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Flüchtlinge in Italien
Die unbekannten Helden

Der Afghane Mansur Nadri lebt seit zwei Jahren in Rom und macht als "Peacekeeper" in einem kirchlichen Heim Neuankömmlingen Mut, der Senegalese Samba Cissé ist in einem der großen Erstaufnahmelager gestrandet und kämpft um einen Rest Hoffnung - zwei von 200.000 Flüchtlingsschicksalen in Italien.

Von Tilo Mahn |
    Ein Foto der Hilfsorganisation SOS Mediterranee zeigt Flüchtlinge in einem sinkenden Schlauchboot vor Lampedusa.
    Ein Foto der Hilfsorganisation SOS Mediterranee zeigt Flüchtlinge, die später nach Lampedusa gebracht wurden. (picture alliance / dpa / SOS Mediterranee )
    Zwischen Wortfetzen aus Paschtu, Farsi, Englisch und Suaheli knallt der weiße Kickerball mit lautem Klackern an die Bande. Jedes Mal, wenn eine der kleinen Spielfiguren den Ball besonders fest trifft, wird das Geschrei lauter.
    Mansur Nadri stellt sich an den Kickertisch und gibt Anweisungen: Die leeren Kaffeebecher müssen zurück in die Küche, die Musikinstrumente zurück ins Zimmer. Niemand reagiert. Mansur greift ins Spielfeld und nimmt den Ball. Die Blicke sind jetzt auf ihn gerichtet.
    Gesichter mit heller und dunkler Hautfarbe, mit und ohne Bart, leuchtende Augen und verschlossene Blicke. Dann erkennen die Männer Mansur und lächeln. Denn er ist verantwortlich, als so genannter Peacekeeper im Joel Nafuma Refugee Center - mitten in Rom.
    Die St. Paul's Within the Walls Kirche in Rom. Das Joel Nafuma Refugee Center liegt im Kellergewölbe der Kirche an der Via Nazionale.
    Die St. Paul's Within the Walls Kirche in Rom. Das Joel Nafuma Refugee Center liegt im Kellergewölbe der Kirche an der Via Nazionale. (Deutschlandradio / Tilo Mahn)
    "Wenn Menschen zum ersten Mal hier zu uns kommen, erklären wir ihnen erst einmal, dass diese Einrichtung allen Flüchtlingen offensteht, ohne Einschränkung. Damit müssen sich auch alle abfinden. Wir informieren die Ankommenden und weisen sie darauf hin, dass ein friedliches Miteinander an erster Stelle steht. Man muss hier jeden respektieren, unabhängig von Herkunft und Religion. Für uns zählt nicht, wer Christ, Moslem, Jude ist, Hindu-gläubig, buddhistisch, was auch immer. Das Wichtigste ist Respekt."
    Das Joel Nafuma Refugee Center in Rom liegt im Kellergewölbe einer Kirche an der Via Nazionale, nicht weit entfernt von der Oper. "St. Paul's Episcopal Church within the Walls" steht am Schild neben dem Tor. Die Kirche ist Teil der Anglikanischen Kirchengemeinschaft und finanziert sich über die Heimatkirchen in Großbritannien und über Spenden.
    Das Eingangsschild zur St. Paul's Within the Walls Kirche.
    Das Eingangsschild zur St. Paul's Within the Walls Kirche. (Deutschlandradio / Tilo Mahn)
    Über eine enge Wendeltreppe steigt man hinab in den Raum, in dem sich Flüchtlinge aus aller Welt treffen. Um zu frühstücken, um Gleichgesinnte zu treffen, um Kleidung und Zuspruch zu bekommen oder um an Kursen teilzunehmen, die das Leben in der Fremde erleichtern sollen. Denn das Joel Nafuma Refugee Center will Hilfe zur Selbsthilfe bieten. Den Flüchtlingen einen Weg zeigen, wie sie sich in die Gesellschaft integrieren können.
    Hürden des Alltags
    Vor gut zweieinhalb Jahren ist auch Mansur Nadri das erste Mal die Treppe hinunter gestiegen, um sich im Büro des Teams zu melden. Er hatte einen Tipp von befreundeten Afghanen bekommen.
