Die EU und auch die EU-Kommission seien auf die Mitgliedstaaten angewiesen, sagte Lunacek im Deutschlandfunk. Gerade mit Blick auf die neuen Mitglieder müsse man deutlich machen, dass Solidarität keine Einbahnstraße sei, meinte die Vizepräsidentin des Europäischen Parlaments. Sie sei durchaus dafür, EU-Fördergelder zu kürzen, wenn einzelne Länder nicht bereit seien, Flüchtlinge aufzunehmen. "Das hier ist nicht vorrangig eine Flüchtlingskrise, sondern eine Krise der Solidarität und des politischen Willens."
Lunacek betonte, die Balkanstaaten Mazedonien und Serbien hätten sich in der Flüchtlingskrise sehr bemüht. Das Problem sei, dass man sie alleine gelassen habe. Dass Flüchtlinge nun aufgeteilt würden und man nur diejenigen durchlasse, die aus Syrien und dem Irak kämen, dürfe aber nicht sein.
Geordnete Zugangswege, aber kein Aufnahmestopp
Die Forderung des französischen Ministerpräsienten Manuel Valls nach einem Aufnahmestopp für Flüchtlinge aus dem Nahen Osten wies die österreichische Grünen-Politikerin zurück. Zu verfügen, dass niemand mehr aufgenommen werde, widerspreche dem europäischen Wertekatalog und sicher auch der französischen Verfassung. "Das was es braucht, sind geordnete Zugangswege. Das heißt ja nicht Stopp. Das darf nicht Stopp heißen."
Valls hatte in Zeitungsinterviews betont, Europa könne keine weiteren Flüchtlinge aufnehmen. Die Kontrolle an den Außengrenzen entscheide über das Schicksal der Europäischen Union. Valls verwies auf Erkenntnisse der Ermittler, wonach sich mindestens zwei der Attentäter von Paris als Flüchtlinge ausgegeben hatten und über Griechenland und Serbien nach Westeuropa gereist waren.
Das Interview in voller Länge:
Christiane Kaess: Syrer, Iraker und Afghanen, sie lässt Mazedonien noch durch seine Grenze mit Griechenland. Andere Flüchtlinge gelten den mazedonischen Behörden nicht mehr als schutzbedürftig. Sie stecken nun an der Grenze fest. Ähnlich soll es an den Grenzen zu Serbien und Kroatien zugehen. Die Vereinten Nationen kritisieren das Auswahlverfahren, bei dem ganze Familien getrennt werden, zum Beispiel, wenn Vater und Mutter unterschiedliche Nationalitäten haben. Unterdessen hat auch Mazedonien als vierter Staat nach Bulgarien, Ungarn und Slowenien begonnen, einen Grenzzaun zu bauen. Die Flüchtlinge protestieren. Einige von ihnen haben sich den Mund zugenäht, um ihrer Verzweiflung Ausdruck zu verleihen.
Am Telefon ist Ulrike Lunacek. Sie ist Delegationsleiterin der österreichischen Grünen im Europaparlament und sie ist als Vizepräsidentin des Europäischen Parlaments auch zuständig für den Westbalkan. Guten Morgen, Frau Lunacek.
Ulrike Lunacek: Einen schönen guten Morgen nach Köln.
Kaess: War diese Kettenreaktion vorherzusehen?
Lunacek: Was heißt vorherzusehen? Ja, ich befürchte, es war vorherzusehen. Deswegen haben wir ja auch sowohl im Europaparlament als auch in vielen anderen Teilen der EU ja gefordert, dass es hier rechtzeitig verstärkte und bessere Zusammenarbeit gibt. Aber es ist leider so, dass wir angewiesen sind als Europäische Union auf die Mitgliedsstaaten, und wenn die Mitgliedsstaaten nicht bereit sind, mehr zu tun, sei es, mehr Leute zur Verfügung zu stellen für die Aufnahmezentren, die sogenannten Hotspots, die ja jetzt in Griechenland und in Italien eingeführt wurden, wenn sie nicht bereit sind, wirklich jedes Mitgliedsland, mehr Flüchtlinge aufzunehmen, dann kann die EU und auch die Kommission, auch wir im Parlament hier leider nicht den nötigen Druck ausüben, um hier mehr Sicherheit auch für die Flüchtlinge zu schaffen.
"Als EU müssen wir dazu stehen, dass wir auch eine Union der Solidarität sind"
Kaess: Dennoch sind wir mit dieser Situation jetzt konfrontiert, dass die Flüchtlinge an den Grenzen feststecken. Kann die EU zusehen, dass sich an ihren Außengrenzen eine humanitäre Katastrophe ereignen könnte, dieses Mal nicht im Meer, sondern auf dem Land?
