Stephanie Doetzer: Als ich Ihr Buch zum ersten Mal in der Hand hatte, ist mir auf der ersten Seite der Satz aufgefallen "Jeder Mensch hat zwei Heimaten, seine eigene und Syrien." Das klingt ja für die meisten wahrscheinlich erst mal sehr skurril. Dann denkt man, Syrien, Heimat? Ist das die Heimat, die man haben will? Und all denjenigen, die Syrien kennen, spricht es wahrscheinlich aus dem Herzen. Wie landete dieser Satz auf der ersten Seite?
Stefan Buchen: Jeder Mensch hat zwei Heimaten, seine eigene und Syrien - das zielt auf die Geschichte und die Herkunft der zivilisierten Menschheit ab. In Syrien wurde das Alphabet, das wir heute in etwas anderer, abgewandelter Form kennen, erfunden, wenn man so will. Und die Reste davon kann man auch in einigen Museen noch besichtigen, falls diese Stücke nicht geraubt werden sollten im Laufe des Krieges, wird man das auch nach dem Krieg noch tun können. Und insofern hat Syrien einen besonderen Stellenwert im Gedächtnis der Menschheit. Und unsere Zivilisation, die würde nicht so existieren, wie sie existiert, wenn es nicht diese Entwicklung, nicht die Erfindung der Schrift gegeben hätte. Und mit der Schrift kann man ja vieles aufzeichnen, Polizeiakten, aber man kann auch journalistisch damit arbeiten heute. Also, unsere Kultur hängt sehr stark davon ab, und da spielt Syrien eben in der Entwicklung vor 3.000 Jahren - also über solche Dimensionen sprechen wir -, 3.000 bis 4.000 Jahren, 5.000 Jahren, eine wesentliche Rolle.
Doetzer: Das ist interessant. Das ist die eine Interpretation des Satzes. Ich glaube, so war der Satz auch gemeint, als ihn vor langer Zeit ein Direktor des Louvre mal gesagt hat. Ich habe den Satz zum ersten Mal von Syrern in Damaskus gehört, und die haben ihn wieder anders gemeint, und ich habe ihn auch, als ich ihn da gelesen habe, anders aufgefasst, nämlich so, dass Syrien etwas hat, was man ganz schwer in Worte fassen kann, was bewirkt, dass man sich in diesem Land sehr, sehr schnell zu Hause fühlt, weil man als Gast aus dem Westen immer mit unglaublich offenen Armen aufgenommen worden ist. Das finde ich ganz spannend an Syrien, dass es eben einerseits die Wiege der Zivilisation ist und andererseits ein Land, das niemanden kalt lässt.
Buchen: Das ist vielleicht sehr individuell. Ich glaube, es ist schwierig, solche Erfahrungen zu verallgemeinern. Natürlich gibt es so was wie orientalische Gastfreundschaft, es gibt so was wie "Du bist mein Bruder, auch wenn du eine andere Sprache sprichst oder von woanders her kommst". Aber ob man sich jetzt als Fremder in Syrien - wir sprechen natürlich von einer Situation vor dem Krieg sowieso - ob man sich mit offenen Armen aufgenommen fühlt oder nicht, ich denke, das ist eine sehr individuelle Geschichte. Ich habe Syrien eher als eine bleierne Gesellschaft empfunden, in der man den Hass durchaus spüren konnte, in der es ein oberflächliches, vordergründiges Funktionieren gibt, aber in der auch viele Dinge totgeschwiegen wurden. Wir hatten Ende der 70er-, Anfang der 80er-Jahre bürgerkriegsähnliche Zustände, als das Regime, damals angeführt vom Vater von Bashar al-Assad, der hieß Hafiz al-Assad, als sein Regime den Aufstand der Muslimbruderschaft blutig niederschlug, und es kam zu Zehntausenden Toten. Das war schon eine Dimension, die das, was heute passiert, vorweggenommen hat. Und die Wunden, die das geschlagen hat, die konnte man, wenn man sich bemüht hat, auch vor fünf, zehn Jahren in einem scheinbar friedlichen Syrien durchaus auch sehen, und sei es daran, dass niemand bereit war, darüber zu sprechen, was damals überhaupt passiert ist.
