In der kleinen Sankt-Augustin-Kirche in Agadez drängeln sich am Sonntagmorgen die Gottesdienstbesucher in die wenigen Bankreihen. Sobald der Chor zu singen anfängt, stimmt die Gemeinde begeistert ein. Die meisten Kirchenmitglieder stammen nicht aus dem Niger, in dem fast ausschließlich Muslime leben, sondern aus ganz Westafrika. Nach Agadez sind sie zum Arbeiten gekommen. Seit Jahrhunderten ist die "Perle der Sahara", die an einer der historischen Karawanen-Route liegt, attraktiv für Menschen aus der Region. Heute ist die Stadt als das Nadelöhr nach Europa bekannt. Pro Woche kommen 1000 bis 2000 Migranten an, die sich von hier aus auf die oft lebensgefährliche Reise zur libyschen Grenze machen wollen. Priester Etienne Ouédraogo kennt viele der jungen Männer.
"Ja, die Kirchengemeinde von Agadez hat tatsächlich viel mit Migranten zu tun. Viele, die ihre Heimatländer verlassen haben, kommen zu uns und bitten um Geld. Doch eine finanzielle Unterstützung geben wir nicht. Dafür sprechen wir mit ihnen und versuchen zu erklären, wie gefährlich die Reise ist. Wir geben ihnen also einen Ratschlag mit auf den Weg."
Materielle Unterstützung in Form eines Bustickets gibt es nur für jene, die zurück in ihre Heimat wollen. Doch das ist eine Minderheit. Rückkehr? Das kommentiert auch Abdou nur mit einem spöttischen Lächeln. Eher zufällig ist er in der katholischen Missionsstation gelandet. Der 24-Jährige stammt aus dem Ministaat Gambia, der in Europa höchstens als exotisches Urlaubsziel bekannt ist. Menschenrechtsorganisationen prangern aber seit Jahren die brutale Regierungsführung von Präsident Yahya Jammeh an. Dieser gilt als Diktator, Schwulenhasser und selbsternannter HIV-Heiler. Abdou, der nur seinen Vornamen nennt und vor zwei Wochen seine Heimat verlassen hat, ist froh, all das hinter sich lassen zu können.
"Wir sind auf der Suche nach einem besseren Leben. Das bedeutet: Man arbeitet einen Monat und erhält dafür einen Lohn. Davon kann man etwas sparen und die Familie unterstützen, in meinem Fall Mutter und Schwester. Das geht in Europa, in Libyen, ja sogar hier. Sobald wir eine gute Arbeit finden, die auch bezahlt wird, nehmen wir sie an. Wir haben die Kraft dazu und das Talent."
Daran sei in der Heimat nicht zu denken gewesen, erklärt Abdou.
"Ich habe in einem Hotel gearbeitet, als Kellner und als Manager. Aber in Gambia gehören diese Hotels den Ausländern. Sie haben keinen Respekt für schwarze Menschen. Sie zahlen sehr schlecht und achten ihre Mitmenschen nicht."
Am Stadtrand von Agadez unterhalten sich junge Männer auf Wolof, der am häufigsten gesprochenen Sprache im Senegal. Sie hocken auf großen Matratzen im Schatten. Vor ihnen stehen Wasserflaschen. Für ein paar Tage finden sie im Camp der Internationalen Organisation für Migration einen Unterschlupf. Sie wandern in die entgegengesetzte Richtung – gen Westen – von Niger zurück in den Senegal. Denn was Abdou noch vor sich hat, haben die drei schon hinter sich: die gefährliche Sahara-Durchquerung. Bis nach Libyen haben sie es zwar geschafft, hatten für die Weiterfahrt nach Europa aber weder Kraft noch Geld. Heute wollen sie nur noch zurück in den Senegal.
Etwas abseits sitzt auch Colin, der aus dem Südosten Nigerias stammt und an beiden Armen dicke, fleckige Verbände trägt. Flüsternd erzählt er, wie es auf dem Pickup-Wagen Streit gegeben habe und er irgendwo hinter Agadez von der Ladefläche geschmissen worden sei. An mehr kann sich Colin nicht erinnern. Doch er hatte Glück. Jemand brachte ihn zurück und informierte das Rote Kreuz.
"Ich werde hier jetzt seit fast zwei Wochen behandelt. Ich habe alles verloren: das letzte Geld, das ich noch hatte, meine Kleidung. Alles war in meinem Rucksack, der weg ist. Auch mein Handy."
Nun steht er vor dem finanziellen Ruin. Die Flucht hat viele hundert Euro gekostet. Alleine für den Platz auf dem Pickup musste er rund 230 Euro zahlen. Dazu das Geld für Tickets, Unterkünfte, Schlepper und korrupte Beamte. Doch viel quälender sind die Erinnerungen daran. Colin hat sich entschieden:
"Ich will irgendwie Geld finden und einen kleinen Laden aufmachen. Ich will etwas in Nigeria machen. Dort habe ich eine Frau. Ich will für meine Familie ein Zuhause schaffen."
Vor der Kirche Sankt Augustin hat der katholische Priester gerade wieder einem jungen Mann erklärt, dass die Kirche Migranten kein Bargeld gibt. Doch Etienne Ouédraogo weiß, dass das den Kameruner nicht aufhalten wird. Gleiches gelte für verschärfte Kontrollen vor der italienischen Küste oder das neue Gesetz gegen Menschenhandel, das der Niger im Mai verabschiedet hat.
"Es gibt jetzt ein neues Gesetz. Damit will man versuchen, die Leute einzufangen. Ziel ist es auch, die Fahrzeuge, in denen sie weiterreisen, anzuhalten und alle Beteiligten ins Gefängnis zu stecken. Aber das stoppt die Migration nicht. Wenn man sie rigoros verbietet, fördert das nur die Kriminalität. Für mich ist der einzige Ausweg, Arbeit für die jungen Leute zu schaffen."
Sagt der Priester in Agadez, wo es inzwischen dämmert. Abdou, der Flüchtling aus Gambia, will unbedingt zurück in seine Unterkunft. Und zwar möglichst schnell. Bis zur Weiterfahrt nach Libyen habe er noch viel zu tun, erklärt er. Er bleibt dabei: Er will auf jeden Fall in Richtung Europa.
"Ich habe meiner Mutter gesagt: Bete zu Gott, damit er mein Leben rettet. Ich bin auf dem Weg in ein besseres Leben – für mich und die ganze Familie. Bete deshalb, denn nur Gott kann helfen. Einige Menschen sterben, andere überleben. Aber bevor man für eine Kleinigkeit stirbt, stirbt man doch lieber für die große Sache."