Lemke sprach von inakzeptablen Vorgängen an der ungarischen Grenze. Diese Kritik mache sie auch in den Gespräch mit ungarischen Regierungsvertretern deutlich, und diese Kritik werde auch aufgenommen. Allerdings, räumte Lemke ein, ändere sich die Politik dadurch gegenwärtig nicht.
Aus Sicht von Lemke sind Ungarn und die Politik von Regierungschef Viktor Orban nicht das gleiche, es gebe deutliche Kritik in der Zivilbevölkerung und bei NGOs an der Regierung. Das sei ein positives Signal, die Gespräche, die sie in Ungarn führe, machten deshalb durchaus Sinn. Gerade Kritik aus Deutschland werde "sehr sensibel" aufgenommen.
"Europa hat zu spät reagiert"
Lemke betonte, dass sich die Szenen, die sich gegenwärtig an der Grenze zu Ungarn abspielten, kein ungarisches Problem seien. "Wir erleben das Versagen der europäischen Flüchtlingspolitik", sagte Lemke. Aus ihrer Sicht handelt es sich um Reaktionen auf eine Flüchtlingswelle, von der bekannt gewesen sei, dass sie komme, aber auf die zu falsch, zu spät und zu schwach reagiert worden sei.
"Wir haben die Bilder von ertrinkenden Flüchtlingen im Mittelmeer seit Monaten, seit Jahren vor Augen", sagte Lemke. Es habe von vielen Seiten Mahnungen gegeben, "dass es nicht ausreiche, Schlepperboote zu versenken oder mit dem Finger auf die Griechen zu zeigen, die die Flüchtlingsströme nicht adäquat versorgen können. Diese Probleme sind seit Monaten bekannt, und jetzt kumulieren sie, auch in den Wasserwerfern in Ungarn". Bei ihren Gesprächen in Budapest habe sie den Eindruck gewonnen, dass Ungarn sich alleine gelassen gefühlt habe mit dem Problem.
Das Interview in voller Länge:
Tobias Armbrüster: Es waren Bilder, die viele schockiert haben dürften gestern: die Szenen am Grenzübergang bei Röszke in Ungarn. Das ist seit Wochen einer der Dreh- und Angelpunkte auf der sogenannten Balkan-Route. Aber seitdem die ungarische Regierung ihre Grenze zu Serbien in dieser Woche dicht gemacht hat, kommt dort niemand mehr durch. Gestern haben nun mehrere hundert Flüchtlinge genau dagegen protestiert. Steine wurden geworfen. Die ungarische Polizei hat mit Wasserwerfern und Tränengas reagiert. Es gab zahlreiche Verletzte und es gab ein deutliches Signal: Ungarn setzt offenbar alle Kräfte ein, um niemand ins Land zu lassen, und schreckt dabei auch nicht zurück vor drastischen Mitteln. - Am Telefon ist jetzt Steffi Lemke, die Parlamentarische Geschäftsführerin der Grünen im Deutschen Bundestag. Sie ist zurzeit in Ungarn unterwegs und wir erreichen sie in Budapest. Schönen guten Morgen, Frau Lemke.
Steffi Lemke: Schönen guten Morgen.
Armbrüster: Frau Lemke, was bekommen Sie in Budapest mit von dieser Eskalation an der serbisch-ungarischen Grenze?
Lemke: Den Einsatz der Wasserwerfer und von Tränengas gegen Flüchtlinge haben wir gestern auch nur über die Medien verfolgt, weil wir im Moment noch in Budapest sind zu Gesprächen mit NGOs, mit Parlamentariern, mit Regierungsvertretern und erst heute zu einem der ungarischen Flüchtlingslager reisen werden.
Armbrüster: Wenn Sie nun mit ungarischen Politikern sprechen, wie ernst nehmen die denn diese Entwicklung dort?
Lemke: Es ist eine relativ ambivalente Reise, muss ich Ihnen sagen, weil natürlich diese absolut inakzeptablen Vorgänge von uns angesprochen werden, wir die deutliche Kritik daran äußern und die ungarischen vor allem Regierungsvertreter diese Kritik auch durchaus aufnehmen, aber natürlich die ungarische Politik dadurch gegenwärtig nicht geändert wird. Und trotzdem merken Sie, dass Ungarn und die Politik von Viktor Orbán, von der ungarischen Regierung nicht ein und das gleiche sind, dass es sowohl Zivilgesellschaft, NGOs als auch Parlamentarier gibt, die diese Politik deutlich kritisieren, diese Kritik anbringen und mitnichten damit einverstanden sind, wie in Ungarn agiert wird vonseiten der Regierung.