Doetzer: Ich komme noch mal auf den Satz zurück. Könnte man den Satz umtexten, Ihrer Meinung nach? Funktioniert der mit anderen Ländern? Also, könnte man so was sagen wie: Jeder Mensch hat zwei Heimaten, seine eigene und Deutschland? Macht das Sinn?
Buchen: Na ja, jeder Mensch hat zwei Heimaten, seine eigene und Syrien, beruht nun wirklich auf der Erkenntnis, dass das Gebiet zwischen Mittelmeer und Euphrat bei der Entwicklung der Schrift, die für unsere Zivilisation grundlegend ist, eine wichtige Rolle gespielt hat. Daraus hat sich ein Sprichwort entwickelt. Ich weiß nicht, ob man jetzt damit weiter spielen kann. Deutschland ist sicherlich Heimat für die Leute, die hier geboren sind, und es stellt sich zunehmend die Frage, inwieweit Deutschland Heimat wird, werden kann, und vor allen Dingen auch, wie schnell Deutschland Heimat werden kann für Leute, die zuwandern, die geflüchtet sind aus anderen Gegenden, zum Beispiel aus Syrien. Und für diese Menschen stellt sich die Frage, ob Deutschland eine zweite Heimat werden kann.
Doetzer: Genau damit sind wir beim Thema des Buchs. Es trägt den provokanten Titel "Die neuen Staatsfeinde". Wer sind da die neuen Staatsfeinde? Nicht die Flüchtlinge an sich, sondern eher diejenigen, die sie nach Deutschland bringen.
Buchen: Ja. Ich habe den Titel deshalb so gewählt, weil der deutsche Staat, das Bundesinnenministerium und ihm untergeordnete Behörden, die illegale Migration - das ist der Begriff, mit dem dort operiert wird - in einer Art und Weise bekämpfen, die erkennen lässt, dass der Staat Einwanderung als eine Staatsgefährdung betrachtet. Wenn also aus Sicht des Staates zu viele fremde Menschen nach Deutschland kommen, dann gefährdet das unseren Staat. Das ist die Sicht, die die Politik geprägt hat und immer noch prägt, und als politische Antwort hat man die Grenzen versucht, dicht zu machen, so weit es geht, die außereuropäischen Grenzen zunächst einmal. Als man gemerkt hat, dass man innerhalb von Europa, entgegen den Bestimmungen und Regeln des Dublin-Abkommens, als Flüchtling doch noch weiterreisen kann, zum Beispiel von Griechenland nach Italien, oder von Italien über Österreich nach Deutschland, hat man versucht, die innereuropäischen Grenzen auch zunehmend dicht zu machen. Und man sagt, die Überschreitung von außereuropäischen Grenzen und dann von innereuropäischen Grenzen ist eine illegale Handlung. Und die werden wir als solche bekämpfen und auch bestrafen.
Und jetzt gibt es die Erwartung, dass zunächst mal die Menschen, die Flüchtlinge, die Einwanderer, die Migranten diese politische Entscheidung akzeptieren. Wir sagen in Deutschland, wir möchten keine Einwanderung und wir sagen, dass jemand, der kein Visum und keinen Pass hat, eine Straftat begeht, wenn er zu uns kommt. Und wir erwarten, dass das akzeptiert wird von den Menschen. So. Jetzt stellen wir aber in der Realität fest, dass die Menschen trotzdem kommen, weil es eben bestimmte Umstände da draußen gibt. Irgendwie schaffen sie es, obwohl wir souverän gesagt haben, wir machen die Grenzen dicht, und es ist verboten, die zu überschreiten, kommen sie trotzdem. Und das machen sie nicht alleine. Sie brauchen dabei die Hilfe von anderen, die man im heutigen politischen Diskurs Schlepper oder Schleuser nennt. Das sind welche, die sich erdreisten, Tricks und Wege und Umwege und Abwege zu finden, die Grenzen zu unterlaufen, zu überschreiten, sich durchzumogeln und andere eben gegen Geld hier einschmuggeln. Und weil wir das nicht wollen, weil die Entscheidungsträger in unserem Staat das nicht wollen, diese Schlepper und Schleuser aber durchaus effizient ihren Job machen, deshalb werden die von Staat und Polizei als die neuen Staatsfeinde betrachtet. Und deshalb habe ich diesen Titel gewählt.
