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Flüchtlinge
Röttgen fordert Initiative von Deutschland und Frankreich

Der CDU-Außenpolitiker Norbert Röttgen plädiert angesichts der hohen Flüchtlingsszahlen für eine aktivere Flüchtlings- und Afrikapolitik von der EU. Europa werde aber nicht wirksam reagieren können, wenn erst alle 28 EU-Staaten überzeugt werden müssten, sagte der Röttgen im DLF. Einzelne Staaten müssten vorangehen.

Norbert Röttgen im Gespräch mit Christine Heuer |
    Norbert Röttgen (CDU) spricht im Deutschen Bundestag in Berlin
    CDU-Außenpolitiker Norbert Röttgen (picture alliance / dpa / Britta Pedersen)
    Der Vorsitzende des Auswärtigen Ausschusses im Bundestag, Norbert Röttgen, rechnet auch in den kommenden Jahren mit anhaltend hohen Flüchtlingszahlen. "Das wird nicht nur eine Jahresprognose bleiben", sagte er im DLF mit Blick auf die nach oben korrigierte Flüchtlingsprognose der Bundesregierung. Bundesinnenminister Thomas de Maizière geht davon aus, dass in diesem Jahr insgesamt 800.000 Flüchtlinge nach Deutschland einreisen werden - viermal so viele wie im vergangenen Jahr. Bisher hatte das zuständige Bundesamt mit 450.000 Menschen gerechnet.
    Es sei eine "herausragende Herausforderung", mit der aktuellen Lage umzugehen, die nahezu eine Völkerwanderung sei, betonte Röttgen. Er machte deutlich, dass etwa der Zustrom aus Afrika nicht nachlassen werde: "Die Hälfte des globalen Bevölkerungswachstums findet in Afrika an. Das bleibt für lange Zeit."
    Als Konsequenz sprach sich Röttgen für eine proaktive EU-Flüchtlings- und Afrikapolitik aus. Es könne nicht nur darum gehen, wie man die Flüchtlinge in Europa fairer verteile. Man müsse mit den Herkunftsländern sprechen, denen es offensichtlich egal sei, dass tausende Menschen im Mittelmeer ertränken. Röttgen bezweifelte aber, dass die EU mit allen 28 Mitgliedsstaaten wirksam agieren könne. Stattdessen benötige man einen Verbund unabhängiger, variabler Staaten, die vorangingen. Dazu zählte er Deutschland, Frankreich und Italien.
    Gleichzeitig betonte Röttgen, mangelnde Solidarität könne man sich in der EU nicht leisten.Die Handlungsfähigkeit der EU werde durch den Egoismus der Slowakei torpediert, die erklärt hat, keine Muslime als Flüchtlinge aufzunehmen, sondern nur Christen. Das Verhalten sei ein Beitrag zum Scheitern Europas, sagte Röttgen.

    Das komplette Interview zum Nachlesen:
    Christine Heuer: Europa, das ist mehr als ein Kontinent. Das ist eine politische Idee. Und zu der gehört, dass die Europäer solidarisch miteinander sind. Beim Andrang von immer mehr Flüchtlingen erleben wir gerade das Gegenteil von Solidarität. Viele europäische Staaten, unter ihnen besonders viele osteuropäische, wehren sich dagegen, Flüchtlinge aufzunehmen, und kommen damit bisher ganz gut durch - zulasten anderer Mitgliedsstaaten. Deutschland etwa nimmt auch überdurchschnittlich viele Flüchtlinge auf, so viele, dass Innenminister Thomas de Maizière gestern die Prognose für dieses Jahr fast verdoppelt hat.
    - Über die deutsche, vor allem aber über die europäische Flüchtlingspolitik möchte ich jetzt mit dem christdemokratischen Vorsitzenden im Auswärtigen Ausschuss des Bundestages sprechen. Guten Morgen, Norbert Röttgen.
    Norbert Röttgen: Guten Morgen, Frau Heuer.
    Heuer: Es gibt für Deutschland eine neue Flüchtlingsprognose. 800.000 statt 450.000 Flüchtlinge kommen dieses Jahr voraussichtlich nach Deutschland. Das ist wieder ein Dammbruch. Wieso kommt der eigentlich gerade jetzt?
