Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) hat vorübergehende Kontrollen an allen deutschen Landgrenzen angeordnet, um die Zahl unerlaubter Einreisen stärker einzudämmen. Die zusätzlichen Kontrollen begannen am 16. September. Sie sollen zunächst sechs Monate andauern, wie das Bundesinnenministerium mitteilte.
Faeser hatte angekündigt, dass im Zuge der Grenzkontrollen auch verstärkt Zurückweisungen stattfinden sollen, welche Personengruppen davon betroffen sein werden, erläuterte Faeser nicht. Von Zurückweisungen spricht man, wenn Menschen daran gehindert werden, die Grenze zu überqueren. Nach Einschätzung von Politikern der Unionsparteien, würde der Vorschlag von Faeser allerdings nicht zu zusätzlichen Zurückweisungen führen.
Die Union hatte zuvor vehement darauf gedrängt, dass Deutschland Geflüchtete an den Grenzen zurückweisen müsse, CDU-Chef Friedrich Merz hatte gar ein Machtwort des Bundeskanzlers verlangt. In der Ampelkoalition hatten sich insbesondere Politiker der Grünen gegen Zurückweisungen an deutschen Grenzen ausgesprochen.
Zurückweisungen galten lange als Tabu in Europa. Zum einen, weil sie unter humanitären Gesichtspunkten sehr problematisch sind, zum anderen könnten sie aber auch weitreichende Folgen für die Europäische Union haben.
Warum sind Zurückweisungen an der deutschen Grenze nach EU-Recht nicht möglich?
Zurückweisungen sind an deutschen Landgrenzen derzeit nur in bestimmten Fällen erlaubt: Wenn jemand mit einer Einreisesperre belegt ist oder kein Asyl beantragt. Menschen, die einen Asylantrag stellen wollen, dürfen allerdings nicht ohne Asylverfahren zurückgeschickt werden. So ist es in den Regeln des Dublin-Abkommens festgelegt.
Welche rechtlichen Möglichkeiten sehen Befürworter von Zurückweisungen?
Befürworter von Zurückweisungen stützen sich auf zwei rechtliche Auswege: Die erste Argumentation beruft sich schlicht darauf, dass die Dublin-Regeln dysfunktional seien und auch von anderen Staaten nicht eingehalten würden, also müsse sich auch Deutschland nicht daran halten. So sagte der stellvertretende Vorsitzende der Unions-Bundestagsfraktion, Jens Spahn, das geltende Recht funktioniere nicht. Deutschland sei fast das einzige Land in der EU, „das sich überhaupt bis ins letzte Paragräphchen daran hält“.
Die zweite Argumentation bezieht sich auf eine Notstandsregel. Grundsätzlich biete das Europarecht die Möglichkeit, sich durch einen Notstand über das Gemeinschaftsrecht hinwegzusetzen, sagt der Europarechtler Daniel Thym. Er weist aber auch darauf hin, dass der Europäische Gerichtshof Anträge von Mitgliedsstaaten dazu bisher immer zurückgewiesen hat.
Bis der Europäische Gerichtshof ein Urteil fällen würde, würde allerdings Zeit vergehen. Wenn Deutschland in dieser Zeit Asylbewerber an der Grenze zurückzuweist, sei damit ein deutliches Signal gesetzt, dass es sich nicht lohne, sich nach Deutschland auf den Weg zu machen, sagte Thym.
Neben den Versuchen, Zurückweisungen rechtssicher einzuführen, gibt es in der Europäischen Union auch Politiker, die offen dazu bereit sind, Gesetze zu ignorieren, besonders pointiert formulierte das der Vorsitzende der rechtsextremen FPÖ, Herbert Kickl, in Österreich Anfang September: „Wir würden es einfach machen, ich sage es ihnen so wie es ist, einfach machen.“ Kickl möchte nach den Nationalratswahlen am 29. September den Posten des österreichischen Bundeskanzlers einnehmen, in den Umfragen ist seine Partei seit Monaten auf Rang eins.
Welche Folgen könnte das für Europa haben?
Sollte Deutschland sich entscheiden, EU-Recht auszusetzen und Zurückweisungen zu praktizieren, könnte das gravierende Folgen haben, sagte der Sozialwissenschafter Gerald Knaus im ZDF-Morgenmagazin. Mit einer solchen Maßnahme würde die Kooperation der EU-Staaten bei der Grenzsicherung grundlegend zerstört.
