Archiv

Flüchtlinge in Libyen
Verzweiflung der Rechtlosen

Folter, Vergewaltigung und sogar willkürliche Hinrichtungen: Von all dem berichten Flüchtlinge aus Libyen. Viele wollen eigentlich gar nicht übers Mittelmeer, doch das Grauen treibt sie auf die wackeligen Boote Richtung Europa. Die libysche Küstenwache aber bringt sie zurück - mit Unterstützung aus Europa.

Von Anna Osius |
    Afrikanische Flüchtlinge in einer Haftanstalt in Misrata in Libyen.
    Dem Elend entfliehen: Diese Hoffnung treibt Menschen verschiedener Länder Afrikas aus ihrer Heimat. Doch dann landen sie in der Hölle Lybiens (Imago / Xinhua)
    Ihre Reise ist dort zu Ende, wo sie angefangen hat. Auf einem staubigen Platz nahe der libyschen Hauptstadt Tripolis hocken rund einhundert dunkelhäutige Männer auf dem Boden. Sie versuchen, ihre Köpfe mit den Armen vor der prallen Sonne zu schützen, Schweiß rinnt die schwarzen Gesichter herunter. Vor ihnen steht ein Uniformierter, bewacht sie - Neuankömmlinge in einem libyschen Auffanglager, einem der sogenannten Detention Centers. Irgendwann teilt jemand Wasser aus, für jeden eine kleine Plastikdose, ein Tropfen für die Männer. Wann haben sie das letzte Mal etwas zu essen oder zu trinken bekommen? Was haben sie erlebt? Wir wissen es nicht.
    Viele wollten eigentlich in Afrika bleiben
    Diese Bilder der Nachrichtenagentur Reuters zeigen nur die Momentaufnahme eines sich immer wiederholenden Dramas. Die libysche Küstenwache hat das Boot der Flüchtlinge aufgegriffen, als die Männer versuchten, von Libyen aus nach Europa zu entkommen - sie wurden zurückgebracht in das Land, aus dem sie einfach nur weg wollten.
    "Kein Zweifel, wir wollten nach Italien", so dieser sudanesiche Flüchtling. "Um dort ein besseres Leben, ein Leben in Würde zu finden. Die Umstände, hier aus diesem Land kommend, waren so schrecklich brutal, dass wir keine andere Wahl hatten als das Risiko der Überfahrt auf uns zu nehmen und zu beten, dass wir nicht sterben, bevor wir Italiens Küste erreichen. Das war eigentlich unser Ziel."
    Nur weg aus Libyen - aus dem Horror, den zehntausende Flüchtlinge hier erleben - das treibt die Menschen auf die Boote Richtung Europa. Manche werden sogar von den Schlepperbanden gezwungen, die überfüllten Schiffe zu besteigen. Eine Studie der Organisation Reach im Auftrag von Unicef hat ergeben: Nur wenige Flüchtlinge, die in Libyen auf die Boot gehen, sind in ihren afrikanischen Heimatländern schon aufgebrochen mit dem Plan, übers Mittelmeer zu kommen. Viele wollten erst mal nur weg aus den katastrophalen Verhältnissen ihrer Heimat - in der verzweifelten Hoffnung, woanders in Afrika ihr Glück zu finden.
    Grauenhafte Zustände in den Auffanglagern
    Libyen gilt immer noch als reiches Land - die Nation mit den reichsten Ölreserven des Kontinents - im Vergleich zu anderen Ländern Afrikas ging es den Menschen hier relativ gut. Doch seit dem Sturz von Machthaber Gaddafi versinkt das Land im Chaos, unterschiedliche Milizen ringen um die Macht, die international anerkannte Regierung in Tripolis ist schwach, im Osten regiert ein einflussreicher General, auch der IS ist im Land aktiv, immer wieder kommt es zu Gewalt zwischen den Milizen. Längst gilt Libyen als gescheiterter Staat.
    Das Chaos im Land machen sich die Schmuggler zunutze: Über die faktisch kaum noch kontrollierten Südgrenzen des Landes bringen sie zu tausenden Flüchtlinge nach Libyen - ein Millionengeschäft. Erst mal im Land, erwartet die Menschen das Grauen: Gewalt ist an der Tagesordnung, Frauen werden vergewaltigt, Familien getrennt, Kinder und Männer wie moderne Sklaven gehalten. Bis zu einer Million Flüchtlinge sollen sich Schätzungen zufolge illegal in Libyen aufhalten. Banden haben sich darauf spezialisiert, die hilflosen Menschen für ihre Zwecke zu missbrauchen. Es gibt Auffanglager - staatliche und privat kontrollierte - und selbst in den besseren seien die Zustände grauenhaft, so der ehemalige UN-Sondergesandte für Libyen Martin Kobler im Deutschlandfunk.
    "Die Menschen schlafen in Schichten, manche sind krank, einige sterben, sie haben nicht genug Nahrung, die Zustände sind wirklich sehr schlecht."
