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Flüchtlinge in Bremen
Ein neues fremdes Leben

In Bremen etwa leben rund 800 Jugendliche, die ohne ihre Eltern nach Deutschland geflohen sind. Sie werden besonders intensiv betreut. Nur einige von ihnen fallen durch Kriminalität oder Verweigerung auf. Für sie soll dort nun eine geschlossene Unterbringung eröffnet werden - Kritiker halten das für wenig zielgerichtet.

Von Franziska Rattei |
    Seydina Keita in seinem Ausbildungsbetrieb "Werkstatt Bremen", zusammen mit Annette Bullig.
    Seydina Keita in seinem Ausbildungsbetrieb "Werkstatt Bremen", zusammen mit Annette Bullig. (Deutschlandradio, Franziska Rattei)
    So wie überall in Deutschland steigen auch in Bremen die Flüchtlingszahlen stark an. Allein seit Januar sind mehr als 2.000 Menschen aus Syrien, den Balkan-Staaten und verschiedenen afrikanischen Staaten in Bremen angekommen – so viele wie im gesamten vergangenen Jahr. Der sogenannte Königsteiner Schlüssel regelt die Aufteilung der Flüchtlinge unter den Bundesländern. Eine Gruppe Flüchtlinge allerdings wird nicht umverteilt. Wer unbegleitet und minderjährig ankommt, genießt besonderen Schutz; die sogenannten UMF, die "unbegleiteten minderjährigen Flüchtlinge", müssen nicht weiterziehen, werden in Obhut genommen, sollen möglichst schnell Deutschunterricht bekommen.
    In Bremen leben derzeit rund 800 dieser jugendlichen Flüchtlinge ohne Begleitung. Seydina Keita ist einer von ihnen. Der 17-Jährige ist aus Mali übers Mittelmeer geflüchtet. Er erzählt nichts von dieser Zeit, aber manchmal erwähnt er Kleinigkeiten, aus denen man sich etwas zusammenreimen kann. Vermutlich begann Seydinas Flucht, als er etwa 13 oder 14 war. Darüber, wie er danach nach Bremen gekommen ist, spricht er nicht. Seit Herbst 2014 lebt Seydina Keita in einer Sechser-WG in Bremen-Huchting; auch nicht gerade mittendrin, aber er ist zufrieden.
    "Apartment-WG. Jeder hat sein Apartment. Sechs Leute: aus Mali, Kamerun, mit Deutschen auch. Das ist – wie man sagt: Bremen ist bunt. Das hilft auch, weil wir nur Deutsch sprechen."
    Seydina sitzt an seinem Schreibtisch in der Werkstatt Bremen, ein städtischer Betrieb, der Menschen mit Behinderung ausbildet und beschäftigt. Die Arbeit des Jugendlichen spielt sich vor allem im Büro ab.
    "Hier haben wir den 19. Juni, hier 18.06.2015, dann so das läuft, so und so weiter."
    Der Jugendliche aus Mali ist einer von 23 jugendlichen Flüchtlingen, der eine sogenannte Einstiegsqualifizierung in Bremen absolviert; ein nulltes Lehrjahr sozusagen, das auf die weitere Ausbildung vorbereitet. Die Finanzsenatorin hat das Projekt ins Leben gerufen und bietet den Jugendlichen insgesamt elf Berufe an: von der Elektronikerin bis zum Tischler, von der Fachinformatikerin bis zum Kaufmann für Büromanagement.
    Einstiegsqualifikation als Chance für Seydina
    Seit September 2014 ist der 17-Jährige dabei. Er sichert sich damit sein Bleiberecht, auch, wenn er im Oktober 18 wird und der besondere Schutz für unbegleitete minderjährige Flüchtlinge ausläuft. Wer Seydina kennenlernt, läuft Gefahr, sein Alter zu vergessen, weil er einen so pflichtbewussten Eindruck macht: An zwei Tagen pro Woche arbeitet er im Büro mit, an zwei Tagen besucht er die Berufsschule. Dazu kommt ein Deutsch-Kurs am Samstag. Freitag und Sonntag hat er frei. Dann hat er Zeit, um sich mit Freunden zu treffen, Sport zu treiben oder mit seinen Eltern zu telefonieren. Vor ein paar Monaten sind sie mit den anderen beiden Kindern aus Mali in den Senegal geflüchtet. Seitdem ist es einfacher mit dem Kontakt, sagt Seydina. Und dann lenkt er auch schon wieder geschickt von diesem Thema ab.
