Niemand wisse, wie viele Flüchtlinge hier seien, ergänzte der Pro-Asyl-Geschäftsführer, der sich auf der Insel Lesbos aufhält. "Sie wollen registriert werden, um weiter zu reisen nach Athen". Aber auch das gehe nicht. "Sie müssen ausreisen können".
Burkhardt forderte ein sofortiges Hilfsprogramm, um das Überleben der Menschen zu sichern. Die Regierung in Athen sei in einer absurden Situation, sie habe kein Geld, um die Betroffenen zu versorgen. Ferner müssten die Flüchtlinge in anderen europäischen Staaten einen Asylantrag stellen dürfen.
Das Interview in voller Länge:
Christine Heuer: Griechische Rentner warten in Schlangen am Bankautomaten, um 120 Euro abheben zu können. In den Arztpraxen und Krankenhäusern werden Medikamente Mangelware. Dafür gibt es immer mehr öffentliche Suppenküchen.
Die Not der griechischen Bevölkerung wächst und sie wird wohl weiter wachsen, wenn sich die Politiker in der Griechenland-Krise nicht doch noch in letzter Minute einigen. Noch schlechter als den Griechen geht es in Griechenland zig Tausenden Syrern, Afghanen, Irakern oder Somaliern, den Flüchtlingen also, die in maroden Booten von Schleppern nach Südeuropa gebracht werden und die sich mittlerweile auch verstärkt auf dem Landweg aus Krieg und Terror in ihrer Heimat flüchten.
Ihre Zahl ist gerade in Griechenland in die Höhe geschnellt. Wie es diesen Menschen im Krisenland geht, darüber möchte ich jetzt mit Günter Burkhardt sprechen. Er ist Geschäftsführer der Flüchtlingsorganisation Pro Asyl und gerade selbst in Griechenland. Guten Morgen, Herr Burkhardt.
Günter Burkhardt: Guten Morgen!
Heuer: Wir erreichen Sie auf Lesbos. Wie viele Flüchtlinge sind denn dort im Moment und können Sie uns schildern, wie deren Alltag aussieht?
Burkhardt: Es weiß niemand, wie viele hier sind. 5.000, 10.000? Die Menschen kampieren am Hafen, schlafen auf dem nackten Boden. Es gibt von der Kommune ein eingerichtetes Zelt-Camp. Auch da weiß niemand, wie viele leben. Mir berichteten gestern Abend Flüchtlinge, dass sie nichts zu essen bekamen, und das Hauptproblem für sie ist, sie sitzen dort in der sengenden Hitze und warten. Sie haben keine Chance, einen Asylantrag zu stellen. Die Asylbehörde dort kann zehn Fälle pro Woche überhaupt aufnehmen.
Das andere ist: Sie wollen überhaupt mal registriert werden, um weiterreisen zu können nach Athen, wo es angeblich besser sein soll, was aber auch nicht der Fall ist. Die Flüchtlinge warten und ihnen geht so langsam das Geld aus.
"Europa lässt die Flüchtlinge im Stich"
Heuer: Das Geld und was noch, Herr Burkhardt? Woran mangelt es am meisten? Was brauchen die Menschen dort am dringendsten?
Burkhardt: An allem. Zum einen müssen jetzt deutsche Entwicklungshilfe-Organisationen, Katastrophen-Hilfsorganisationen, um präzise zu sein, hier herkommen, die Menschen mit dem nötigsten versorgen. Das Zweite ist: Sie müssen ausreisen können aus Griechenland, weil in Griechenland können nicht 70, 80.000 Menschen überhaupt aufgenommen worden, Asylanträge bearbeitet werden. Von daher ist es lächerlich, wenn ich jetzt höre, dass Deutschland 9000 innerhalb von zwei Jahren aufnehmen will. 4.5000 - das ist völlig ungenügend. Europa drückt sich herum und lässt die Flüchtlinge völlig im Stich, und hier zeichnet sich eine Katastrophe ab.
Heuer: Wer hilft diesen Menschen in ihrer akuten Situation?