    "Als ich nach Italien gekommen bin, ging es mir so wie allen Flüchtlingen. Wenn man in ein vollkommen neues Land kommt, ist es sehr schwer, sich zurechtzufinden. Die richtigen Anlaufstellen finden, ohne die Sprache oder Leute zu kennen, sich bei Behörden vorstellen und mit unzähligen Leuten sprechen und immer wieder befragt werden. Das alles zu verstehen und damit klarzukommen, braucht Zeit."
    Talibankämpfer hatten Mansur im eigenen Land verfolgt. Er galt als Kollaborateur der Amerikaner, weil er ihnen bei Logistikaufgaben in Afghanistan geholfen hatte. Mehrmals war er deshalb bedroht worden - und ist irgendwann abgehauen. In Kabul ist Mansur in ein Flugzeug gestiegen. In Rom ist er ausgestiegen, ohne Einreisegenehmigung. Noch am Flughafen hat er seinen Antrag auf Asyl gestellt, als politisch Verfolgter in Afghanistan. Zweieinhalb Tage musste er am Flughafen verbringen. Dann ist sein Antrag bewilligt worden.
    Die notwendige Geduld
    Das war 2014, Mansur war 24 und stand am Anfang eines neuen Lebens in Rom. Andere müssen weit mehr Geduld haben. Das erlebt Mansur in seiner täglichen Arbeit.
    Die notwendige Geduld will sein Chef Piero Rijtano im Joel Nafuma Refugee Center zuallererst vermitteln. Er ist Sozialarbeiter und Leiter des Zentrums. Sein kleines internationales Team aus vier Festangestellten und vielen Freiwilligen arbeitet daran, nicht nur Essen und Kleidung zu geben, sondern eine Perspektive im Alltag aufzuzeigen. Piero Rijtano kennt seine katholische Heimatstadt Rom gut. Er will der Situation der Flüchtlinge praktisch und pragmatisch begegnen.
    "In Rom gibt es schon viele soziale Einrichtungen. Eigentlich verhungert hier niemand so ohne weiteres. Weil sich kirchliche und staatliche Einrichtungen schon auf die Situation eingestellt haben. Deswegen ist es uns umso wichtiger, nicht nur Essen und Schuhe zu geben, sondern vielmehr Hilfe und Anleitung, um einen Job zu bekommen."
    "Für mich sind Menschen, die zu Fuß die Sahara durchquert haben, Helden"
    Sprachkurse, Jobtrainings, Computerkurse, ein Gebetsraum mit Teppichen, eine Nische, in der sich die Besucher gegenseitig die Haare schneiden können im improvisierten Salon mit Bildern und Fotos an der Wand. Hier im kirchlichen Kellergewölbe sollen Flüchtlinge erste Schritte in Europa und Italien kennenlernen, um selbständig zu werden. Vor allem viele Westafrikaner und Afghanen kommen neu in das Land und sehen sich ungeahnter Bürokratie und neuen Regeln ausgesetzt. Einige haben dann schon ihr Asylverfahren durchlaufen, andere tauchen einfach so auf.
    "Schwierig ist vor allem, dass die meisten Flüchtlinge, die zu uns kommen, bereits in einer Erstaufnahmeeinrichtung waren. Häufig für zwei Jahre oder länger ohne einen Job. Also müssen sie sich danach immer noch mit alltäglichen Problemen rumschlagen: Etwas zu essen finden und Kleidung bekommen. Wir versuchen hier vor allem, den Menschen Selbstvertrauen zurückzugeben. Für mich sind Menschen, die zu Fuß die Sahara durchquert haben, Helden. Aber wenn man dann hier ankommt, ist der Schock natürlich trotzdem riesig. Auch, weil viele der Flüchtlinge ganz falsche Vorstellungen haben: Aus Filmen haben sie das Bild, dass hier jeder in einer Villa mit Swimmingpool lebt."
    Gefahr für Leib und Leben
    Viele Flüchtlinge, die über das Mittelmeer nach Italien gekommen sind, stranden später in einem Auffanglager. Nördlich von Rom, in Castelnuovo di Porto, steht eines der größten Erstaufnahmelager Italiens - betrieben von der italienischen Sozialgenossenschaft Auxilium. In den grauen, lang gezogenen Wohnblöcken kommen jedes Jahr mehrere hundert Flüchtlinge an. Fast 1000 Menschen leben dort gemeinsam. Wie viele andere ist Samba Cissé per Bus aus Sizilien, über die Autobahn und dann immer kleiner werdende, kurvige Landstraßen bis an das Tor vor dem asphaltierten Vorplatz zwischen Industrieanlagen gebracht worden.