    "So, können wir das Interview jetzt auf Französisch machen."
    Er ist erleichtert, als seine Kollegin Annette Bullig aus der Mittagspause zurückkommt und sich ihm gegenüber wieder an den Schreibtisch setzt.
    "Soll ich dran gehen? Werkstatt Bremen, Annette Bullig. Ja, das ist nett, dass Sie Bescheid sagen. Ok, tschüss!"
    Ein Zettel mit der Aufschrift "Ausbildung" liegt am 16.07.2015 in einem Klassenzimmer auf einem Tisch vor einer Schülerin einer zehnten Klasse des Eugen-Bolz-Gymnasium in Rottenburg (Baden-Württemberg).
    Seydina Keita macht eine Einstiegsqualifikation, die auf eine reguläre Ausbildung vorbereiten soll. (picture-alliance/ dpa / Wolfram Kastl)
    Die beiden arbeiten seit Anfang Juni miteinander. Als Seydina das erste Mal ins Büro kam, war er ihr sofort sympathisch, sagt die Verwaltungsmitarbeiterin: Sein freundliches Wesen, seine Offenheit und Motivation haben ihr gleich gefallen. Vorher war sie schon ein bisschen skeptisch. Schließlich wusste sie nicht, wie gut er Deutsch spricht und was sie einem Azubi im nullten Lehrjahr alles anvertrauen kann. Aber inzwischen sind sie ein gutes Team. Und der neue Kollege nimmt ihr schon vieles ab:
    "Für ihn hängt sehr viel da dran, dass er seine Ausbildung macht, und das merkt man auch. Ich quäle ihn zum Beispiel mit so etwas wie Eingangsstempel. Ich hab ihm das dann heute noch mal gesagt. Und da hat er gesagt: Ja, ich will das lernen, ich will das, ich will das. Dass wir als Deutsche sehr viel dokumentieren. Ich denke, ein deutscher/hiesiger Azubi geht da mehr drüber weg."
    Während die beiden sortieren, ordnen, stempeln und abheften, sitzt Annegret Ahlers in einem Besprechungsraum quer über den Gang. Normalerweise arbeitet die Leiterin des Finanz- und Rechnungswesens in einer anderen Zweigstelle, aber heute wollte sie mal wieder vorbeischauen bei Seydina Keita.
    "Mir ist aufgefallen, dass er schon immer sehr gute Laune hatte. Das stand für mich auch ein bisschen im Widerspruch, weil ich mir gedacht habe: Diese ganzen Geschichten, die man so hört über Flüchtlinge – und ich meine, er kommt nun mal ganz eindeutig aus Mali, also aus Afrika. Und ich habe an der Stelle auch gedacht: Wenn er mir das nicht erzählen will, dann muss ich das jetzt auch nicht nachfragen. Diese Randbedingungen, da kann ich mir vorstellen, dass das nicht einfach war. Aber das muss er mir nicht zwangsläufig erzählen."
    Trotzdem – auch ohne explizit darüber zu sprechen – hat die Ausbildungsleiterin ein anderes Verhältnis zu den Nachrichten über Flüchtlinge bekommen.
    "Ich sehe eben einfach am Beispiel Seydina: Da wird sozusagen aus einer Gruppe eine Person. Und insofern ist Seydina natürlich einer, der noch mal deutlich macht, dass es sich um Menschen handelt, die einzeln ihre Schicksale mit unseren verknüpfen. Und wir da was tun müssen."
    Annegret Ahlers ist sich sicher: Der Jugendliche aus Mali wird seine Ausbildung zum Kaufmann für Büromanagement abschließen. Seydina Keita selbst ist übrigens derselben Meinung. Pläne für die Zeit danach hat er noch nicht. Einen Traum allerdings schon: Er möchte seine Eltern wiedersehen. Sobald er verreisen darf, möchte er für einen Besuch in den Senegal fliegen.
    Ehrenamtlicher Deutsch-Unterricht
    Es ist Mittwochnachmittag – Zeit für die Deutsch-Nachhilfe. Eigentlich hätte Seydina frei, aber er macht Lern-Überstunden, um dem Berufsschulunterricht besser folgen zu können. Der 17-Jährige ist auf dem Weg ins Aus- und Fortbildungszentrum der Stadt, das ihn in das Programm für jugendliche Flüchtlinge aufgenommen hat. Die ehrenamtliche Deutsch-Lehrerin Irene Lücking wartet bereits auf ihn und zwei weitere angehende Kaufmänner für Büro-Management.
