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Flüchtlinge in der EU
"Wir brauchen nicht den 20. Masterplan"

Nach einem Besuch des Flüchtlingslagers Moria auf der griechischen Insel Lesbos plädiert die FDP-Politikerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger für pragmatische Lösungen auf EU-Ebene. Dem Vorschlag ihres Parteichefs Christian Lindner, Migranten in Nordafrika unterzubringen, erteilte sie im Dlf eine Absage.

Sabine Leutheusser-Schnarrenberger im Gespräch mit Sandra Schulz |
Ein junges Mädchen steht in einem provisorischen Lager neben dem Lager Moria auf Lesbos in Griechenland im Regen, aufgenommen im November 2019
FDP-Politikerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger berichtet von "erschütternde Eindrücken" aus dem Flüchtlingslager Moria (picture alliance/Angelos Tzortzinis/dpa)
Ursprünglich war das Flüchtlingslager Moria auf der griechischen Insel Lesbos für knapp 3.000 Menschen ausgerichtet. Derzeit leben dort jedoch rund 15.000 Geflüchtete. Und es könnten noch mehr werden, denn zuletzt stieg die Zahl der Migranten wieder, die die griechischen Inseln erreichen. Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, früher Justizministerin und stellvertretende Vorstandsvorsitzende der Friedrich-Naumann-Stiftung, hat sich ein Bild von der Situation in Lesbos gemacht.
"Erschütternde Eindrücke" in Moria
Sandra Schulz: Mit welchen Eindrücken kommen Sie zurück von Lesbos?
Sabine Leutheusser-Schnarrenberger: Ja, mit erschütternden Eindrücken, denn Sie haben es gerade schon in der Anmoderation gesagt: Es ist ein vollkommen überbelegtes Lager, ursprünglich in Moria für 3000 Menschen maximal angelegt. Es hat sich jetzt ein wildes Camp in den Oliven-Hainen darum herum entwickelt, wo in diesem wilden Camp bis zu 15.000 Menschen unter Plastikplanen, Hüllen leben unter wirklich katastrophalen hygienischen und medizinischen Bedingungen.
Menschen hinter einem Maschendrahtzaun auf der griechischen Insel Lesbos.
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Schulz: Lässt sich sagen, woran es am dringendsten dort jetzt fehlt?
Leutheusser-Schnarrenberger: Ganz dringend fehlt in jedem Fall eine vor Ort medizinische Versorgung. Das kann der UNHCR mit mal Medikamentenverteilung und so weiter gar nicht leisten. Da muss eine medizinische Station hin, außerhalb des ursprünglichen Camps für diese 15.000 Menschen mit mehreren tausend Kindern, Schwangeren und eben gerade Menschen, die auch schwächer sind und Gesundheitsbeeinträchtigungen schon haben.
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Schulz: Das ist eine belastende Situation für die Menschen in diesen Camps, eine belastende Situation aber natürlich auch für die Menschen, die auf Lesbos zuhause sind. Wie haben Sie dort das Miteinander erlebt?
Leutheusser-Schnarrenberger: Die Menschen auf Lesbos - es sind 85.000 Menschen ungefähr -, die haben schon generell eine aufgeschlossene Haltung gegenüber den Flüchtlingen, denn seit 2015 ist ja eine immer stärkere Anzahl von Menschen auf die Insel Lesbos gekommen. Aber es hat jetzt in den letzten Monaten ja doch schon zunehmend Spannungen gegeben. Wir haben das auch von den Lokalpolitikern gehört, dass die Einwohner in Lesbos doch sehen, dass zum Beispiel die Belastung der Infrastruktur mit Müll, wenn ungefähr 20.000 Menschen in einem Lager leben, doch fast unerträglich wird. Gerade aber auch das eine Krankenhaus in der Hauptstadt auf Lesbos überfüllt ist und dann auch Einwohner die Möglichkeit nicht mehr so haben, eine gesundheitliche Versorgung zu bekommen. Da staut sich ein bisschen was an. Von daher haben wir jetzt nicht eine generell feindliche Haltung gegenüber den Flüchtlingen auf der Insel. Aber ich denke, es ist auf allen Seiten eine Überforderung und eine Überlastung, Überbelastung da.
Aufnahmewillige EU-Staaten sollten sich zusammentun
Schulz: Wer hat diese Überforderung zu verantworten?
Leutheusser-Schnarrenberger: Gerade auch von den Verantwortlichen in Lesbos, Gouverneur, aber auch Bürgermeister, richtet sich der Ärger schon zunächst mal auf die griechische Regierung in Athen, dass sie irgendwo Lesbos nicht im Blick hat. Die fühlen sich dort überhaupt nicht unterstützt. Im Gegenteil: Die Infrastruktur ist wie gesagt überfordert. Und sie merken nicht, dass da aus Athen wirklich Unterstützung kommt. Die Verfahren ziehen sich bis jetzt ewig lange hin, so dass Menschen in unwürdigen Bedingungen teilweise bis zu Jahren auch ausharren, und das ist der erste Adressat. Auch von der Europäischen Union erwarten sie sich mehr. Aber insgesamt, denke ich, ist das schon die größere Frustration mit Blick auf das, was auch national machbar wäre, gerade mehr Flüchtlinge aufs Festland zu holen, wie das früher der Fall war.