Der Kollateralschaden von pauschalen Zurückweisungen könnte aber noch größer ausfallen. Sollte Deutschland sich auf einen Notstand berufen und darüber das EU-Recht aushebeln, dann könnten andere Länder diesem Beispiel bei anderen Themen folgen. Denn was der größte Mitgliedsstaat praktiziert schafft einen Präzedenzfall, auf den sich dann auch andere Länder berufen können. Auch in der Union sind daher zahlreiche Europarechtler skeptisch, ob das Vorgehen ratsam ist.
Petern Kapern, Europa-Korrespondent des Deutschlandfunks, sieht in den Vorschlägen zu Zurückweisungen eine Gefahr für das europäische Rechtssystem. Politiker der Mitte pflegten offensichtlich mittlerweile ein taktisches Verhältnis zum europäischen Gemeinschaftsrecht. Es drohe ein Europa, in dem nationale Regierungen europäisches Recht nur noch achten, wenn es ihnen nützlich ist. Und sich darüber hinwegsetzen, wenn sie glauben, dass es nötig sei.
Erik Marquardt, grüner Europaabgeordneter, sieht in der Schließung der Grenzen für Asylbewerber zudem ein erhebliches Risiko für eine Kettenreaktion. Damit sei der Schengen-Raum in Gefahr, der die schnelle Mobilität von Menschen und Gütern innerhalb der EU garantiert, und von dem das Modell der deutschen Wirtschaft abhängig ist.
Kritik kam auch vom Sachverständigenrat für Integration und Migration, der die Bundesregierung bei diesen Themen berät. „Es braucht grundsätzlich eine europäische Lösung, wenn man die Fluchtmigration besser steuern und begrenzen will - und mehr Kooperation mit Herkunfts- und Transitstaaten“, erklärte der Vorsitzende Hans Vorländer.
Wenn die Umsetzung auf europäischer Ebene scheitere, drohe die Gefahr einer Renationalisierung des gesamten Asylsystems. „Das wäre ein Einschnitt von historischem Ausmaß und mit unabsehbaren Folgen“, sagte der Politikwissenschaftler. Grundsätzlichen Zurückweisungen oder einem Aufnahmestopp für bestimmte Gruppen sei „vor diesem Hintergrund aus menschen- und asylrechtlichen sowie aus politischen Gründen eine Absage zu erteilen“.
Wie stehen andere EU-Länder zu Zurückweisungen?
Wie die Reaktionen in Europa ausfallen würden, ist nicht leicht abzuschätzen. Einige Staaten fordern seit langem, dass Deutschland seine Attraktivität für Migranten zurückfahren müsse. Und zudem setzen auch andere EU-Länder zunehmend auf Alleingänge: Die Niederlande haben gerade alle Sozialleistungen für abgelehnte Asylbewerber gestrichen, das Land will aus der europäischen Zuwanderungspolitik komplett aussteigen. Auch die kommende belgische Regierung setzt auf eine maximal restriktive Zuwanderungspolitik.
Entscheidend könnte zudem sein, dass auch Frankreichs neuer Premierminister Michel Barnier die Grenzen seines Landes für Migranten schließen möchte. Auch Barnier hat schon öffentlich seine Bereitschaft bekundet, im Zweifel EU-Recht zu brechen. Deutschland werde sich also ohnehin entscheiden müssen, ob es gegenüber Frankreich auf die Einhaltung der EU-Regeln pocht, sagte Jacob Ross von der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik. Alternativ könne Deutschland sich in den EU-weiten Trend zu Verschärfungen in der Migrationspolitik einreihen.
Welche praktischen Hürden gibt es für Zurückweisungen?
Während es in einigen EU-Ländern also ebenso Forderungen nach mehr Zurückweisungen gibt, gibt es keine Bereitschaft, Geflüchtete aus Deutschland zurückzunehmen. Sofern es sich um eine Zurückweisung handele, die Menschen also nicht über die Grenze nach Deutschland gekommen sind, blieben die Nachbarländer aber zuständig, sagte der Vorsitzende der Polizeigewerkschaft Andreas Roßkopf. Da sei Deutschland also nicht vom Einverständnis der Nachbarländer abhängig.
Doch es gibt auch zahlreiche Grenzübergänge an Autobahnen, wo die Kontrollpunkte oft mehrere hundert Meter hinter der Grenze liegen. Den Grenzübertritt zu verhindern, ist daher oft nicht möglich, Rückführungen wären nötig. Doch bisher haben die deutschen Nachbarländer solche Lösungen immer verweigert. Österreich will „keine Personen entgegennehmen, die aus Deutschland zurückgewiesen werden“ sagte beispielsweise der österreichische Innenminister Gerhard Karner der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“, da gebe es keinen Spielraum.
pto