"Mit der ganzen Härte des sogenannten Rechtsstaats"
Doetzer: Sie haben da einen Fall sehr lange recherchiert, von einem Deutsch-Syrer, der in Essen lebt, seit Langem in Deutschland ist, und der dann eigentlich nicht beschlossen hat, plötzlich Schleuser zu werden, sondern Anrufe bekommen hat, ob er bestimmten Menschen helfen kann, die aus der gleichen Gegend in Syrien kamen wie er selbst. Und dann nahm die Sache so ihren Lauf. Wie muss man sich das vorstellen? Wie kamen diese Kontakte zustande und wie kamen dann die Menschen nach Deutschland?
Buchen: Der Fall, den ich da untersucht habe, der rollt etwas auf, was in den Jahren 2011, Anfang 2012 passiert ist. Wir reden von dem Beginn des Krieges in Syrien. Bis heute, wenn wir von heute ausgehen, sind weniger als 20.000 Syrer legal, regulär nach Deutschland gekommen. Damals, als der Fall begann, den ich in dem Buch aufrolle, gab es überhaupt keine legale Möglichkeit für syrische Kriegsflüchtlinge, nach Deutschland zu kommen. Die Grenzen waren dicht, das Signal war: Wir wollen euch hier nicht haben. Es kamen dann ganz erste, ganz vorsichtige Appelle quer durch alle politischen Lager. Der damalige Vorsitzende des Auswärtigen Ausschusses im Deutschen Bundestag, Ruprecht Polenz, CDU, war einer der ersten Prominenten, die gesagt haben, so kann es nicht weitergehen, wir müssen auf diese Menschheitskatastrophe anders reagieren als mit reiner Abschottung. Und wir haben hier in Deutschland schon ein paar Menschen, die seit Jahrzehnten hier leben, die syrischer Herkunft sind und die natürlich noch verwandtschaftliche, freundschaftliche Beziehungen nach Syrien hinein haben und die gerne hätten, dass ihre Verwandten nach Deutschland kommen. Und wir müssen einen Weg finden, dass zumindest solche Leute legal und ohne sich selber zu gefährden, nach Deutschland einreisen können, um hier ein neues Leben zu beginnen oder aber auch das Ende des Krieges abzuwarten und dann wieder in die Heimat zurückzugehen. Es gab solche Appelle. Und solche Appelle sind abgeperlt am Bundesinnenministerium. Damals war der Innenminister Hans-Peter Friedrich, CSU, und ich kann mich an einen berühmten Satz erinnern von Anfang 2013, da war der Krieg in Syrien schon mehr als ein Jahr im Gange. Er hat gesagt: Wir können hier nicht einfach Syrer aufnehmen, nur weil sie Verwandte in Deutschland haben. Das kann kein Grund sein. Deutschland hat dann auch mit Hinweis auf syrische Flüchtlinge und auf den Anstieg ihrer Zahl die Grenzen zwischen der Türkei und Griechenland, teilweise Landgrenzen, teilweise die Seegrenze in der Ägäis, geholfen, dichter zu machen, indem man dort Patrouillen verstärkt hat, es wurde ein Zaun gebaut.
Dann hat Deutschland auch Beamte geschickt der Bundespolizei an verschiedene Knotenpunkte, zum Beispiel am Flughafen von Istanbul und auch den Flughafen von Athen, wo man Leute kontrolliert hat, ob sie nicht vielleicht Flüchtlinge sind, die gar keine Einreiseerlaubnis nach Europa und auch nicht nach Deutschland haben. Und in dieser Zeit haben es Syrer trotzdem versucht, nach Deutschland zu kommen, und sogenannte Schleuser haben ihnen dabei geholfen. Die Flüchtlinge haben dafür bezahlt, diejenigen, die ihnen dabei geholfen haben, haben sich in dem Fall dann im Gefängnis wiedergesehen, weil sie von der Polizei festgenommen wurden, und ihnen wurde der Prozess gemacht wegen Einschleusung von Ausländern. Und das ist mein Ausgangspunkt. Ich gehe von dem Missverhältnis aus, wir haben eine Menschheitskatastrophe, wir haben Millionen Flüchtlinge im Mittleren Osten. Davon möchte ein Bruchteil nach Deutschland kommen, und die Bundesregierung reagiert mit kompletter Abriegelung und bestraft Schlepper, Schleuser, die den Flüchtlingen bei der Überwindung verschlossener Grenzen helfen, mit der ganzen Härte des sogenannten Rechtsstaats.