    Folter, Vergewaltigungen und sogar willkürliche Hinrichtungen, um Platz für neue Flüchtlinge zu schaffen - von all dem berichten Flüchtlinge. Die für die Unicef-Studie befragten 850 Jugendlichen gaben einstimmig an, dass die Zeit in Libyen der schlimmste Teil ihrer gesamten Flucht war. Jeder zweite berichtete, dass er von Banden festgehalten wurde, um von den Heimatfamilien Lösegeld zu erpressen. Viele wurden ohne Angaben von Gründen eingesperrt. Die Verzweiflung der Rechtlosen - das ist es, was die Menschen auf die wackligen Boote Richtung Europa steigen lässt. Der Funken Hoffnung, die Fahrt zu überleben - und dem Elend in Libyen zu entkommen.
    Flüchtlingsretter vor Libyens Küste werden bedroht
    Ein sinkendes, überfülltes Schlauchboot auf dem Mittelmeer: Mitarbeiter einer privaten Hilfsorganisation retten die Flüchtlinge und ziehen sie an Bord ihres Schiffes. Szenen, die sich in den vergangenen Monaten fast täglich wiederholten. Bis Italien kürzlich in einer Art Eigeninitiative zusammen mit den libyschen Behörden die Reißleine zog. Der Vorwurf an die Hilfsorganisationen: Ihr Einsatz vor der Libyens Küste animiere die Schleuser, nur noch mehr Flüchtlinge auf noch wackligere Boote zu setzen - ganz nach dem Motto: Nach wenigen Kilometer werdet ihr ja eh gerettet. Damit ist jetzt Schluss: Libyens Küstenwache erweiterte ihren Einsatz auch über die Zwölf-Meilen-Zone hinaus und sagte den Hilfsorganisationen in ihren Gewässern den Kampf an - das Schiff einer spanischen NGO wurde ernsthaft bedroht.
    Funkspruch: "Ihr seid verhaftet. Wenn ihr nicht folgt, werden wir euch beschießen."
    "Das Schiff hat sich in unseren Gewässern aufgehalten", so dieser Offizier der libyschen Küstenwache. "Als sich die NGO weigerte, den Kurs zu ändern, haben wir uns genähert und Warnschüsse abgegeben und sie so gezwungen, umzudrehen."
    Ärzte ohne Grenzen und auch die deutsche Hilfsorganisation Sea Eye erklärten den Rückzug ihrer Schiffe aus dem Mittelmeer. Hans Peter Buschheuer von Sea Eye stellt fest, "dass Libyen ein Freiluftgefängnis ist, das Außenministerium sprach sogar von KZ-ähnlichen Zuständen, Vergewaltigungen, Sklaverei. Die letzte Chance für die Menschen, dieser Hölle zu entkommen, war die Flucht übers Wasser - diese Chance ist ihnen jetzt auch genommen worden."#
    Fragwürdige Rolle der libyschen Küstenwache
    Doch der Deal, den Italien mit Libyen geschlossen hat, ist für Europa attraktiv. Im Prinzip beinhaltet er: Libyen wird finanziell und materiell unterstützt, dafür sammelt die libysche Küstenwache möglichst viele Flüchtlinge ein. Denn, so Ärzte ohne Grenzen: Retten europäische Hilfsorganisationen Flüchtlinge, können sie die Flüchtlinge laut internationalem Recht nicht nach Libyen zurückbringen, weil dort ihr Leben in Gefahr ist. Wenn die libysche Küstenwache allerdings die Flüchtlinge aufgreift, sieht das völlig anders aus. Nach Angaben der Internationalen Organisation für Migration wurden allein in diesem Jahr schon 12.000 Menschen auf diesem Wege zurück nach Libyen gebracht.
    Die Rolle der libyschen Küstenwache - und eigentlich gibt es auch hier mehrere - scheint dabei jedoch fragwürdig. Denn, so Martin Kobler arbeiteten einige sogar mit den Schmugglern zusammen:
    "Wir haben zuverlässige Berichte, dass die Küstenwache in Teilen sogar mit den Schmugglern zusammenarbeitet. Dass sie die Motoren der Schiffe stehlen und teilweise an die Schmuggler zurückverkaufen."
    Doch Beobachtern zufolge stört das Italien offenbar wenig. 12.000 zurück nach Libyen gebrachte Flüchtlinge - dass sind alles Fälle, um die sich Europa nicht kümmern muss. Der italienische Innenminister Minitti ist deshalb bester Laune:
    "Wir sind noch im Tunnel, es ist ein langer Tunnel, aber zum ersten Mal sehe ich persönlich Licht. Ich sehe Licht am Ende des Tunnels."
    Aus der Hölle Libyens zurück in das Elend der Heimat
    Ein Tunnel, der für Flüchtlinge jedoch noch lange nicht zu Ende ist. Jetzt in Libyen festsitzend, lassen sich manche, wie Mary aus Nigeria, in ihrer Verzweiflung zurücktransportieren in ihre Heimat. Zurück in das Land, das sie verlassen hat, weil sie sich anderswo ein besseres Leben erhoffte. Doch - im Vergleich zu Libyen -, sagt sie jetzt:
    "Ich bin froh zurückzugehen, denn in Nigeria darf man seine Meinung sagen, dort wird mich niemand einsperren, mich ungesetzlich behandeln, dort gibt es Freiheit."
    Aus Libyen kommend weiß die Frau: Das Elend zuhause ist immer noch besser als die Hölle anderswo.