Kobler betonte, Libyen sei kein funktionierender Staat. Es gebe keine starke Regierung, keine Polizei, keine Armee. Er ergänzte, die Situation in den normalen Flüchtlingslagern spotte jeder Beschreibung. Menschen müssten in Schichten und im Stehen schlafen, die sanitären Bedingungen seien schlimm. Kobler mahnte, es müsse schnell gehandelt werden.
Noch dramatischer sei es in Camps, die von Menschenhändlern betrieben würden. Die UNO habe dort keinen Zugang. Es gebe aber Berichte, dass Menschen erschossen würden, wenn sie aus der Reihe tanzten.
Den Vorstoß von Bundesinnenminister Thomas de Maizière, im Mittelmeer gerettete Flüchtlinge nach Libyen zu bringen, lehnte Kobler vehement ab. Das sei derzeit undenkbar.
Das Interview in voller Länge:
Dirk-Oliver Heckmann: Die Bilder von gekenterten Schiffen, sie sind uns allen noch gut in Erinnerung, von ertrunkenen Flüchtlingen im Mittelmeer ebenfalls. Gestern meldete die Hilfsorganisation Roter Halbmond, vor der Küste Libyens seien über 70 Leichen gefunden worden, die an Land gespült wurden.
Martin Kobler ist UNO-Koordinator für Libyen. Ihn erreichen wir in der tunesischen Hauptstadt Tunis. Schönen guten Morgen, Herr Kobler.
"Das Sterben im Mittelmeer hat nie aufgehört"
Martin Kobler: Guten Morgen, Herr Heckmann.
Heckmann: Herr Kobler, geht es wieder los, das Sterben im Mittelmeer?
Kobler: Das Sterben im Mittelmeer hat nie aufgehört. Wir haben in diesem Jahr bereits 300 Tote, über 300 Tote. Jetzt kommen die 74 dazu. Das sind Tragödien, die sich auf dem Mittelmeer abspielen, und deswegen muss ganz schnell Abhilfe geschaffen werden.
"Es sind wirtschaftliche Nöte, die diese Menschen in die Flucht treiben"
Heckmann: Was sind das für Leute, die sich da auf den Weg machen? Sind das vor allem Flüchtlinge aus anderen Teilen Afrikas? UNICEF hat ja gestern erst eine riesige Hungersnot gemeldet.
Kobler: Ich war gestern in Tripolis in einem Flüchtlingslager von ungefähr Tausend, und ich frage die Menschen natürlich dort – das sind Afrikaner, das sind Eritreer, Somalis, Nigerianer, von Niger, südlich von Libyen -, warum kommen sie denn und machen diesen wirklich gefährlichen Weg und setzen sich dem Risiko aus zu ertrinken, und es sind hauptsächlich wirtschaftliche Nöte, zum Teil natürlich auch politische Verfolgung, aber es sind wirtschaftliche Nöte, die diese Menschen in die Flucht treiben. Die sagen, wir haben kein wirtschaftliches Auskommen. Da sind Waisen dabei, ich habe 16-, 14jährige gestern wieder gesehen, die ihre Eltern verloren haben auf der Reise, auf der gefährlichen Reise nach Tripolis, um übers Meer zu kommen. Diese Menschen, die ich gesehen habe in den Gefangenenlagern, sind aber jetzt willens, zurückzugehen in ihre Heimatländer, weil sie keinen Sinn darin sehen, weiter nach Europa weiterzureisen.
Der Vergleich von Flüchtlingslagern mit KZs sei nicht richtig
Heckmann: Die Situation in diesen Flüchtlingslagern, davon war die Rede in den vergangenen Tagen und Wochen bereits in Libyen. Da war die Rede von KZ-ähnlichen Zuständen in diesen Lagern. Sie selbst haben dieser Tage gesagt, die Lage sei menschenunwürdig dort. Was haben Sie genau gesehen, inwiefern menschenunwürdig?
Kobler: Den Vergleich mit KZs würde ich natürlich nicht ziehen. Das ist eine völlig andere Kategorie. Es geht hier nicht um die Vernichtung einer ganzen Rasse. Es geht hier einfach darum, dass Menschen, die über das Mittelmeer wollen, von Menschenhändlern, aber auch von staatlichen libyschen Institutionen in völlig menschenunwürdigen Bedingungen gehalten werden. Es sind 500 Menschen in einem Raum, ich sehe mir das regelmäßig an: sanitäre Verhältnisse, da wird geschlagen, da wird geprügelt, da schlafen die Menschen in Schichten übereinander oder im Stehen. Das sind einfach Dinge, die sofort abgestellt werden müssen.
Heckmann: Will die Regierung, die ja im Amt ist, mehr oder weniger jedenfalls in Libyen, das nicht abstellen, oder kann sie es nicht?