Doetzer: Also würden Sie sagen, da hat man auch ein Exempel statuiert an Menschen, die eben genau nicht dem Bild dessen entsprechen, das man vom Schlepper entworfen hat.
Buchen: Na ja, man hat hier die festgenommen und vor Gericht gestellt, die man kriegen konnte. Wie gesagt, der Staat betrachtet die Bekämpfung der sogenannten illegalen Migration als eine Priorität. Und wer ermöglicht die illegale Migration? Das sind die Schlepper. Deshalb möchte man die gern fangen, vor Gericht stellen und verurteilen. Und in der Realität agieren Schlepper, Fluchthelfer nicht so, wie das gerne dargestellt wird. Es sind keine hierarchisch organisierten Banden vom Mafiaboss bis zum untersten Handlanger, sondern es sind doch eher lose Netzwerke, die dadurch zustande kommen, dass die Flüchtlinge, von denen die Initiative ausgeht, dass die sich die Hilfe suchen, da, wo sie sie gerade brauchen. Eine Familie syrischer Herkunft, die in Deutschland lebt, hat Ersparnisse, hat Geld, und möchte dieses Geld zum Beispiel Verwandten in Syrien zukommen lassen, die dieses Geld dann für ihre Flucht benutzen. Und es gibt aber keine Bankverbindungen nach Syrien. Also brauche ich andere Methoden der Geldüberweisung, die vielleicht vom deutschen Staat als nicht legal betrachtet werden. Und wenn dann auf diesem Wege Geld überwiesen wird, das für die Bezahlung der Flucht verwendet wird, dann gilt man schon aus der Sicht der Strafverfolger als ein Schleuser oder vielleicht ein Finanzchef einer Schleuserbande, so wie das in dem von mir untersuchten Fall passiert ist. Also der Hauptangeklagte in diesem Verfahren ist jemand, der einfach Geld nach Syrien überwiesen hat, weil er die Möglichkeit dazu hatte. Ich möchte jetzt hier nicht in die Einzelheiten da gehen. Und dieses Geld ist dann verwendet worden, um die Flucht nach Deutschland zu bezahlen. Mehr hat dieser angebliche Bandenchef nicht gemacht.
Er hat keinen einzigen persönlich über irgendeine Grenze gebracht. Und er kannte auch nicht die Leute, die Pässe gefälscht haben oder Grenzbeamte bestochen haben oder was dann noch nötig ist, damit Grenzen überwunden werden. Die Flüchtlinge suchen sich da, wo sie auf Hindernisse stoßen, jemanden, der ihnen hilft, dieses Hindernis zu überwinden. Und in dem Fall, den ich hier untersucht habe, haben sich die Angeklagten, die angeblich eine Bande, eine Schlepperbande gebildet hatten, die haben sich erst vor Gericht beziehungsweise im Gefängnis kennengelernt. Die kannten sich vorher gar nicht. Im Übrigen konnte dieser Vorwurf der Bande in dem Fall auch nicht aufrechterhalten werden, den musste sogar das Gericht fallen lassen. Ich versuche, mich in die Situation der Flüchtlinge zu versetzen, und es kommt nicht so sehr auf die Absicht an. Es kommt vielleicht am Ende auch gar nicht auf das Zugehörigkeitsgefühl des hier Hauptangeklagten an, sondern es kommt darauf an, dass er seinen Job gut macht. Die Flüchtlinge wollen nur den Erfolg, die wollen die Gegenleistung für das Geld, das sie bezahlen. Und wenn sie die Gegenleistung bekommen, das heißt, wenn sie an einen sicheren Ort kommen, dann sind sie auch zufrieden. Es kommt darauf an, dass die Schlepper diese Gegenleistung erbringen und dass sie eben das Leben der Flüchtlinge nicht gefährden, was manche eben tun. Das werden wir ja nicht bestreiten und nicht ausblenden. Solche Leute gibt es natürlich.
Doetzer: Ich erinnere mich da an einen Satz, den Sie geschrieben haben: "Einerseits schützt der Rechtsstaat vor Willkür, aber der Rechtsstaat kann auch eine Falle stellen, denn das Bewusstsein, im Rechtsstaat zu leben, erzeugt bei seinen Funktionsträgern den Anspruch, gar nicht im Unrecht sein zu können, solange sie sich an das Gesetz halten, solange sie jeden Schritt ihres Handelns mit dem Verweis auf das Gesetz rechtfertigen können." Das heißt, man hat sich an die deutschen Gesetze gehalten, der Staat hat sein Hoheitsrecht ausgeübt. Sie sagen, es hätte einen Ermessensspielraum gegeben.