    "Nach den Pegida-Demonstrationen ist mir so schlecht geworden, da habe ich zu Hause gesessen und die Nachrichten gehört und habe gesagt: Das geht so nicht weiter. Ich kann hier nicht einfach so still sitzen und nichts tun. Ich habe noch ein wenig Kraft. Und die will ich dafür einsetzen."
    Irene Lücking ist Mitte 70 und beeindruckend jung geblieben. Jahrzehnte lang hat sie Deutsch als Fremdsprache unterrichtet. Aber die Nachhilfestunden mit den jugendlichen Flüchtlingen kann man damit nicht vergleichen, sagt sie.
    "Da muss ich sehr flexibel sein. Und wenn ich jetzt was vorbereite, kann es auch sein, dass nur einer aus der Gruppe kommt. Die anderen beiden haben einen Termin beim Arzt oder beim Jugendamt oder sonst wo. Und dann muss man mal so gucken, wie man damit so umgeht. Und was man dann als Nächstes macht."
    Die kulturellen Unterschiede musste sie erst mal akzeptieren lernen, sagt Irene Lücking. Aber sie haben sie auch neugierig gemacht. Inzwischen liest die Rentnerin Bücher über Mali und hört Musik von dort.
    - "Heute machen wir keinen Unterricht?"
    – "Klar machen wir Unterricht, aber hallo! Ihr seid gut."
    - "Heute ist Streik!"
    - "Heute streikt Ihr?"
    Seydina Keita und ein zweiter junger Mann aus Mali, außerdem ein Jugendlicher aus Gambia. Alle drei haben gute Laune und scherzen ein bisschen mit ihrer Lehrerin Irene Lücking. Die Gruppe trifft sich seit einem halben Jahr.
    "So, heute steht an, dass wir uns noch mal mit einigen Fehlern aus dem Diktat beschäftigen."
    Heute sind Endungen wie –heit, -keit und -ung dran. Gemeinsam überlegen sich die vier, mit welchen Wörtern sie die leeren Blätter füllen können. Es geht gut voran. Aber manchmal fällt es den Jugendlichen schon schwer, sich zu konzentrieren, sagt Irene Lücking. Einer von ihnen ist sogar schon mal eingeschlafen vor lauter Erschöpfung. Viel erzählen ihr die Schüler nicht. Aber ab und zu geht es doch um die persönlichen Geschichten von Seydina, Baba und Ibrahima. Dann erklären sie, dass sie nachts schlecht schlafen, dass ihnen der Appetit fehlt, dass sie überfordert sind von den vielen Erwartungen in Deutschland – von den alltäglichen kulturellen Unterschieden ganz zu schweigen.
    - "Zum Beispiel: alleine wohnen. Man macht alles alleine. In Afrika macht man das nicht. Du wohnst mit der ganzen Familie. Mama ist da, Papa ist da, die Mama macht alles für die ganze Family, Essen zum Beispiel und so. Aber hier: alles alleine, fast alles, das ist sehr, sehr, sehr, das ist anders."
    - "Hier wenn man spricht, man muss mit den Augen einen Kontakt halten. Bei uns wäre das respektlos. Solche Dinge."
    In Bremen, genauso wie in Hamburg oder Berlin, leben besonders viele unbegleitete minderjährige Flüchtlinge. Die meisten von ihnen kommen übers Mittelmeer nach Europa. 2013 waren es 200, 2014 schon doppelt so viele. Und in diesem Jahr wird ihre Zahl erneut steigen. Die Wohnheime in Bremen sind überbelegt, die Not-Unterkünfte sind knapp, die Sozialsenatorin hat erstmals Zelte aufstellen lassen. Es fehlt an Amtsvormündern und an Fachpersonal.
    Kleine Gruppe sorgt für Negativschlagzeilen
    Darüber hinaus macht eine kleine Gruppe sogenannter priorisierter Jugendlicher immer wieder Schlagzeilen. Es geht um rund 30 jugendliche Flüchtlinge, die Bremer Bürgern oder der Polizei wiederholt aufgefallen sind – etwa durch Diebstahl oder Drogendelikte. Etwa die Hälfte von ihnen sitzt in Jugendhaft oder lebt in therapeutischen Einrichtungen. Für die übrigen – nicht verurteilten - hat die Sozialbehörde im Herbst 2014 ein spezielles Betreuungsangebot eingerichtet, das inzwischen allerdings auch nicht mehr genug Plätze hat.