Burkhardt: Es gibt zum Teil eine großartige Solidarität aus der Bevölkerung. Auf der Insel Kos, wo wir vorher waren, organisieren 50 Ehrenamtler, indem sie Nahrungsmittel von den Hotels sammeln, das nackte Überleben. Aber auch dort hungern Menschen.
Hier auf Lesbos gibt es einige Anwälte, Dolmetscher, die Pro Asyl finanziert. Die können aber an der Stelle auch nicht wirklich diese Katastrophe lindern, ist auch nicht ihre Aufgabe.
Hier auf Lesbos gibt es einige Anwälte, Dolmetscher, die Pro Asyl finanziert. Die können aber an der Stelle auch nicht wirklich diese Katastrophe lindern, ist auch nicht ihre Aufgabe.
Wir konzentrieren uns auf den Rechtsschutz, auf die Menschenrechtsverletzungen, auf die besonders Schutzbedürftigen, die zum Teil Verwandte in Deutschland haben und nicht weg kommen.
Es gibt hier keine staatliche Struktur und deswegen ist es für mich unerträglich zu hören, wie sich Europa eine abstrakte Debatte um Quoten leistet, aber de facto seit Wochen und Monaten nichts tut.
Heuer: Inwiefern verschärft denn die Wirtschafts- und Finanzkrise in Griechenland die Situation der Flüchtlinge? Die wäre ja auch ohne das schon schlimm genug.
Burkhardt: Zum einen ist es so, dass die Griechen nie vom Staat her willens waren, eine Struktur aufzubauen. Jetzt fehlt ihnen noch das Geld. Und die Flüchtlinge selbst bekommen ihr Geld über Western Union. Das heißt, sie reisen, zahlen viel Geld an Schlepper, nehmen natürlich nicht das Ganze Bargeld mit, um nach Europa zu kommen. Nur hier kommen sie nicht an ihr Geld heran. Das soll sich angeblich ändern, aber jeden Tag, wo sie sich selbst versorgen - sie müssen ja auch Fähr-Tickets, mit denen sie weiter könnten, zahlen -, schrumpft das Geld zusammen und wir werden erleben, dass Tausende von Syrern, Afghanen, Eritreern, viele mit Verwandten in Deutschland, dann irgendwann in Athen stranden und dann zu Fuß weiterlaufen über den Balkan, wo die Situation ähnlich horrorhaft ist, und Europa schaut zu.
Unsere Innenminister schauen zu und legen eine abstrakte Quotendebatte an den Tag, ohne zu handeln, und das seit Wochen.
Unsere Innenminister schauen zu und legen eine abstrakte Quotendebatte an den Tag, ohne zu handeln, und das seit Wochen.
"Europa muss jetzt handeln"
Heuer: Wir reden gleich über die EU. Eine Frage würde mich aber jetzt noch interessieren, was Griechenland selber betrifft. Die Regierung dort, tut die genug, um zu helfen, oder schaut die auch weg?
Burkhardt: Die Regierung ist zum Teil in einer absurden Situation. Was in Nordgriechenland existiert sind Gefängnisanstalten, wo Menschen zusammengepfercht werden. Die wurden von der Europäischen Union finanziert. Man darf sie gar nicht öffnen.
Die griechische Regierung hat im Moment kein Geld, um Flüchtlinge zu versorgen. UNHCR ist dabei, einen Hilfsappell auszurufen, der knapp unter der Situation in Syrien liegt.
Die griechische Regierung hat im Moment kein Geld, um Flüchtlinge zu versorgen. UNHCR ist dabei, einen Hilfsappell auszurufen, der knapp unter der Situation in Syrien liegt.
Wir reden von der Emergency-Stufe II. Syrien ist Emergency-Stufe III. Das heißt, die UN vor Ort sieht dies auch so, dass die Situation sich zuspitzt. Europa muss jetzt handeln.
"Es ist absurd, was sich Europas Innenminister vorstellt"
Heuer: Was genau erwarten Sie von Europa?