Flüchtlinge im Aufnahmelager Moria auf der griechischen Insel Lesbos
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Schulz: Was genau sind die Erwartungen, wenn wir über die Europäische Union sprechen. Sie beschreiben jetzt die Wut und den Unmut, der sich gegen Athen richtet, aber wir sehen ja von Athen auch immer die Enttäuschung und den Unmut, den wir nach Brüssel geliefert bekommen.
Leutheusser-Schnarrenberger: Ja, und da ist ja auch etwas dran. Ich denke, bei allem, was auch die griechische Regierung mit Blick auf zügigere Verfahren, Abläufe und so weiter mehr machen kann, können sie ja nicht die Probleme für die Europäische Union alleine lösen. Das ist nun mal ein Ort, Griechenland mit den Inseln, wo viele Flüchtlinge ankommen. Von daher wollen sie da auch natürlich mehr Unterstützung, dass Flüchtlinge verteilt werden in der Europäischen Union, dass man dazu einen greifbaren Modus hat. Das ist ja bisher jedes Mal gescheitert. Deshalb bin ich der Meinung, da müssen sich die Staaten in der Europäischen Union zusammentun, die sagen, ja, wir sind bereit, eine bestimmte Anzahl von Flüchtlingen aufzunehmen.
Das hatte Herr Seehofer schon im letzten Jahr ja mal mit angeboten, im Zusammenhang mit Seenot-Rettungsmaßnahmen, und da darf man jetzt nicht auf das ganz große Konzept setzen in der Europäischen Union, sondern etwas, was auch konkret greift. Die Staaten, die wollen, die sollen Flüchtlinge aufnehmen. Andere müssen gesundheitliche Leistungen, finanzielle Leistungen, andere Dinge liefern. Man braucht was Pragmatisches, was greift, und nicht einen 20. Masterplan.
Nordafrikanische Staaten wären überfordert
Schulz: Das ist jetzt eine Forderung, auch eine Einsicht, die in der Tat in der Europäischen Union auch schon länger in der Welt ist. - Schauen wir noch mal auf den Vorschlag, den Ihr Parteichef gemacht hat, Christian Lindner. Der plädiert ja dafür, dass die Menschen in Nordafrika untergebracht werden sollen. Es soll eine Unterbringung mit menschenwürdigen Verhältnissen geschaffen werden. An welches Land oder an welche Länder ist denn da gedacht?
Leutheusser-Schnarrenberger: Wenn man an Nordafrika denkt, dann kann sich ja kein Mensch vorstellen, dass irgendwas in Libyen erfolgt. Das ist ja vollkommen ausgeschlossen. Wieweit vielleicht so was in Tunesien wäre, das sind alles Überlegungen, die man natürlich auch zurecht anstellt. Aber dann muss man auch mal konkret sehen: Das geht ja nur dann auch mit den Politikern vor Ort. Dann muss mal konkret darüber geredet werden: Was kann von der EU geleistet werden? Denn sonst überfordert das ja auch die Regierungen dort vor Ort, Aufnahmeeinrichtungen zu schaffen, die ja für zig tausende Menschen ausgerichtet sein müssen. Das ist ein Aspekt, über den man auch diskutieren muss, aber mit Sicherheit nicht einer, der das Flüchtlingsproblem löst.
Schulz: Helfen Sie uns, den Aspekt aber trotzdem noch genauer zu verstehen. Sie kommen jetzt gerade von Lesbos zurück. Sie haben uns die Lage geschildert auf einer griechischen Insel. Wir sprechen über das Hoheitsgebiet eines EU-Mitgliedslandes. Dort ist es bisher nicht gelungen, für menschenwürdige Verhältnisse zu sorgen. Wie soll das in Nordafrika dann klappen?
Leutheusser-Schnarrenberger: Ich kann mir das nicht vorstellen, gerade weil manche Staaten gar nicht dazu dort in der Lage sind. Das müsste ja wenn eine Einrichtung sein, die komplett entweder von den Vereinten Nationen, also UNHCR, oder komplett von der Europäischen Union betrieben würde. Aber ich kann mir das im Moment nicht vorstellen, wie das wirklich in größerem Umfang gelingen kann.
Schulz: Wer sagt es Christian Lindner?
Leutheusser-Schnarrenberger: Christian Lindner sieht ja auch die Situation. Ich war ja extra auch mit einem Bundestagsabgeordneten hier, mit dem Konstantin Kuhle, weil mit so persönlichen Eindrücken man dann auch weiter überlegen kann, wie man viel stärker an diesen Randgebieten der Europäischen Union versucht zu helfen. Und natürlich man muss eines sehen: Die Türkei spielt eine entscheidende Rolle. Alles das, was man auch mit der Türkei verhandeln kann, das muss man tun, auch wenn das einem nicht immer leicht fällt.
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