Lunacek: Nein, das darf sie nicht. Als EU, als Europäische Union müssen wir dazu stehen, dass wir auch eine Union der Solidarität sind, und das ist gerade in Richtung der neuen Mitgliedsstaaten gerichtet, dies unter dem Motto, dass Solidarität keine Einbahnstraße sein darf. Gerade jene Länder, von denen bis vor 25 Jahren viele Flüchtlinge auch in den Westen gekommen sind, die in den letzten Jahren seit ihrem Beitritt 2004 und dann 2007 auch sehr viel an Geld bekommen haben, um die Wirtschaft aufzubauen, die sind jetzt vor allem jene, die sagen, nein, das darf nicht sein, wir wollen keine Flüchtlinge. Die müssen wirklich auch mit finanziellen Mitteln dazu gezwungen werden, auch Flüchtlinge aufzunehmen, und wir müssen es gemeinsam schaffen, auch mehr Geld zur Verfügung zu stellen. Es ist wirklich eine Schande, dass für die Fonds, die von der Europäischen Union geschaffen wurden, immer noch viel zu wenig Geld von den Mitgliedsländern eingezahlt wird. Dann schreien alle Mitgliedsländer, die Regierungen, die Innenminister und so weiter, immer nach der Europäischen Union, aber sie halten nicht einmal selbst die Versprechungen ein. Das heißt, hier muss mehr Druck gemacht werden, dass angesichts der Dramatik, die sich da zuspitzt, es mehr an Geld, aber auch mehr an Personal gibt, um zu helfen, diese Ströme von Flüchtlingen, die Menschen dort in menschenwürdiger Weise zu behandeln, ihre Asylverfahren voranzubringen und sie menschenwürdig zu behandeln.
Kaess: Frau Lunacek, Sie sagen, finanziellen Druck. Wie sollte der denn ganz konkret aussehen, EU-Mittel kürzen?
Lunacek: Ja, bin ich durchaus dafür. Das Problem ist, dass das jetzt rechtlich nicht so einfach geht, einfach Kohäsionsfonds, Strukturfonds zu kürzen. Aber zum Beispiel jetzt im Budget: Wir haben im Europaparlament gerade die Budget-Debatten. Hier hat es von einigen von uns sehr wohl den Druck gegeben zu sagen, dann stimmen wir Teilen des Budgets nicht zu, die gerade für jene Mitgliedsländer, die sich hier weigern, wichtig wären. Diese Debatten finden bei uns noch statt, aber hier hat es ja auch von Kommissionspräsident Juncker sehr wohl ähnliche Aussagen gegeben.
Kaess: Schauen wir noch mal konkret auf die Situation, wie wir es gerade gehört haben von der griechisch-mazedonischen Grenze. Dieses Aussieben von Flüchtlingen, was ja auch die Vereinten Nationen kritisieren und noch mal darauf hinweisen, dass jeder das Recht hat auf eine Einzelfallprüfung seines Asylbegehrens, was ist denn die Erklärung dafür? Warum kommen denn die Balkan-Staaten dem nicht nach, nicht einmal die EU-Staaten Kroatien und Slowenien?
Lunacek: Zum einen muss man sagen, dass die Balkan-Staaten, vor allem Mazedonien und Serbien, da bisher vor allem in Serbien - ich war selber vor wenigen Wochen in Serbien und bin in Belgrad durch einen Park gegangen, wo Flüchtlinge betreut wurden, war in einem Zentrum -, die haben sich sehr bemüht. Aber das Problem ist, dass wir als EU hier eigentlich die Verantwortlichen sind, denn wir haben auch Griechenland jahrelang alleine gelassen. Wir haben Griechenland, wo wir wussten, dass die mehr Unterstützung brauchen - die früheren Regierungen wollten das eine Zeit lang auch gar nicht -, wirklich alleine gelassen. Dass jetzt hier Flüchtlinge aufgeteilt werden, die einen, die aus Syrien, Irak oder Afghanistan kommen, die werden auf jeden Fall durchgelassen und auch registriert, und die anderen, die aus Ländern kommen, wo auch Krieg herrscht, wo auch Bürgerkriege herrschen, wo bewaffnete Konflikte stattfinden, wie Sudan, wie Eritrea oder anderswo, das halte ich wirklich für ganz schlimm, das dürfte nicht sein. Und ich bin sehr froh, dass es jetzt eine Initiative gegeben hat von den Ombudsleuten, also den Volksanwälten in der Region des Westbalkan, die gemeinsam unter Leitung des serbischen Ombudsmannes, den ich selbst kenne, Herrn Sascha Jankovic, hier zu versuchen, klarzumachen, dass auch sie dafür verantwortlich sind, dass auch Flüchtlinge aus Bangladesch, Iran und so weiter, dass die wirklich überprüft werden, ob sie Flüchtlinge sind, und nicht hier einfach stehen gelassen werden oder zurückgeschickt werden, ohne dass es diese nötige Einzelfallprüfung geben muss.