    Der Leiter, Lothar Kannenberg, ist ein ehemaliger Profi-Boxer. Zeitweilig hat er als Türsteher und Streetworker in Hessen gearbeitet. Sein Erziehungskonzept basiert unter anderem auf strengen Regeln und Sport. Den vereinbarten Interviewtermin hat Kannenberg nicht eingehalten. Ein Einblick in die Arbeit der sogenannten "Kannenberg-Akademie" war trotzdem möglich.
    Spritze, Löffel, Feuerzeug - Utensilien, die zum Heroinkonsum genutzt werden.
    Einige wenige Jugendliche fallen zum Beispiel durch Drogendelikte auf. (picture alliance / dpa / Marcus Simaitis)
    Ein Kleinbus. Auf der Fahrerbank zwei Betreuer der Kannenberg-Akademie. Dunkle Sportkleidung, "Respekt Coach" steht auf ihren T-Shirts. Verteilt auf die beiden Sitzbänke im Fond: vier Jugendliche, auf dem Weg zum Fitnessstudio. Dreimal die Woche haben die Jugendlichen Ausgang, dann laufen sie manchmal auch alleine herum, erzählt Farid – in Wirklichkeit heißt er anders.
    "Du hast Dienstag und Donnerstag und Samstag. Taschengeld. Du machst kleinen Stress, Du hast eine Woche kein Taschengeld."
    Die Verständigung auf Deutsch ist äußerst mühsam. Auf ein paar Fragen können die Jugendlichen antworten, aber es sind meist nur Vokabelbrocken. Mit den Betreuern geht es besser. Ali Taha, gerade am Steuer, ist als Kind mit seinen Eltern aus Syrien nach Deutschland gekommen. Mit den Jungs aus Marokko, Algerien oder Tunesien spricht er Arabisch – das können alle.
    "Bei denen ist das natürlich ein bisschen anders als bei mir, weil die halt ohne Familie eingereist sind und alleine sind im Ausland. Aber es ist halt sehr schwierig. Man muss halt auf die Jungs aufpassen, dass sie nicht auf die falsche Bahn geraten."
    Der Betreuer arbeitet seit knapp zwei Monaten mit den Jugendlichen; genauso wie der Kollege neben ihm, Tarek Lassoued aus Tunesien. Er wird die vier sogenannten "priorisierten" Jugendlichen ins Fitnessstudio begleiten.
    Sport als Betreuungskonzept
    Die vier Jugendlichen gehen drei- bis viermal die Woche zum Sport. Dabei können sie Energie und Frust loswerden, meint ihr Betreuer. Bei einem von ihnen funktioniert das Rezept heute aber schon nach fünf Minuten nicht mehr. Abdel hat sein Handtuch zu Hause vergessen. Und ohne darf er nicht trainieren, sagt die Mitarbeiterin des Studios. Der Betreuer hat angeboten, eines zu kaufen – aber da war Abdels Geduld schon zu Ende.
    "Er ist beleidigt, so Ehre, hat er. Bei denen geht es so schnell hoch. Ja, die sind bisschen anstrengend, aber wir haben alles unter Kontrolle. Sie sind schwierig. Haben auch Drogen genommen. Jetzt sind sie bei uns und sie sind sozusagen intensiv betreut."
    Konkret bedeutet das: Die Jugendlichen, die Tarek betreut, sind so schwierig, dass die Akademie Kanneberg ihre letzte Chance ist. Kein anderer Jungendhilfeträger in Bremen wollte mit ihnen arbeiten, Kannenberg hat sich angeboten – so jedenfalls erklärt es die Sozialbehörde.
    Wegen des Fastenmonats Ramadan fällt das Fitnesstraining heute etwas kürzer aus. Eine knappe Stunde probieren die Jugendlichen ein paar Geräte aus, Tarek gibt ab und zu Tipps – von Drill keine Spur. Mit diesem ursprünglichen Konzept konnte man bei diesen Jungs nicht landen, sagt Herbert Becker, der pädagogische Leiter der Kannenberg-Akademie in Bremen-Rekum, rund 30 Kilometer vom Zentrum entfernt. Die Jungs sind einfach abgehauen.
    "Wir haben den Auftrag, mit denen zu arbeiten. Wenn die aber gar nicht hier sind – wie will man da mit denen arbeiten?"