    Röttgen: Er kommt nicht nur jetzt, sondern wir haben in den letzten 20 Jahren ein permanentes Anwachsen von Flüchtlingsströmen, Flüchtlingen auch innerhalb Europas. Das ist ein großer Trend, Mobilität, dass Menschen wandern, aus der Verzweiflung ihrer Länder, wo sie Terrorismus, Hunger, Krieg, Ungerechtigkeit ausgesetzt sind. Sie sagten eben, Europa ist eine Idee. Genau: Europa ist eine Idee, der Ort einer Idee. Und darum ist Europa der Fluchtpunkt. Nun hat sich die Situation gerade in Nordafrika absolut zugespitzt durch den ISIS-Terrorismus, der ganze Länder lahmlegt. Libyen ist ein Staat, der nicht mehr existiert. Also wird dieses Vakuum an staatlicher Macht durch internationalen Terrorismus ersetzt. Und darum ist ein ganzer Teil eines Kontinents im Verfall und im terroristischen Zugriff. Das ermöglicht Terrorismus und es ermöglicht Menschenhandel, der dort stattfindet. Und von südlicheren Gegenden in Afrika, die reich bevölkert sind, die großes Bevölkerungswachstum haben, wird dies dann als Durchgangsstation genutzt. Sie verkaufen sich an die Menschenhändler und daraus ist ein großer Strom von Flüchtlingen entstanden. Das wird nicht nur eine Jahresprognose bleiben, sondern es wird die überragende Herausforderung an Europa sein, mit dieser nahezu Völkerwanderung, auf die wir uns einstellen müssen, umzugehen. Die Hälfte des globalen Bevölkerungswachstums, das stattfindet in den nächsten Jahren und Jahrzehnten - und das wird gigantisch sein -, findet in Afrika statt. Das bleibt für lange Zeit.
    Heuer: Sie sprechen von einer Völkerwanderung und in der Tat, so fühlt sich das auch an. Kann Europa denn alle aufnehmen, die herkommen möchten?
    Röttgen: Die Antwort ist doch selbstverständlich nein. Das können wir nicht. Und darum kann es nicht nur darum gehen, dass wir viel besser werden in der Frage der fairen Verteilung und Unterbringung innerhalb Europas. Sie haben ja in Ihrer Anmoderation das auch schon thematisiert. Das ist ein ganz wichtiger Bereich. Aber der kann nicht der allerwichtigste sein, sondern wir müssen proaktiv anfangen. Es muss darum gehen, dass wir uns mit den Ländern beschäftigen, wo die Menschen herkommen. Es muss darum gehen, dass wir uns mit den Ländern beschäftigen, wo Terrorismus sich etablieren kann. Das heißt, wir brauchen eine europäische Flüchtlingspolitik, wir brauchen eine europäische Außenpolitik, die sich mit dieser Region beschäftigt. Wir brauchen eine Afrika-Politik in Europa. Wir müssen mit den Herkunftsländern reden, denen ja offensichtlich egal ist, dass die Menschen fliehen, dass in den letzten Jahren 20.000 ertrunken sind. Und wir müssen gemeinsam als Europäer eine vorausschauende, vorbeugende, proaktive Politik als Teil von Außenpolitik in Afrika, in Nordafrika machen. Das ist ein ganz entscheidender Punkt.
    Heuer: Herr Röttgen, Einspruch! Sonntagsrede, sage ich jetzt. Denn diese Sätze, die hören wir ja seit vielen Jahren. Und an der Entwicklung hat das alles nichts geändert.
    Röttgen: Aber jetzt ist die Entwicklung so dramatisch, dass der Handlungsdruck uns zwingt, zwingen muss, zwingen wird, genau das zu entwickeln. Wenn wir erst anfangen, uns damit zu beschäftigen, wenn die Menschen im Mittelmeer sind, wenn sie vor unserer Grenze stehen, dann werden wir das Problem in seiner Dimension nicht in den Griff bekommen. Wenn wir nicht vorbeugend außenpolitisch handlungsfähig werden als Europäische Union, dann werden wir scheitern. Wir haben ja das europäische Scheitern. Insofern gebe ich Ihnen Recht mit Ihrer Kritik. Aber es muss sich jetzt ändern und der Problemdruck ist so groß, dass es sich ändern wird. Das glaube ich.