Burkhardt: Ein sofortiges Hilfsprogramm, dass das Technische Hilfswerk hier herkommt, dass man Suppenküchen aufstellt, dass man das Überleben der Menschen erst mal sichert. Und das Zweite ist: In Griechenland können nicht Zehntausende von Afghanen und Syrern und anderen ein Asylverfahren durchlaufen. Es ist absurd, was sich die europäischen Innenminister vorstellen.
Heuer: Und die streiten sich, Herr Burkhardt, ja immer noch über die Flüchtlingsquoten und werden sich nicht einig. Die haben sich gerade gestern mal wieder vertagt auf den 20. Juli.
Burkhardt: Ja, das geht seit Juni so. Wir hatten bereits Mitte Juni gewarnt, dass die Situation sich zuspitzt. Die Menschen wollen doch berechtigterweise nach Deutschland.
Wir treffen eine junge Afghanin, die in Deutschland lebt, deren Vater jetzt in Lesbos hier in so einem Camp haust. Legal kann er nicht nach Deutschland kommen.
Wir treffen eine junge Afghanin, die in Deutschland lebt, deren Vater jetzt in Lesbos hier in so einem Camp haust. Legal kann er nicht nach Deutschland kommen.
"Flüchtlinge können Gewinn für ein Land sein"
Heuer: Andererseits ist Deutschland innerhalb der EU ja einigermaßen engagiert bei der Aufnahme von Flüchtlingen. Ist es denn eigentlich richtig, dass wir im Streit dann mit den anderen, die nicht so großzügig sind, sagen, na gut, Schwamm drüber, wir nehmen jetzt alle? Ist das in Ordnung?
Burkhardt: Nein. Aber man muss auch sehen: Wir profitieren von den Flüchtlingen, weil es sind oft junge Menschen, Menschen, die ihr Leben hier in die eigenen Hände nehmen. Und wir wollen doch nicht, dass sie irgendwo in Osteuropa versorgt leben, alimentiert werden.
Wenn Afghanen, Syrer, Eritreer hier herkommen, treffen auf ihre Bekannten, Angehörigen, Communities, dann kann Integration gelingen. Die Menschen wollen sich integrieren, werden sich integrieren.
Deswegen wenn man nur über eine Verteilquote in Europa redet, dann sieht man nicht die Realität, dass nämlich Flüchtlinge auch ein Gewinn für ein Land sein können.
Wenn Afghanen, Syrer, Eritreer hier herkommen, treffen auf ihre Bekannten, Angehörigen, Communities, dann kann Integration gelingen. Die Menschen wollen sich integrieren, werden sich integrieren.
Deswegen wenn man nur über eine Verteilquote in Europa redet, dann sieht man nicht die Realität, dass nämlich Flüchtlinge auch ein Gewinn für ein Land sein können.
Heuer: Das erkennen die Deutschen ja offenbar immer weniger, denn dieselben Menschen, die Zuflucht suchen und in Asylbewerberheimen an manchen Orten in Deutschland unterkommen, denen wird dann vielleicht das Dach über dem Kopf angezündet.
Burkhardt: Es gibt zum Teil solche Entwicklungen, aber überwiegend gibt es in Deutschland eine großartige Hilfsbereitschaft der Bevölkerung. Das ist der Unterschied zu den 90er-Jahren. Das muss ich auch sagen. Auch unsere Politiker der Bundesregierung sind nicht Scharfmacher, Hetzer, wie wir es auch früher erlebt hatten. Aber es gibt einen Rassismus und einen organisierten Rechtsextremismus, wo ja eine Partei gerade sich wandelt und diesen Flügel öffnet, wo massiv Stimmung geschürt wird, und wer Stimmung schürt, darf sich nicht wundern, dass dann auch irgendwann die Flüchtlingsunterkünfte brennen.
Heuer: Dazu gehört dann vielleicht auch das Wort von Joachim Gauck, dem Bundespräsidenten gestern, der die Angriffe auf Flüchtlingsheime widerwärtig genannt hat. - Günter Burkhardt war das, der Geschäftsführer von Pro Asyl. Er hält sich zurzeit auf Lesbos auf. Herr Burkhardt, vielen Dank für das Gespräch und Ihre Eindrücke.
Burkhardt: Gerne!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.