Die "Siam Pilot" liegt im Hafen von Catania. Das norwegische Versorgungsschiff unterstützt von Sizilien aus die Frontex-Küstenwache – und rettet Flüchtlinge und Migranten. 140 waren es beim letzten Einsatz, 22 Seemeilen vor Tripolis war ein Schlauchboot gesunken. Oft aber finden 1.000 Menschen und mehr Platz an Deck des nur 88 Meter langen Schiffes – auch von anderen Booten aus dem Wasser gerettet oder von den Schlauchbooten, deren Hüllen immer dünner werden und die immer mehr Menschen tragen sollen. Am Tag des Besuchs auf der "Siam Pilot" ertranken wahrscheinlich 135 Schiffbrüchige vor der libyschen Küste. 95 weitere wurden am Tag danach vermisst. Mit ihnen zählt das Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen 4.500 Tote in diesem Jahr.
Derzeit steigt wieder die Zahl derer, die auf Sizilien ankommen. 160.000 bisher in diesem Jahr, viele von ihnen gerettet von der italienischen Küstenwache. Es ist ein kleiner Teil von ihnen, der per Bus ins Lager Mineo gebracht wird. Bei der Anfahrt leuchten die gelben, lachs- und orangefarbenen Reihenhäuser der ehemaligen Unterkünfte für US-Soldaten aus dem Grün-grau des sizilianischen Inselinneren.
Die 3.000, die hier in Mehrfamilienhäusern an baumbesäumten Teerstraßen untergebracht sind, gehören zu der kleinen Minderheit mit guten Aussichten auf ein Aufenthaltsrecht. Wie Marcial, der aus Kamerun geflohen ist.
"Wegen Boko Haram. Sie haben meine beiden Eltern getötet und alles niedergebrannt. Weil uns Boko Haram nicht sehen will. Das ist die Wahrheit."
Vor zwei Wochen, nach sieben Monaten in Italien, haben die italienischen Behörden Marcial den Flüchtlingsstatus zuerkannt. Der Anfang-20-Jährige ist glücklich.
"Sie haben uns auf dem Meer aufgenommen. Sie haben uns das Leben gerettet. Wir sind endlich in Italien. Hier ist es gut, hier ist es ruhig."
"Relocation" funktioniert nicht
Bei Weitem nicht alle wollen allerdings in Italien bleiben, wo es keine Arbeit gibt. Auelker, schmales Gesicht, kurze Locken, beginnt zu erzählen, 20, 30 Landsleute aus Eritrea kommen dazu, sie alle haben Verwandte in anderen EU-Staaten, sagen sie.
"Als wir am Hafen angekommen sind, haben sie mir gesagt, in spätestens drei Monaten kämen wir in ein anderes Land. Das ist sechs Monate her. Wir wissen nicht, wie es weitergeht. Nur wenige haben die Chance. Und es ist ein Glücksspiel. Leute, die nach uns gekommen sind, wurden uns vorgezogen. Wie kann das sein?"
Wie dieser Gruppe geht es vielen in Mineo, sagt der Direktor des Lagers Sebastiano Maccarone.
"Die größte Gruppe hier sind eritreische Staatsangehörige. Sie warten auf die Relocation, auf die Umverteilung in Europa. Leider kommen die Aufnahmeangebote aus dem Rest Europas nicht so, wie es in Brüssel ausgemacht wurde."
Eigentlich sollten auch 35.000 Menschen aus Italien umverteilt werden
Das ist zurückhaltend formuliert. Auf dem Höhepunkt der Flüchtlingskrise aus mittel- und nordeuropäischer Sicht, im September letzten Jahres, hatte der EU-Rat beschlossen, dass 160.000 Menschen aus den besonders betroffenen Ländern umverteilt werden sollten, vor allem aus Griechenland, 35.000 aber auch aus Italien.
Bisher haben die anderen Staaten gerade mal 5.000 dieser Plätze zugesagt. Zu zwei Dritteln ist auch dieses Versprechen nicht eingelöst. Es fehlt nicht nur an Plätzen, sondern auch an Hilfe bei der Auswahlentscheidung. Vier Mitarbeiter hat das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge nach Italien geschickt, eine Kraft nach Mineo. Das ist mehr als andere Staaten, in der Summe reicht es nicht.