    Ein Erstaufnahmelager nördlich von Rom, in Castelnuovo di Porto. Es wird betrieben von der italienischen Sozialgenossenschaft Auxilium.
    Ein Erstaufnahmelager nördlich von Rom, in Castelnuovo di Porto. (Deutschlandradio / Tilo Mahn)
    Hier im Lager ist für Samba Cissé der Weg nach Europa abgebrochen, sein Traum zu einem Geduldsspiel geworden. Seine Geschichte startet in seiner Heimat, im Senegal. Von dort aus hat er sich auf den Weg Richtung Mittelmeer nach Libyen gemacht.
    "Ich war eigentlich noch gar nicht bereit, nach Europa zu kommen. Das war nicht mein ursprünglicher Gedanke. Ich saß in Libyen fest, hatte gearbeitet und auf einmal ein großes Problem. In diesem Land herrscht wirklich Chaos, da hilft auch kein europäisches Bemühen. Jeden Tag ist dein Leben in Gefahr, egal wo. Wenn Du raus gehst, nimmst Du immer in Kauf, getötet zu werden. Oder sie nehmen dich aus, klauen dein Geld. Wenn die Schlepper dort wissen, dass Du arbeitest, nehmen sie Dir alles weg. Leicht verschwinden dort Leute, die plötzlich ganz einfach vom Erdboden verschluckt sind.
    Samba saß über drei Monate lang im Gefängnis in Libyen. Die Zeit dort hat ihn mürbe gemacht. In Libyen ist der Schmuggel ein gutes Geschäft für Milizen, Ölarbeiter, korrupte Polizisten und Grenzschützer. Für Waren und für Menschen. Staatliche Kontrolle gibt es nicht. Irgendwann wollte Samba nur noch weg. Egal wohin.
    Viel Hoffnung im kleinen Gepäck
    Solche Geschichten gibt es im Auxilium-Lager zuhauf. Akkram Zubaydi leitet seit knapp zwei Jahren das Lager. Er selbst stammt aus Palästina und lebt in Rom. Er kennt viele Geschichten der Ankommenden - wenn sie denn erzählen wollen. Reagieren muss er so, wie es sein Job vorsieht.
    "Am Ende entscheidet die Kommission. Darauf haben wir gar keinen Einfluss. Die Kommission setzt sich aus Richtern zusammen, die die Situation in den Herkunftsländern kennen. Was wir hier machen können, ist also höchstens das Prozedere zu erklären, damit sich jeder vorbereiten kann."
    Samba hatte im Senegal studiert und gearbeitet. Zusammen mit seinem Bruder hatte er ein kleines Logistikgeschäft aufgebaut. Bis das Geld ausging und alles zusammenbrach. Über Jahre hinweg konnte sich Samba nie das Leben leisten, das er vor Augen hatte. Also hat er sich mit 22 Jahren auf den Weg gemacht. Um woanders vorankommen, weitere Abschlüsse zu machen und eine richtige Arbeit zu finden. Ohne genauen Plan, mit viel Hoffnung im kleinen Gepäck.
    Mit einem Freund hat er sich bis nach Libyen durchgeschlagen. Dort hat er zunächst erfahren, wie Schlepper und Banden das kaputte Land ausnutzen, um möglichst viel Geld zu machen. Samba wollte weg aus dem Kampf zwischen Warlords und Schlepperbanden.
    "Es war wirklich vollkommenes Chaos. Ich kann das nicht anders sagen. Wir sind einfach los, wir hatten nichts mehr bei uns. Wir kannten weder Richtung noch Ziel. Man fährt einfach los mit einem winzigen Boot. Wenn man sich vorstellt, dass der Sprit ausgeht oder das Boot ein Leck bekommt, wird einem klar: Was kann man da noch machen? Wir wären einfach gestorben. So eine Überfahrt ist Tod oder Leben."