Buchen: Nein. Ich sage, dass eine Menschheitskatastrophe passiert und dass der deutsche Staat darauf mit Klein-klein reagiert. Er reagiert darauf mit der Anwendung positivrechtlicher Strafrechtsnormen. Also, es ist natürlich verboten, ein Land zu betreten, für das man keine Einreiseerlaubnis hat. Ganz grundsätzlich, es ist natürlich verboten, den Boden eines Landes zu betreten, für das man keine Einreiseerlaubnis hat. Und was ich der Polizei, dem Bundesinnenministerium und der Staatsanwaltschaft, der Justiz hier vorwerfe, ist, dass man angesichts einer Menschheitskatastrophe nur diese positivrechtlichen Normen sieht.
"Und dann ist auch die Hilfe bei dieser Einreise nicht verboten…"
Es ist auch eine falsche Interpretation der geltenden Gesetze, denn wenn man sich überlegt, was bedeutet eigentlich das Recht auf Asyl, das Recht auf Schutz vor Krieg?, dann darf man schon auch fragen, ob die Einreise von syrischen Flüchtlingen überhaupt verboten ist in Deutschland. Man kann aufgrund der geltenden Gesetze zu einem anderen Ergebnis kommen, als es die Staatsanwaltschaft und das Gericht in diesem Fall getan hat. Man hätte zu dem Ergebnis kommen können, dass die Einreise von Flüchtlingen aus einem Kriegsgebiet gar nicht unerlaubt ist. Und dann ist auch die Hilfe bei dieser Einreise nicht verboten und nicht strafbar. Und dann hätte man hier von Strafverfolgung absehen können.
Es gibt da auch maßgebliche Expertenmeinungen, zum Beispiel ein Professor für Ausländerrecht, der sogar Bundespolizisten an der Fachhochschule des Bundes in Ausländerrecht unterweist, der auch dieser Meinung ist, dass diese Einreise über Griechenland nach Deutschland von syrischen Flüchtlingen, also von Menschen, die einen Anspruch auf Schutz haben, dass das nicht verboten ist und deshalb nicht verfolgt werden darf. Aber diese Meinung hat sich im Bundesinnenministerium bei den maßgeblichen Entscheidungsträgern nicht durchgesetzt. Und das Erschreckende an dem Fall hier ist eben, mit welcher Härte und mit welcher Hartnäckigkeit, mit welchem Aufwand und mit welchen Ressourcen hier diesen Schleusern - man müsste vielleicht eher sagen, Fluchthelfer - auf die Spur gekommen wurde, also mit welchem Aufwand man sie verfolgt hat.
Doetzer: Sie haben gerade gesagt "Schleuser, man müsste vielleicht sagen, Fluchthelfer". Mit dem Wort, das man da wählt, ist ja ohnehin der Rahmen für die Debatte schon mal vorgesteckt. Und je nach historischer Gegebenheit, je nach politischer Stimmung wird man das eine Wort oder das andere Wort wählen. Momentan sind es Schleuser oder Schlepper, womöglich auch Menschenschmuggler, aber eher nicht Fluchthelfer.
Buchen: Aus der Sicht des Staates. Aus der Sicht des Staates sind das die neuen Staatsfeinde. Sie haben nichts Positives. Man merkt das oder man hört das bei jeder Meldung. Wenn ein Schiff untergeht im Mittelmeer, wenn es Tote auf einem Lastwagen gibt, wo Flüchtlinge erstickt sind, es kommt sofort gebetsmühlenartig, automatisch, mechanisch der Kommentar von Politikern: die menschenverachtenden Schlepper, denen ist das Leben der Flüchtlinge nichts wert. Und hier findet dann was sehr Perfides statt. Es wird der Eindruck erweckt, dass wir Politiker, wir Polizisten, wir beschützen die armen Flüchtlinge vor den bösen Schleppern. Und das ist ein Bild, das mit der Realität, finde ich, nichts zu tun hat, weil natürlich Europa, die europäischen Staaten, der Grenzschutz zunächst mal eine Mitverantwortung hat. Man hat die Grenzen dicht gemacht und Kriegsflüchtlingen, also Menschen, die potenziell einen Anspruch haben, auch irgendwo anders aufgenommen zu werden, denen wird gar keine andere Chance gelassen, als mit Schleppern oder Fluchthelfern nach Europa zu kommen. Man muss aber sagen, dass dieses Argument, wir stellen uns schützend vor die Flüchtlinge, wir beschützen sie vor den bösen Schleppern, dass das sehr verfangen hat. Das ist einer der größten Propagandaerfolge der deutschen und europäischen Innenpolitik in den letzten Jahren.
