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Flüchtlinge in Schweden
Ein Land sucht seine Haltung

Das gesellschaftliche Klima in Schweden verändert sich. Kein anderes europäisches Land hat pro Kopf gerechnet so viele Flüchtlinge aufgenommen. Dann der Kurswechsel, die Regierung verschärfte die Asylgesetze. Was bedeutet das für ein Land, das sich gern als progressiv sieht? Unser Reporter Johannes Kulms ist dieser Frage in Schweden nachgegangen.

Von Johannes Kulms |
    Man sieht den schwedischen Reichstag in Stockholm, vorne rechts ein Rettungsring.
    Der schwedische Reichstag in Stockholm. (Deutschlandradio / Johannes Kulms)
    Der Hof von Helga De Bois liegt abgelegen - mitten in einem småländischen Wald rund 200 Kilometer nördlich von Malmö. Auf einer Weide vor dem roten Holzhaus stehen mehrere Pferde, während in einem Stall eine kleine Schafsherde Schutz sucht vor dem nasskalten Februarwetter.
    Seit November ist der Hof auch die neue Heimat für Mojtaba und Murtaza - zwei junge afghanische Flüchtlinge. Helga De Bois und ihr Mann haben die beiden 15- und 16-Jährigen Brüder aufgenommen, die an diesem Vormittag gerade in der Schule sind.
    "Die beiden Jungs aus Afghanistan sind großartig"
    "Es kommen viele minderjährige unbegleitete Flüchtlinge nach Schweden. Als uns der Sozialdienst gefragt hat, haben mein Mann und ich ja gesagt. Natürlich ist das eine große Umstellung für uns, unsere Kinder sind gerade erst ausgezogen. Was die Sprache angeht ist das schon eine ziemliche Herausforderung. Aber die beiden Jungs aus Afghanistan sind großartig und geben sich sehr viel Mühe und wollen lernen. In Afghanistan konnten sie nie eine Schule besuchen. Hier in Schweden nun tun sie das und das ist doch fantastisch."
    Helga De Bois' Familie stammt aus Belgien. Seit rund 20 Jahren lebt sie in der Gemeinde Tingsryd. Jahrelang habe die Kommune an Einwohner verloren, erzählt De Bois. Doch seit dem in den letzten Jahren immer mehr Flüchtlinge und Einwanderer herkamen habe sich das geändert, freut sich die 51-Jährige.
    Zu sehen sind rechts der Reporter Johannes Kulms mit Kopfhörern und Mikrofon und links die Interviewpartnerin Helga de Bois.
    Unser Reporter Johannes Kulms im Interview mit Helga de Bois. (Paul Kulms)
    Für Schwedens Abkkehr von der liberalen Flüchtlingspolitik hat De Bois ein gewisses Verständnis. Und doch hofft sie, dass es nicht dabei bleibt.
    "Vielleicht brauchen wir jetzt eine kleine Verschnaufpause. Die Regierung sollte dafür sorgen, dass die Flüchtlinge nun alles bekommen, was sie brauchen. Denn das ist doch eine Investition in die Zukunft. Aber ich finde: Sobald die Aufnahmekapazitäten erhöht sind, kann man die Grenzen auch wieder aufmachen."
    Schweden habe doch die Ressourcen, um diese Krise zu meistern - es hänge vor allem am Willen der Politik ab, sagt De Bois und schenkt sich eine Tasse Tee ein. Draußen pfeift der Wind, während Regentropfen an das Fensterglas prasseln.
    Ja, ich bin wohl optimistischer als viele in meiner Umgebung sagt die großgewachsene Frau mit den lockigen Haaren.
    "Die Situation ist nun mal so wie sie ist: Wir haben gerade sehr viele Flüchtlinge in Schweden und um die müssen wir kümmern. Negative Gedanken helfen mir da nicht wirklich weiter, sondern ich sage mir: Was kann ich selbst jetzt machen? Wenn man zu sehr das große Ganze sieht, dann kann man natürlich schon pessimistisch werden."