Für die Umverteilung kommt nur in Frage, wer aller Wahrscheinlichkeit nach Anspruch auf Schutz hat. Übersetzt in die Regeln der Verwaltung heißt das: mindestens 75 Prozent Anerkennungsquote für Menschen aus dem Herkunftsland. Wie bei Syrern, Irakern und eben Eritreern.
Besonders Schutzbedürftige haben Vorrang: Schwangere, Mütter mit kleinen Kindern, Traumatisierte. Die strengen Vorgaben heißen zum Beispiel für Josue, dass er von vorne anfangen muss. Er kommt aus der Zentralafrikanischen Republik. Die Anerkennungsquote ist gerade gesunken. Nach Monaten der Hoffnung und des Wartens ist er aus dem Programm gefallen. Wird er sich jetzt um italienisches Asyl bemühen?
"Einen Asylantrag stellen, jetzt, nach all der Zeit, die vergangen ist? Ich habe echt keinen Kopf mehr, darüber nachzudenken, wir warten und warten."
An sich aber war die Umverteilung nicht zum Wohl der Flüchtlinge beschlossen worden, sondern zur Unterstützung der belasteten Staaten. Dass Italien belastet sei, bekommen die deutschen Journalisten auch in Rom zu hören. Jahrelang habe es sich Europa zu einfach gemacht, sagt Präfekt Mario Morcone, Chef der Einwanderungsbehörde im Innenministerium. Man habe Italien gar noch das frühere italienische Seenotrettungsprogramm Mare Nostrum übel genommen.
"Man nannte Mare Nostrum einen Pull-Faktor und machte das Problem zu einem Italiens. Bis sich die Balkanroute auftat und die Leute bis nach Frankfurt kamen. Und vielleicht war es das, was unseren Freunden gezeigt hat, dass das Problem ein bisschen größer war."
Das europäische, nicht das italienische Problem, betont Morcone. Denn die Grenzen Italiens seien europäische Außengrenzen. Der Präfekt hat Freude an der sarkastischen Wortwahl. Auch als er lobende Worte findet für die internationale Unterstützung bei der Seenotrettung.
"Auch die Engländer, die an sich die Europäische Union verlassen wollen, kamen gern, um die Migranten aufzunehmen und dann nach Sizilien zu bringen. Es kommt das englische, das französische Fernsehen, Fotografen von überall. Die Migranten bleiben in Sizilien."
De Maizière betrachtet Zusagen an Italien als "nicht prioritär"
Spätestens seit der Vereinbarung aus dem letzten Jahr winkt Italien die Migranten nicht mehr unregistriert durch in den Norden und nimmt auch solche, die weiterreisen, aus anderen EU-Staaten zurück, das erkennt auch die deutsche Politik an. Für Italien heißt das: Zum ersten Mal bleiben die Menschen im Land, 75.000 pro Jahr schätzen die Vereinten Nationen.
Verglichen mit Deutschland ist das nicht viel. Aber das Land muss erst anfangen, sich Gedanken um Integration zu machen. Das schafft politischen Druck, gerade vor dem entscheidenden Verfassungsreferendum in Italien am 4. Dezember. Die Regierung Renzi, der Morcone untersteht, gefällt sich in antieuropäischen Tönen in der Hoffnung, dass das ankommt. Aber sie möchte auch etwas vorweisen können aus Europa.
Deutschland soll mehr als 10.000 Menschen über die Umverteilung aufnehmen. Bundesinnenminister Thomas de Maizière nannte es noch vor Monaten "nicht prioritär", die Zusage einzulösen. Jetzt sollen 500 Flüchtlinge pro Monat nach Deutschland kommen. Gerade als die deutsche Journalistendelegation auf Einladung der Europäischen Kommission in Rom ist, startet der erste Flieger. Morcones Begeisterung hält sich in Grenzen.
"Die deutschen Freunde haben gestern 200 aufgenommen. 200."
Trotzdem aber gilt der Unmut nicht in erster Linie Deutschland, dem Land, das man als wichtigen Verbündeten in Flüchtlingsfragen ansieht. Der Ärger des Präfekten Morkone gilt den Staaten vor allem in Osteuropa, die sich der Aufnahme verweigern. Und den zurückhaltenden Vorschlägen der slowakischen Ratspräsidentschaft, die aufnahmeunwilligen Staaten Spielraum geben möchte.
"Wir hoffen sehr auf Deutschland. Das ist die Wahrheit. Weil Deutschland ein großes Gewicht hat in jenem Teil Europas."