    Becker sitzt vor einem Backsteinhaus an einer Hauptstraße. Das Haus ist in die Jahre gekommen. Komfort gibt es hier keinen, stattdessen Möbel aus zweiter Hand und leider auch ein paar Mäuse. Ein anderes Gebäude konnte Bremen nicht bieten. Drinnen kocht das Team ein großes Abendessen für die Zeit nach Sonnenuntergang. Die meisten Mitarbeiter sind keine pädagogischen Fachkräfte.
    Selten gibt einer der Jugendlichen, die hier leben, einen Fehler zu. Sie erzählen ohnehin wenig von sich. Da ist Yilma, der gerade sein Zimmer aufräumt, keine Ausnahme.
    - "Machen sauber. Raum. Oder? Raum."
    - "Auf ihn sind wir stolz, er hat wirklich riesen Fortschritte gemacht."
    - "Jetzt gut. Wir machen alles. Gehen Sport, Sprachkurs, Schule. Andere, ich weiß nicht."
    - "Wunderbar."
    Sozialpädagoge kritisiert Bremer Vorgehensweise
    Frank Bettinger hat die sogenannte Lothar-Kannenberg-Akademie in Bremen-Rekum nie persönlich gesehen. Den Leiter kennt der Sozialpädagoge und Sozialwissenschaftler allerdings schon ein wenig. Er hält Kannenbergs Methode für ungeeignet, vor allem aber macht er der Bremer Politik einen Vorwurf. Denn die geht offenbar davon aus, dass ein Konzept für ganz unterschiedliche Jugendliche funktionieren kann. Ein Irrglaube, sagt der Vorsitzende des Bremer Instituts für Soziale Arbeit und Entwicklung. Und inzwischen habe sich ja auch gezeigt, dass es so nicht gehe. Schließlich ist schon die nächste Eskalationsstufe angedacht: eine sogenannte "intensiv-pädagogische Einrichtung plus" – eine Unterbringung, in der auffällige minderjährige Flüchtlinge bei Bedarf auch eingesperrt werden können.
    "Das große Ärgernis, gerade auch aus fachlicher Perspektive ist, dass es sich hierbei um eine Entscheidung handelte, die jegliche fachliche Expertise, das heißt, fachlich fundierte nachvollziehbare Einwände schlichtweg nicht zur Kenntnis genommen wurden. Jedenfalls wurde sie bei der Entscheidung, geschlossene Unterbringung hier in Bremen aufzubauen, schlichtweg nicht zur Kenntnis genommen, nicht zugrunde gelegt."
    Die Entscheidung des Senats war eine rein politische, meint Bettinger; noch dazu eine, die kurz vor der letzten Bürgerschaftswahl im Mai getroffen wurde; vermutlich, um Wählerstimmen von denjenigen zu gewinnen, die sich verunsichert fühlen durch die vielen Flüchtlinge in Bremen.
    Die Diskussion um eine geschlossene Einrichtung für sogenannte priorisierte minderjährige Flüchtlinge rückt auch diejenigen Jugendlichen in den Hintergrund, die unauffällig in Bremen leben. Das ist die überwiegende Mehrheit der rund 800 jungen Menschen. Seydina Keita, der 17-Jährige aus Mali, scheint sein neues Leben in der Hansestadt fest im Griff zu haben.
    Einmal pro Woche trifft er sich mit anderen jungen Muslimen, um Khassaid zu singen. Meistens kommen etwa zehn zusammen. Dann sitzen sie eine Stunde lang auf ihren Knien in einem kleinen Kellerraum im neuen Szeneviertel in der Bremer Neustadt. Vor ihnen kleine Holzgestelle, so ähnlich wie Miniaturzeitungsständer. Und darauf Bücher mit arabischen Schriftzeichen. Die jungen Männer tragen lange farbenfrohe Kittel, den Beilat, und wiegen sich im Takt vor und zurück.
    Als Seydina aus dem kleinen Kellerraum herauskommt, wirkt er gelöst; entspannt und zufrieden. Für ihn sind die Treffen am Samstag kein Extra-Termin, sondern eine angenehme Art von Flucht.
    "Das ist meine kleine Welt hier in Bremen. Von Montag bis Freitag Schule Betrieb. Wenn das zu viel ist. Wenn ich komme hierher, ich habe nicht mehr Stress. Ich fühle mich ganz, ganz gut. Das läuft."