Doetzer: Wobei, das Bild hat mit der Realität nichts zu tun, das ist mir zu extrem. Ich finde, es gibt die gesamte Bandbreite. Es gibt einen - eben wirklich vom Menschenschmuggler, Schlepper, Schleuser bis zum Fluchthelfer.
Buchen: Nein, ich meine das so, wenn ich sage, das hat mit der Realität nichts zu tun: Was ist propagandistisch, heuchlerisch und realitätsfern an dieser Argumentation? In dieser Argumentation erscheinen die Flüchtlinge als willfährige Schafe, die von ihren Schlächtern zu irgendetwas gezwungen werden. Das geht komplett an der Realität vorbei. Flucht geht nicht von Schleppern oder Schleusern aus. Das hat übrigens die Bundespolizei in internen Studien immer wieder ermittelt. Die wissen das selber sehr genau, sie stellen es nach außen nur anders da.
"Natürlich hat jemand, der flieht, auch Sehnsucht nach seiner Heimat"
Flucht geht von den Flüchtlingen aus, von einer Notsituation, aus der Menschen entkommen wollen. Und manchmal, zunehmend an den Außengrenzen Europas ist es so, dass dieses Entkommen nicht anders funktioniert als mit der Hilfe von Schleusern und Schleppern. Und für die Flüchtlinge kommt es darauf an, dass die Schlepper ein Mindestmaß an Respekt vor dem Leben der Flüchtlinge haben. Es gibt auch Fälle, wo Flüchtlinge Schlepper bezahlen, und die Schlepper hauen mit dem Geld ab und erbringen die Gegenleistung nicht. Sie haben vielleicht irgendwas erzählt, ja, da ist ein Schiff, oder da kommt morgen ein Schiff, und das kommt dann gar nicht. Das kommt alles vor. Und das sind sozusagen die unerwünschten Dinge, die aus Sicht des Flüchtlings passieren können in dem Verhältnis mit dem Schlepper. Es ist nicht so, dass es Schlepperbanden gibt, die versuchen, irgendwelchen armen Menschen auf der Welt ein Produkt unterzujubeln, nämlich die Überfahrt nach Deutschland, als müssten sie dafür werben und Menschen überreden und überzeugen.
Doetzer: Den Schleppern gegenüber tatsächlich nicht, aber die Überzeugungsarbeit kenne ich in einem anderen Zusammenhang, nämlich bei den Syrern, die durch Familienzusammenführung nach Deutschland kamen. Und da kenne ich diesen Fall ganz häufig, dass Überzeugungsarbeit geleistet wurde, damit die Leute rausgehen, und nicht die Familie gesagt hat, wir wollen aber Syrien verlassen, sondern die Verwandtschaft in Deutschland gesagt hat, bitte kommt, und dann das tatsächlich ab August 2013 geklappt hat mit einem etwas weniger spektakulären Weg, nämlich wirklich mit Taxi nach Beirut und dann von Beirut aus mit dem Flugzeug weiter. Und ich kenne die Fälle, wo dann gesagt wurde, so, jetzt haben wir die Enkel wiedergesehen, und in ein paar Wochen fahren wir wieder. Und diejenigen Syrer, die schon in Deutschland waren, vollkommen entsetzt waren, gesagt haben, Moment mal, wir holen euch aus diesem Dreck raus, und jetzt fahrt ihr in diesen Dreck zurück? Also ich glaube, es ist eine in manchen Fällen falsche Grundannahme, davon auszugehen, dass alle Syrer rauswollen und nach Deutschland wollen.