    Heuer: Greifen wir ein Beispiel heraus. Sie haben den Islamischen Staat erwähnt als terroristische Vereinigung im Zusammenhang mit dem Zerfall ganzer Staaten. Macht die EU eigentlich genug, um den IS zu bekämpfen, oder überlassen wir das den Amerikanern?
    Röttgen: Wir machen auch dort nicht genug. Der IS ist eine übergreifende Bedrohung. Er etabliert sich in mehreren Staaten. Er rekrutiert aus Europa. Er attackiert Europa. Die Türkei ist ein schwieriges Grenzland, das dem ausgesetzt ist. Und wir machen angesichts dieser Bedrohung zu wenig.
    Heuer: Was sollen wir denn tun? Was kann Deutschland tun?
    Röttgen: Das ist ein Teil, von dem ich eben sprach. Wir müssen zusammen agieren. Wir haben zu viel an einzelstaatlicher Aktion. Wir müssen die Staaten, die davon betroffen sind, unterstützen in ihrer inneren Festigkeit, in ihrer inneren Entwicklung. Und es wird auch politischer und militärischer Mittel bedürfen, um den IS zu besiegen. Das muss ein gemeinsames Ziel sein. Die Türkei zum Beispiel, ein NATO-Partner, ist ein ganz wichtiges Land, das auf einem schwierigen Kurs ist, aber wir müssen uns auch mehr um die Türkei zum Beispiel kümmern.
    Heuer: Sollte sich Deutschland militärisch am Kampf gegen den IS beteiligen?
    Röttgen: Wir haben ja gerade über Europa gesprochen. Ich glaube, dass das wichtig ist, dass wir das europäisch koordinieren. Und wir sind ja schon in einer Weise auch militärisch engagiert, wie es auch als Dammbruch empfunden wurde. Wir haben Waffen geliefert an die Peschmerga, wir bilden auch örtliche Streitkräfte aus, also wir sind schon dabei. Aber ich glaube, wir müssen mehr tun. Der IS ist nicht wirklich weder durch die Luftschläge, noch durch das militärisch getroffen, sondern es muss mehr werden, gar keine Frage.
    Heuer: Dann sprechen wir über die Verteilung der Flüchtlinge innerhalb Europas. Die Osteuropäer halten sich da ziemlich raus. Heute hören wir, die Slowakei will keine muslimischen, nur christliche Flüchtlinge aufnehmen und ja auch nur eine Handvoll. Wie finden Sie das?
    Röttgen: Das ist unsolidarisch und es ist auch Ausdruck und ein Beitrag zum Scheitern Europas, wenn man die europäische Handlungsfähigkeit torpediert durch Egoismus, den wir uns nicht leisten können, diesen Egoismus und das Scheitern. Und darum ist das Teil der Krise europäischer Handlungsfähigkeit, wenn man Probleme einfach verweigert. Der Problemdruck ist da und ihn den Staaten zu überlassen, wo die Menschen ankommen, weil sie die Grenzstaaten am Mittelmeer sind, das ist unsolidarisch. Und diese mangelnde Solidarität können wir uns an dieser wie an anderer Stelle in Europa nicht leisten. Darum müssen wir Druck machen.
    Heuer: Wie denn?
    Röttgen: Druck machen, indem wir sagen, dass jeder von Solidarität in Europa lebt, aber auch dadurch - das ist mein Vorschlag -, dass einzelne Staaten vorangehen - die Südländer, weil sie unmittelbar betroffen sind, aber auch die Länder, die schon viele Flüchtlinge aufnehmen. Das ist Deutschland, das ist Schweden, das sind ein paar andere Länder. Wir müssen vorangehen, indem wir eigene freiwillige Elemente einer europäischen Zusammenarbeit in der Flüchtlingspolitik entwickeln.
    Heuer: Herr Röttgen, das ist aber das Gegenteil von Druck machen.
    Röttgen: Nein!
    Heuer: Da reiben sich die Osteuropäer die Hände und sagen, na prima, da gehören die Flüchtlinge hin, nach Westeuropa, haben wir nichts mit zu tun.