    Samba hat überlebt. Dafür ist er dankbar. Seinen ersten Asylantrag hatte die zuständige Territorialkommission vor über einem Jahr abgelehnt. Denn er gilt nicht als politisch verfolgt. Mittlerweile hat er seinen zweiten Asylantrag gestellt, um darzulegen, dass er daheim im Senegal zugrunde gehen würde. Dafür ist er noch einmal mit dem Bus zur zuständigen Questura nach Rom gefahren. Um das Standardformular für die Zuerkennung des Flüchtlingsstatus gemäß der Genfer Konvention auszufüllen.
    Angewiesen auf Hilfe
    Seit knapp zwei Jahren lebt Samba jetzt im Auxilium-Lager. Während der langen Tage versuchen Akkram Zubaydi und seine Mitarbeiter den Bewohnern einen Hauch von Alltag zu bieten.
    "Die Bewohner dieses Lagers sind freie Menschen. Diese Lager in Italien sollten nicht als Gefängnis gesehen werden. Bei uns gibt es auch die Möglichkeit, außerhalb des Lagers tätig zu werden: mit Gärtnerarbeiten, beim Sport und bei kleinen Spielen oder mit Kunst- und Malangeboten."
    Wer als Flüchtling in Rom ankommt, kann schnell auf der Straße enden. An zentralen Plätzen und rund um den Hauptbahnhof treffen sich kleine Gruppen von Afghanen, Eritreern oder Sudanesen. Viele von ihnen stehen den Nachmittag über hier und betteln. Abends gehen sie zur Caritas, um Essen zu bekommen.
    Mamadou Sankaré kennt viele dieser Anlaufstellen in Rom. Er stammt aus Gambia. Eine wirkliche Perspektive hat er erst im Joel Nafuma Refugee Center gefunden. Seit sein Asylantrag bewilligt worden ist, arbeitet er dort als Kollege von Mansur Nadri.
    "Ich kenne diese Einrichtung hier schon seit 2014 ziemlich gut. Nach einiger Zeit habe ich auch das Team dahinter immer besser kennengelernt. Nach und nach habe ich einen Eindruck von der Arbeit und allen Leuten bekommen, die hier Flüchtlingen helfen. Damals war ich noch nicht Teil des Teams, aber ich fand das toll. Ich ging noch zur Schule und habe hier weiter Englisch und Italienisch gelernt."
    Auch Mamadou Sankaré ist 2014 über Sizilien nach Rom gekommen.
    Musik zur Ablenkung
    Bei seiner Arbeit im Joel Nafuma Refugee Center spricht er Englisch, Somali, Mandinka, Bambara, manchmal Italienisch. Wenn morgens das große Räumen beginnt, ist er immer schon da. Er kehrt Haare zusammen vor dem Spiegel des improvisierten Friseursalons oder ordnet die Jeans und Hemden, die als Spende abgegeben wurden.
    Jeden Morgen um 8 Uhr 30 geht es los. Im kleinen Nebenraum stapeln sich Kisten, Jacken und Schuhe. Fast täglich kommen neue Sachspenden an. Vor der Frühstücksausgabe müssen Mamadou und Mansur alles geordnet und vorbereitet haben. Dann, wenn sich die lange Schlange vor der offenen Theke bildet und aus der Küche Plastikbecher mit heißen Getränken und Brote gereicht werden. Zu den Hauptzeiten sind alle Mitarbeiter des Centers gleichzeitig im Einsatz.
    Im Joel Nafuma Refugee Center gibt auch einen eigenen Moscheeraum zum Beten. Bunte Gebetsteppiche liegen im Raum verteilt. Nur wenige der Teppiche sind am Morgen besetzt. Stattdessen musizieren Christen, Sunniten und Schiiten im Raum nebenan gemeinsam, um sich abzulenken.
    Durch die Tür dringen teils schiefe Klänge von Gitarren, Xylophon und Rasseln. Dazwischen Stimmen mit italienischen und englischen Wortfetzen. Ehrenamtliche Lehrer unterrichten kleine Gruppen in provisorischen Klassenzimmern mit Flipcharts und selbst gebastelten Wörterkarten. Fast jeden Tag blicken den Lehrern neue Gesichter entgegen. Viele der Schüler sitzen zappelig auf den kleinen Stühlen, rufen dazwischen. Stress steht ihnen in den Augen.