154 Menschen nach Senegal und Guinea zurückgeführt
Kobler: Sie kann es nicht abstellen. Es gibt in Libyen keine starke Regierung, keine starken Institutionen, die jetzt auch die Behörden kontrollieren, die diese Lager führen. Wir tun hier unser Bestes, so oft wie möglich präsent zu sein, Hilfe anzubieten. Ich war gestern mit einer großen Delegation der Organisation für Internationale Migration in diesem Lager, um freiwillige Rückführungen zu organisieren. Wir haben gestern 154 Menschen zurückgeführt nach Senegal und nach Guinea. Aber das ist natürlich alles ein Tropfen auf den heißen Stein. Im letzten Jahr haben 180.000 Menschen die Überfahrt gewagt, in diesem Jahr sind es schon über 9000, 9500, mit 300 Toten, die auf dem Meer geblieben sind. Und wir wissen gar nicht, wieviel tausend Menschen in der Wüste bleiben, wenn sie diesen gefährlichen Weg von Eritrea, Somalia im äußersten Südosten des Landes durch Tausende Kilometer Wüste bis in den Nordwesten nach Tripolis geschafft haben. Das sind wirklich Dinge, die müssen an der Wurzel angepackt werden, und es muss schnell agiert werden. In Libyen zumindest sind die Zustände in den Lagern wirklich menschenunwürdig und spotten jeder Beschreibung.
Furchtbare Zustände in den Lagern von Menschenhändlern
Heckmann: Was muss denn gemacht werden und wie reagieren die Verantwortlichen, wenn Sie sie darauf ansprechen, auf die Zustände in diesen Lagern?
Kobler: Wir haben ganz konkrete Empfehlungen hier vorgelegt in dem Menschenrechtsbericht - wir betrachten das natürlich unter humanitären und menschenrechtlichen Gesichtspunkten – und haben auch Hilfe angeboten. Diese Lager – es gibt allein in Tripolis 27 dieser Lager und wir haben ja nicht mal Zugang zu den Lagern der Menschenhändler, die weiter im Westen des Landes sind, wo es noch viel furchtbarer zugeht, wo die Menschen als menschliches Kapital gehandelt werden und auch erschossen werden, wenn sie da aus der Reihe tanzen. Hilfe anbieten, die Lager zusammenlegen, mit unseren Kollegen von UNHCR, von IOM, der Gesellschaft für Internationale Migration, vor Ort sein, menschenwürdige Bedingungen schaffen, Raum schaffen, das sind Sofortmaßnahmen, die sofort angegangen werden müssen.
"Schaffung von Flüchtlingslagern in Libyen ist jetzt völlig undenkbar"
Heckmann: Der Innenminister, Thomas de Maizière, der hat ja vorgeschlagen, Flüchtlingslager in Libyen zu errichten, die menschenrechtlichen Maßstäben dann genügen sollen. Flüchtlinge, die auf dem Mittelmeer aufgegriffen werden, die sollen dann unter anderem nach Libyen zurückgebracht werden. Ist das aus Ihrer Sicht eine denkbare Lösung? Denn es ist ja auch klar: Europa kann nicht alle Flüchtlinge aufnehmen.
Kobler: Ich habe natürlich Verständnis für die Zwänge der Europäer, die Flüchtlingsströme zu regulieren. Aber eine Schaffung von Flüchtlingslagern zum jetzigen Zeitpunkt in Libyen ist völlig undenkbar. Libyen ist ja kein Staat in dem Sinne. Es gibt keine Regierung, die überall das Sagen hätte. Die Regierung der nationalen Einheit, die wir unterstützen, hat keine Autorität jenseits von Tripolis, und selbst in Tripolis selbst ist die Autorität begrenzt.
"Es gibt keine Armee, es gibt keine Polizei, es gibt keine starken Institutionen"
Heckmann: Aber das weiß doch der Innenminister.
Kobler: Das müssen Sie ihn selber fragen, ob er das weiß. Zum jetzigen Zeitpunkt ist es nicht möglich, weil keine Staatlichkeit existiert. Es gibt keine Armee, es gibt keine Polizei in diesem Land, es gibt keine starken Institutionen. Und wir arbeiten ja gerade daran, das Land zusammenzuführen, Ost, West und Süd, Institutionen aufzubauen. Das geht nicht über Nacht und solange das nicht geschieht, können auch keine Flüchtlingslager, wie sich das manche vorstellen, hier geschaffen werden. Ich empfehle all denen, sich das anzuschauen. Wie gesagt, wir haben ständig Besucher, die wir in diese Lager führen, und es sind auch Europäer dabei, die Botschafter hier, die in Tunis ja sind und nicht in Libyen - und das zeigt ja schon das Dilemma, dass wir alle noch im Exil sind - wir gehen regelmäßig hin und wissen das natürlich und berichten das auch nachhause.
Heckmann: Martin Kobler war das, der UNO-Koordinator für Libyen, live hier im Deutschlandfunk. Herr Kobler, danke Ihnen herzlich für dieses Gespräch und Ihre Zeit.
Kobler: Vielen Dank!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.