzubringen.
    Müller-Ullrich: Unterbringen ist das eine. Dann kommt natürlich das Versorgen, dann kommt die Beschulung, dann kommen die ganzen Sozialleistungen. Es ist ja wohl so, dass selbst jemand, der bei uns nicht arbeitet, immer noch sehr viel besser finanziell dasteht als in seinen Herkunftsgebieten. Das ist natürlich ein wahnsinniger Anreiz, der dazu führt, dass immer mehr kommen.
    Erpenbeck: Es gibt aber auch Möglichkeiten, Leuten das Arbeitsrecht einzuräumen, das Recht, sich um Arbeit oder Ausbildung zu bemühen, ohne gleich das ganze Paket an Sozialleistungen auch in Anspruch zu nehmen, und nach meinen Erfahrungen zumindest mit den Flüchtlingen, die ich kennengelernt habe, ist es so, dass es dort zum Ehrencodex gehört, dass ein Mann seine Familie ernährt. Ich habe wirklich oft gehört, dass es nicht im geringsten darum geht, irgendwelche Gelder geschenkt zu bekommen, sondern wirklich darum geht, dass den Menschen ermöglicht wird, sich selbst zu ernähren.
    Müller-Ullrich: Sie fordern ja - in einem Interview, habe ich es gelesen - Freizügigkeit in Europa für die Flüchtlinge. Die meisten wollen nach Deutschland. Wie viele, glauben Sie, können wir aufnehmen? Es war von 800.000 dieses Jahr die Rede, wahrscheinlich wird es noch mehr, und es sieht ja nicht so aus, als ob das aufhörte. Haben Sie eine innere Zahl, wo Sie sagen würden, das verkraftet Deutschland oder nicht mehr?
    Erpenbeck: Ich kann solche Sachen nicht in Zahlen messen. Es ist nur so, dass ich denke, die Flüchtlinge werden kommen. Wir müssen das zur Kenntnis nehmen. Es ist einfach so. Wir können noch ein bisschen versuchen, Zäune zu bauen und noch ein paar Boote kentern lassen, aber die Flüchtlinge werden trotzdem kommen. Und wenn man damit umgeht, dass sie kommen und dass das einfach ein Fakt ist, denke ich, haben wir noch viel, viel größere Kapazitäten. Natürlich leben manche Menschen auch bei uns in winzigen Wohnungen zu zweit und zu dritt, aber es gibt auch sehr viele Menschen, die Zweitwohnungen haben, die mehrere Häuser haben, die Wohnungen mit Gästetrakt haben und so weiter, und wenn eine Notsituation ist - und es ist momentan leider eine weltweite Notsituation -, dann muss man, meiner Meinung nach, auch überlegen, die Menschen von der Straße zu holen. Wir können die ja im Winter nicht alle erfrieren lassen.
    Müller-Ullrich: Diese Verkraftbarkeit ist ja nicht nur eine finanzielle, sondern auch eine kulturelle. Da kommen Menschen mit ganz anderen Hintergründen, mit Kriegserfahrungen und Kriegstraumata, und auch eine ganze Menge Leute, die finden, Israel solle doch besser von der Landkarte verschwinden. Wie gehen wir mit dem um?
    Erpenbeck: Ich denke, wenn wir hier einfach anfangen würden, unsere Front abzubauen, wäre auch schon viel gewonnen, denn nach meiner Erfahrung ist es so: Sobald mit Vehemenz abgelehnt wird und mit Aggressivität Menschen begegnet wird, kommt auch Aggressivität zurück. Ich denke, das einzige, was wir machen können ist, die Dinge, die wir entscheiden, gut entscheiden und so entscheiden, dass wir vielleicht auch vermitteln, dass es so was wie die Möglichkeit gibt, dass verschiedene Religionen, verschiedene Kulturen sich treffen und auch miteinander ins Gespräch kommen können und einen Weg finden können, ohne sich die Schädel einzuschlagen. Was ich sehe, ist immer diese Haltung, wir dürfen uns aussuchen, wie viel wir hier verkraften. Die Menschen, die ankommen, können sich ja nicht aussuchen, wo sie leben wollen, weil da, wo sie leben wollen, ist vielleicht wirklich gerade Krieg oder extremer Hunger. Wenn wir sagen, wir machen unsere Grenzen dicht, weil wir unseren Wohlstand nicht gefährden wollen, dann bedeutet das geradewegs, dass wir den Tot von wirklich sehr, sehr vielen Menschen in Kauf nehmen, und es fällt uns, glaube ich, nur so leicht, weil wir das nicht wirklich sehen müssen. Wir müssen ja nicht auf dem Mittelmeer sein und sehen, wie die Leute ertrinken. Das heißt, wir sperren die Sicht aus, aber wir sperren natürlich nicht das Problem aus. Und ich denke, irgendwann besteht die Möglichkeit, sich irgendwas auszusuchen, eben auch nicht. Deswegen denke ich, man sollte möglichst bald über eine gute Lösung nachdenken, statt so zu tun, als ob eine Grenze eine Lösung sein könnte.
    Müller-Ullrich: Die Schriftstellerin Jenny Erpenbeck, Autorin des gerade erschienenen Romans "Gehen, ging, gegangen“, der von der Flüchtlingsproblematik handelt Und für den Deutschen Buchpreis nominiert wurde.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.