    Röttgen: Ich glaube, dass Europa nicht vorankommt, indem immer der eine dem anderen sagt, was alle tun müssen. Das muss auch geschehen. Aber wir müssen dann schon vorangehen, diejenigen, die entschlossen sind. Ich glaube, das Europa der 28 wird auf diese gigantischen Herausforderungen nicht wirksam reagieren, indem wir immer warten, bis auch alle 28 an Bord sind. Sondern es braucht dann auch unterschiedliche, variable Zusammensetzung von Staaten, die vorangehen und zeigen, dass Europa etwas kann, nämlich Probleme lösen und dadurch überzeugen. Ich glaube, auf diesen Druck können wir nicht verzichten.
    Heuer: Herr Röttgen, plädieren Sie gerade für ein Europa der zwei Geschwindigkeiten, oder für ein Kerneuropa?
    Röttgen: Wie Sie es auch immer mögen. Ich glaube, dass die Zeit, die wir jetzt haben - wir könnten übrigens auch über den Euro sprechen, über die Flüchtlingspolitik, Ukraine, was auch immer -, beweist, dass das, was man so unterschiedlich benennen kann, ein Kern, der sich fester integrieren möchte, der vorangehen möchte in der Lösung von in Wahrheit europäischen Problemen, sich bilden muss, variabel. Die Idee, die älter ist, die ist durch die Herausforderungen von heute absolut bewiesen, genau das brauchen wir.
    Heuer: Wer kann, wer soll zu einem solchen, ich nenne das jetzt mal, Kerneuropa gehören?
    Röttgen: Ich glaube, dass es fast immer so ist, dass Deutschland die objektive Verantwortung trägt wegen unserer Stabilität, Größe, wirtschaftlichen Kraft, dabei mitzumachen. Die Aufgabe ist ja in Wahrheit, europäische Probleme auch europäisch zu lösen. Davon sind wir praktisch immer betroffen. Wir können immer Beiträge leisten. Und dann gibt es unterschiedliche Zusammensetzungen von Ländern, je nachdem ob der Problemdruck mehr aus dem Süden kommt, ob er aus dem Osten kommt, ob es um Jugendarbeitslosigkeit oder andere Themen geht, was auch ein europäisches Phänomen ist. Das kann durchaus variabel sein. Problemadäquat, glaube ich, muss man die Führungstruppe zusammensetzen.
    Heuer: Und dazu gehört Deutschland, Frankreich und?
    Röttgen: Das sind die großen Länder, auch Italien. Wenn es um das Thema Jugendarbeitslosigkeit, um die Wirtschaft geht, um Wachstum und Arbeitsplätze in Europa zu erzeugen, dann braucht man, glaube ich, diese drei großen Volkswirtschaften auch. Aber wenn es um Osteuropa geht, dann ist Polen ganz unverzichtbar. Und wenn es um den Süden geht, dann muss man auch Spanien dazu nehmen und andere Länder. Das, glaube ich, muss variabel sein. Das wäre ja ein Vorzug, dass es nicht immer dieselben sind und andere sind sozusagen in der Nachhut und auf dem langsameren Tempo, sondern das sollte variabel sein, je nachdem wie die Problemlage ist.
    Heuer: Und Großbritannien gehört da nicht mehr rein. Das ist das Land, das Sie nicht erwähnt haben.
    Röttgen: Ich bin unbedingt dafür, dass Großbritannien dabei ist. Ich würde es so sehr begrüßen, wenn bei all diesen Themen Großbritannien in der Außenpolitik als großes außenpolitisches Land, aber auch in anderen Bereichen Großbritannien mit dabei wäre, sich engagieren würde. Im Moment gibt es leider in Großbritannien die eher gegenteilige Diskussion über einen Brexit, also den Austritt des Landes, wenn nicht bestimmte Dinge passieren. Das halte ich für fatal, das ist ein Trend, wenn es dazu käme, der nur Verlierer produzieren würde. Großbritannien braucht Europa, Europa und Deutschland brauchen aber auch Großbritannien.
    Heuer: Der CDU-Außenpolitiker Norbert Röttgen im Interview mit dem Deutschlandfunk. Herr Röttgen, haben Sie vielen Dank.
    Röttgen: Ich danke Ihnen sehr.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.