    "Niemand verlässt gerne einfach so sein Land"
    Mansur Nadri wollte eigentlich weiterziehen nach Belgien zum Arbeiten. Doch er hat dort keine Arbeitserlaubnis bekommen. Mit seiner Familie, vor allem seinem Vater, ist er fast täglich in Kontakt. Sein Vater wollte erst nicht glauben, dass Fremde seinen Sohn im eigenen Land verfolgt hatten. Mansur Nadri musste seinen Vater beknien, dass er fliehen dürfe. Irgendwann hat der eingewilligt. Die Angst, seinen Sohn ganz zu verlieren, war zu groß.
    "Ich wollte ursprünglich nie mein Land verlassen, mal so eben alles aufgeben. Denn das ist der Ort, an dem ich aufgewachsen und zur Schule gegangen bin. Meine gesamte Familie war dort. Ich hatte Arbeit, ziemlich gute sogar und war ziemlich zufrieden mit meinem Leben. Niemand verlässt gerne aus freien Stücken einfach so sein Land."
    Nur wenige im Joel Nafuma Refugee Center haben wie Mansur Nadri einen Weg gefunden, sich in Rom ein neues Leben aufzubauen. Viele der Flüchtlinge sind traumatisiert von schrecklichen Erlebnissen auf der Flucht oder im fremden Ausland. Mansur spricht mit ihnen, erzählt seine eigene Geschichte, um Vertrauen zu stiften. Sein Chef, Piero Rijtano, der einzige Italiener im Team, will Flüchtlinge nicht als einheitliche Kategorie sehen. Er ist überzeugt davon, dass es hilft, die individuelle Geschichte jedes Einzelnen zu kennen.
    "Wenn ich mir vorstelle, aus welchen Gründen auch immer, ich müsste einfach so aus Italien weggehen und ich finde mich plötzlich mitten in einem Stamm der Massai in Afrika wieder – weil das die einzige Gemeinschaft ist, die mir eine Chance zum Überleben bietet: Natürlich könnte ich von den Eingeborenen lernen, wie ich erfolgreich jagen gehe und auf was es ankommt. Aber das werde ich so schnell nicht schaffen, ich würde verhungern. Es gibt nicht nur unsere entwickelte Gesellschaft als einzige Realität. Flüchtlinge aus anderen Ländern hatten vorher ein Leben, das sich sehr von unserem unterscheidet."
    Der Philosoph braucht Geduld
    Die Erfahrung musste auch Samba Cissé während seiner langen Wartezeit im Lager in Castelnuovo di Porto machen. Zusammen mit anderen Afrikanern sitzt er im Aufenthaltsraum neben der Kantine und tippt auf seinem Handy herum. Vor ihm auf dem Tisch liegt aufgeschlagen sein Italienisch-Wörterbuch. Samba hebt den Kopf und blickt durch das Fenster nach draußen: auf den asphaltierten Vorplatz vor hügeliger Landschaft und einer Lagerhalle auf der anderen Seite der Straße bis zum Zaun, der als provisorische Wäscheleine dient.
    "Man kann im Leben nie zu hundert Prozent zufrieden sein. Auch in meinem Heimatland, im Senegal, war ich nie ganz zufrieden. Sonst hätte ich es ja auch nicht verlassen. Und jetzt, da ich in einem Land mit einer ganz anderen Gesellschaft, einer anderen Lebensweise und Idee von Integration bin, ist es natürlich nicht leicht. Wenn man mit dem Wunsch nach Integration und einem neuen Leben in ein fremdes Land kommt, ist das immer kompliziert."
    Samba hat verstanden, dass er Geduld haben muss. Er diskutiert viel mit den Mitarbeitern über Rechte und Asyl. Im Lager nennen sie ihn den Philosophen. Genau wie er hatten viele Flüchtlinge anfangs andere Erwartungen und Ziele als sie nach Italien gekommen sind. Hier sind sie in Sicherheit und mit dem Nötigsten versorgt.
    Doch sie warten darauf, dass sie ein echter Teil der Gesellschaft und zu Mitbürgern werden können: um eines Tages Unterkunft und Arbeit zu haben, um selbst anderen helfen zu können - so wie Mansur Nadri, der zwanzig Kilometer südlich im Kellergewölbe der Kirche fast täglich seine Geschichte erzählt. Damit andere sehen, dass sich die Geduld lohnt.