Buchen: Ja, das ist ja eine Binsenweisheit, dass die Menschen am liebsten bei sich zu Hause bleiben. Das gilt, so unglaublich sich das anhören mag, auch für Syrer heute. Von mehr als 20 Millionen Syrern leben immer noch zehn Millionen in ihrem Haus und Hof heute, was eine relativ erstaunliche Zahl ist angesichts der Situation im Lande. Und natürlich hat jemand, der flieht, auch Sehnsucht nach seiner Heimat, und manche gehen auch wieder zurück. Andere hoffen bis an ihr Lebensende auf Rückkehr, aber diese Rückkehr passiert nie. Da kann ich jetzt auch ganz viele Fälle nennen, andere Nationalitäten, denen das so ergeht, wo es sogar dann vielleicht noch in der nächsten Generation so ist, dass die nächste Generation noch hofft, in die alte Heimat zurückzukommen, und es passiert trotzdem nicht. Also, wie Flucht und Exil innerhalb von Familien ausgehandelt wird, da gibt es sicherlich individuelle Fälle, die so oder so laufen. Aber grundsätzlich ist es natürlich die größte Flüchtlingskatastrophe seit Jahrzehnten. Also die Mehrheit der Syrer, nämlich mehr als zehn Millionen, haben Haus und Hof verlassen. Davon sind die meisten innerhalb von Syrien unterwegs, und vier, fünf Millionen sind in den Nachbarländern, und dann, ein Bruchteil hat es dann versucht, nach Europa zu schaffen, Deutschland, Schweden, andere europäische Länder.
Doetzer: Würden Sie sagen, jeder, der aus Syrien kommt, ist Flüchtling? Ist das für Sie das Wort?
Buchen: Ja, natürlich. Flüchtling bezeichnet den Umstand, dass jemand gegen seinen Willen seine Heimat verlassen musste. Und ich würde mal sagen, dass die Syrer, die heute die Grenzen ihres Landes verlassen, das gegen ihren Willen tun, dass sie das gezwungenermaßen tun. Sie tun es ja nicht unbedingt, um ihr Glück draußen in der Welt zu versuchen, sondern sie tun es, glaube ich, aus dem Antrieb, dass sie sich in Sicherheit bringen. Ein ganz wichtiges Motiv, was ich immer beobachtet habe, ist, sich dem Militärdienst zu entziehen. Junge Männer in Syrien laufen Gefahr, sei es, von der Regierung oder von einer der Rebellenmilizen, vielleicht auch vom Islamischen Staat rekrutiert zu werden. Und das bedeutet, dass man dann in den Krieg verwickelt wird und dass man zum Mörder wird, und das möchten halt viele nicht. Und sie sehen nur die Chance, sich durch Flucht diesem zu entziehen. Sie möchten an diesem Volkssturm nicht teilnehmen. Und dafür habe ich sehr viel Sympathie, und dafür sollte auch der deutsche Staat Sympathie haben.
Doetzer: Was ist für Sie die Konsequenz daraus? Würden Sie sagen, jeder Syrer, der einreisen möchte, soll einreisen dürfen, ohne dass man da jetzt den Einzelfall prüft? Was resultiert daraus für Sie?
Buchen: Es wird ja oft gefragt, ja, wenn man so argumentiert, was ist die Alternative? Sollen wir etwa unsere Grenzen nicht mehr kontrollieren? Wollen Sie etwa unkontrollierte Zuwanderung. So, und da sage ich, von unkontrollierter Zuwanderung hat niemand gesprochen. Wir haben eine Menschheitskatastrophe, weil es Millionen von Flüchtlingen gibt, ja. Aber die wollen nicht alle nach Europa, und die wollen nicht alle nach Deutschland. Ein Teil möchte nach Deutschland, und das sollte man etwas großzügiger gestatten, als das gemacht wird. Wir müssen sehen, wir haben weniger als 20.000 Syrern legal bislang erlaubt, nach Deutschland zu kommen. Das ist bei 14 Millionen Flüchtlingen ein verschwindender Bruchteil. Der dürfte schon ein bisschen höher sein nach meiner Auffassung.
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Stefan Buchen, geboren 1969, ist Journalist beim ARD-Politikmagazin Panorama, ausgezeichnet u.a. mit dem Leipziger Preis für die Freiheit und Zukunft der Medien. 2014 erschien sein Buch "Die neuen Staatsfeinde - Wie die Helfer syrischer Kriegsflüchtlinge in Deutschland kriminalisiert werden".