    Selbst ein bisschen erschrocken
    Dass sich das politische Klima im Land verändert, wird auch auf der Bahnfahrt nach Stockholm deutlich.
    Auf dem Nachbarplatz im Schnellzug sitzt eine Möbeldesignerin. Sie mache sich Sorgen, sagt die Frau Anfang 50. Es seien nun mal einfach zu viele Flüchtlinge, die herkämen. Was ist mit den Jobs, aber auch mit dem Wohnraum für den Rest der Bevölkerung? Irgendwie brauchen wir eine Pause. Und dann fügt sie hinzu, dass sie selber ein bisschen erschrocken über diese Gedanken sei.
    Auch um solchen Gedanken Rechnung zu tragen, hat die Regierung die Asylgesetze verschärft. Um die Situation wieder unter Kontrolle zu bringen, so Migrationsminister Morgan Johansson. Nun komme es darauf an, die bereits ins Land gekommenen Flüchtlinge, gut zu integrieren. In diesem Jahr wird trotz schärferer Gesetze und Grenzkontrollen mit siebzigtausend bis einhundertvierzigtausend Flüchtlingen in Schweden gerechnet.
    "Wenn wir dabei versagen und die Arbeitslosigkeit in ein paar Jahren deutlich angestiegen sein sollte, es zu größeren Probleme kommt bei der Unterbringung und in den Schulen… dann werden die schwedischen Bürger anfangen, unsere Grundwerte in Frage zu stellen. Und davor müssen wir uns wirklich hüten."
    "Ich persönlich finde, dass die Politik viel zu wenig über die positiven Seiten der Flüchtlings- und Einwanderungspolitik spricht und den kulturellen Gewinn, den wir dadurch bekommen. Stattdessen überwiegen in den Diskussionen defensive Positionen, was negative Folgen haben kann."
    Man sieht den schwedischen Menschenrechtler Thomas Hammarberg in einem Café.
    Der schwedische Menschenrechtler Thomas Hammarberg. (Deutschlandradio / Johannes Kulms)
    Thomas Hammarberg ist 74 Jahre alt. Bis zum Jahr 2012 war er Menschenrechtskommissar des Europarates in Straßburg. Nun sitzt er in einem Café des Kulturhusets in Stockholm.
    Natürlich: Der Wohnraum sei knapp und es gebe personellen Engpässe bei der Betreuung für die vielen minderjährigen unbegleiteten Flüchtlinge, sagt der frühere Diplomat. Und doch hält Hammarberg - der selber Sozialdemokrat ist - die schwedische Wende in der Flüchtlingspolitik für falsch.
    "Meiner Meinung nach waren Teile dieses Gesetzespakets, das die Regierung geschnürt hat, kontraproduktiv. Weil es in der Praxis das klassische Asylrecht untergräbt."
    Das Prestige, progressiv zu sein
    Hammarberg sieht nun noch mehr Bürokratie auf das schwedische Migrationswerk zukommen. Doch er weiß auch um die schwierigen Verhältnisse im schwedischen Reichstag, wo keiner der beiden großen Blöcke eine Mehrheit hat - und die ausländerfeindlichen Schwedendemokraten die Politik oft vor sich hertreiben.
    "Viele hoffen, dass die anderen Länder in Europa verstehen, dass ein Land wie Schweden einfach eine Pause braucht. Versteht uns einfach, wir würden doch so gerne dieses Prestige bewahren, sagen viele, nämlich dass wir progressiv sind und die Heimat von Dag Hammarskjöld oder Olof Palme. Es gibt also die Sorge, dass wir diese moralische Stellung in Europa verlieren.
    Das gesellschaftliche Klima in Schweden hat sich verändert. Und doch ist Menschenrechtlicher Hammarberg nicht der einzige, der darauf hofft, dass das Land irgendwann wieder zurückkehrt zu seiner liberalen Flüchtlingspolitik.