"Die Situation der Flüchtlinge ist sehr, sehr schlecht, bedrohlich sogar. Der Winter steht vor der Tür, ich glaube, es werden Epidemien dann ausbrechen. Wir müssen schnell reagieren mit Zelten und Gesundheitszentrum, damit wir den Winter überwinden und eine große Katastrophe vermeiden."
Die Warnung von Nihad Qocha ist unmissverständlich. Eineinhalb Millionen Flüchtlinge innerhalb kürzester Zeit sind vor dem sogenannten Islamischen Staat in den irakischen Norden geflohen, ins sichere Kurdistan mit seinen nur fünf Millionen Menschen. Vertriebene campieren an Straßen, belegen Schulen, hausen unter Brücken oder in halb fertigen Häusern. Meist Frauen, wenig Männer, mehr als die Hälfte Kinder unter 15.
"Es hat ja drei wichtige Ströme gegeben von Flüchtlingen im Januar: Da gab es viele Irakis aus der Anbar-Region, die haben sich dann im Norden niedergelassen. Der zweite war, als Mossul gefallen ist und der große Strom der Jesiden aus dem Sindschar-Gebirge. Und all das bedeutet: Nur in der Provinz Dohuk, wo normalerweise nur 1,3 Millionen Leute wohnen, dass da dieses Jahr noch mal 800.000 dabei gekommen sind," rechnet Ton van Zutphen von der Welthungerhilfe vor. Die Flüchtlinge sind die Ärmsten der Armen. Sie haben keine Arbeit, kein Geld, hoffen auf Versorgung mit dem Nötigsten. Nicht nur logistisch, sondern auch finanziell ist das eine riesige Herausforderung für Hilfsorganisationen wie die Welthungerhilfe:
"Viele sehen nicht nur arm aus, sondern auch depressiv. Leute sagen: Wir können nicht zurück, wo gehen wir hin? Die haben das Gefühl, die sind irgendwo und es gibt keinen direkten Zukunftsblick mehr. Wir versuchen natürlich, alles zu verbessern mit Essen und Zelten. Aber was sich in der Seele tut, das kommt erst später raus. Und was da gemacht werden muss, ist erst am Anfang."
Hoffnung auf ein großes Zeltlager
Auch unter der kurdischen Bevölkerung herrscht gedrückte Stimmung. Die IS-Bedrohung bleibt nicht ohne Folgen: Horror-Erlebnisse der Vertriebenen belasten. Kurden fürchten zudem Konsequenzen durch die Vielzahl der Flüchtlinge. Zudem meiden Investoren aus Sicherheitsbedenken den Nordirak und verschlechtern die wirtschaftlichen Perspektiven.
Hilfsorganisationen stehen am Limit. So viele Flüchtlinge könne keine Region verkraften - ungeachtet der noch hohen Solidarität der Bevölkerung. Die viel größere und finanziell solide Türkei könne in ihren Lagern drei Essen pro Tag anbieten, Flüchtlinge dort dürften arbeiten und seien krankenversichert. In Kurdistan stoße die Hilfe an Grenzen - obwohl seine Organisation günstiger wirtschafte als etwa die Vereinten Nationen, weiß Ton van Zutphen. Die Welthungerhilfe kaufe alles in der nahen Türkei, was erheblich Kosten spare:
"Wenn die UNO alles in der Türkei kaufen würde für Nordirak, könnten sie das viel billiger machen. Aber das geht in ihrem System nicht. Für 1 Euro kaufe ich Essen in Gaziantep - dasselbe Essen würde mich 1,40 Euro kosten hier in Erbil. Also mit 1 Euro kann ich viel mehr Menschen erreichen."
Seine Hoffnung: Ein großes Zeltlager, wie Entwicklungsminister Müller es kürzlich beim Besuch in Kurdistan ankündigte. Das könne man als gemeinsames deutsches Projekt günstig und effizient versorgen - wenn alle schnell und unbürokratisch mitspielen. Denn der Winter wartet nicht und die Flüchtlinge werden noch lange auf solche Lager angewiesen sein.