Legale Zugangswege erforderlich
Kaess: Sie sagen, die Verantwortung liegt bei den EU-Staaten. Sind die EU-Staaten im Norden vielleicht insgeheim auch froh darüber, dass die Balkan-Länder jetzt für sie aussieben, denn die Wirkung zeigt sich ja offenbar schon? In Österreich kommen weniger Flüchtlinge an.
Lunacek: Ja, ja! Das ist sicher so, dass man hier dann auch froh ist. Es ist so, dass auch in Österreich, auch in Deutschland in kurzer Zeit sehr, sehr viele Flüchtlinge angekommen sind, und das ist eine Herausforderung. Das ist klar. Aber deswegen ist es ja auch so notwendig, dass auch andere Mitgliedsstaaten bereit sind, sowohl mehr Flüchtlinge aufzunehmen, also hier wirklich Solidarität zu zeigen. Ich sage immer, das ist nicht vorrangig eine Flüchtlingskrise, sondern es ist eine Krise der Solidarität und eine Krise des politischen Willens. Das ist wichtig, hier die anderen Mitgliedsstaaten dazu zu bewegen, gemeinsam zu agieren.
Aber es braucht ja noch viel mehr: Es braucht tatsächlich nicht nur wie schon gesagt diese Verteilung, dieses Versprechen einfach einzuhalten. Es braucht auch mehr Geld, sowohl für die Betreuung der ankommenden Flüchtlinge zum Beispiel in Griechenland, in Italien, auch wenn es jetzt weniger werden. Natürlich braucht es auch mehr Finanzmittel für jene Länder, die schon Millionen von Flüchtlingen aufgenommen haben, zum Beispiel die Türkei. Da sollte das aber über UNHCR und andere Organisationen gehen und nicht direkt über die türkische Regierung, denn da ist die Gefahr, dass das in Korruption und anderswo endet. Und dann braucht es auch ganz klar endlich Klarheit darüber, dass wir legale Zugangswege brauchen. Das würde den Schleppern das Handwerk legen und es würde auch vor allem die Gefahr für die Menschen reduzieren. Das heißt, legale Zugangswege, zum Beispiel wieder einzuführen, dass Asyl an Botschaften angesucht werden kann, oder auch, wie wir im Europaparlament schon vorgeschlagen haben, an den Botschaften der Europäischen Union.
"Das was es braucht, sind geordnete Zugangswege"
Kaess: Frau Lunacek, alles Punkte, über die seit Längerem auch schon diskutiert wird. Viel hat sich bisher noch nicht geändert. Ich möchte noch über einen weiteren Punkt mit Ihnen sprechen. Wir haben jetzt gerade über das Aussieben der Flüchtlinge gesprochen an den entsprechenden Grenzen. Es gibt heute Morgen noch eine ganz andere Forderung. Frankreichs Ministerpräsident Manuel Valls, der hat sich dafür ausgesprochen, einen Aufnahmestopp von Flüchtlingen aus dem Nahen Osten zu verhängen oder auszusprechen, einzuführen. Er sagt, die Kontrolle von Europas Grenzen entscheide über das Schicksal der Europäischen Union, und wenn wir das nicht tun, so einen Aufnahmestopp, dann werden die Völker sagen, Schluss mit Europa. Wie soll die EU mit dieser Forderung umgehen?
Lunacek: Die halte ich für falsch. Ich bin auch froh, dass hier von der deutschen Bundesregierung sehr wohl klare Anzeichen kommen, dass man nicht davon redet, jetzt einfach Aufnahmestopp zu machen. Das was es braucht, sind geordnete Zugangswege. Das heißt ja nicht Stopp. Das darf nicht Stopp heißen. Denn wir müssen einfach tatsächlich schauen, dass es auch an den Außengrenzen Kontrollen gibt, aber in einer Weise, wie ein Land menschenwürdig Grenzen kontrolliert. Aber zu verfügen, es darf niemand mehr aufgenommen werden, das widerspricht auch dem europäischen Wertekatalog, den europäischen Grundwerten. Es widerspricht, bin ich mir ganz sicher, auch der französischen Verfassung, die ich zwar nicht genau kenne, aber ich denke, das ist etwas, was ich hoffe, dass das in den anderen Mitgliedsstaaten keine Resonanz findet, denn es ist so, dass tatsächlich das Ansuchen um Asyl ein individuelles Recht ist, auch nach der Genfer Konvention, und das müssen wir als Europäische Union auch gewährleisten.
Kaess: Die Meinung von Ulrike Lunacek. Sie ist Delegationsleiterin der österreichischen Grünen im Europaparlament und Vizepräsidentin des Europäischen Parlaments. Danke für das Gespräch heute Morgen.
Lunacek: Vielen Dank und schönen Gruß zurück nach Köln.
Kaess: Danke auch.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.