"Zu spät, zu schwach und falsch reagiert"
Armbrüster: Ist das denn ein offener Diskurs, der da gepflegt wird in Ungarn?
Lemke: Wir können hier sehr offen reden. Das ist auf jeden Fall ein positives Signal. Diese Gespräche machen Sinn. Die Kritik gerade aus Deutschland wird hier sehr sensibel aufgenommen. Mein Eindruck ist auch, dass Regierungsvertreter auf Kritik aus Deutschland reagieren, dass das hier ankommt. Es ändert die Politik im Moment nicht, aber das macht, glaube ich, die zweite Ambivalenz der Reise aus, dass es nicht um ein ungarisches Problem geht, genauso wenig wie es auf Kos um ein griechisches Problem geht, sondern dass wir das Versagen europäischer und auch deutscher Flüchtlingspolitik erleben und die Probleme aber halt nicht in Deutschland kumulieren im Moment, sondern hier an der Grenze oder in Griechenland auf Kos oder in Italien.
Armbrüster: Aber der Einsatz von Wasserwerfern und von Tränengas gegen Flüchtlinge, der ist ja nun mal eine ungarische Entscheidung.
Lemke: Der ist eine ungarische Entscheidung, genauso wie das Einführen von Grenzkontrollen eine deutsche Entscheidung ist, oder das Anhalten des Zugverkehrs eine deutsch-österreichische Entscheidung ist.
Armbrüster: Moment! Kann man diese beiden Dinge wirklich miteinander vergleichen?
Lemke: Ich glaube, dass es alles Reaktionen sind auf eine Flüchtlingswelle, von der eigentlich bekannt war, dass sie in Europa ankommen wird, aber auf die zu spät und zu schwach und, ich glaube, auch falsch reagiert worden ist. Natürlich muss man den Einsatz von Wasserwerfern gegenüber Flüchtlingen anders kritisieren, als man Kritik an Grenzkontrollen, als man Kritik am Scheitern von Dublin III oder Schengen üben muss, das ja im Moment in der Form nicht mehr aufrecht erhalten werden kann, diese europäische Gesetzgebung. Hier muss man diese Kritik unterschiedlich formulieren. Aber die Ursache dieser Kritik ist letztendlich, dass wir es nicht geschafft haben, auf diese Flüchtlingsströme eine adäquate Antwort zu finden in Europa.
"Nicht gelungen, eine adäquate Antwort auf die Flüchtlinge zu finden"
Armbrüster: Aber, Frau Lemke, da muss ich jetzt noch mal wiederholen. Deutschland lässt nach wie vor Flüchtlinge ins Land rein, kontrolliert zwar an den Grenzen, guckt nach, ob die Leute Papiere mit haben, aber lässt die Menschen ja rein, während Ungarn niemanden rein lässt und im Gegenteil noch mit Wasserwerfern gegen wehrlose Flüchtlinge, auch gegen Familien vorgeht, Kinder werden davon auch getroffen. Ist das nicht ein himmelweiter Unterschied, ein völliger, ein qualitativer Unterschied in der Reaktion?
Lemke: Das habe ich ja bestätigt, dass ich dieses teile, dass diese Reaktionen sich sehr, sehr unterscheiden. Wenn Sie sich Herrn Seehofer angucken, ist er aber - oder auch die CSU - an der ungarischen Reaktion schon ein klitzekleines Stückchen näher dran. Und wir haben die Bilder von ertrinkenden Flüchtlingen im Mittelmeer seit Monaten vor Augen, seit Jahren vor Augen. Zivilgesellschaft, NGOs, auch wir Grüne haben immer wieder gemahnt, dass es nicht ausreicht, dort ein paar Schlepperboote zu versenken, oder mit dem Finger auf die Griechen zu zeigen, die die Flüchtlingsströme nicht adäquat versorgen können. Diese Probleme sind seit Monaten bekannt und jetzt kumulieren sie auch in diesem Wasserwerfer-Einsatz an der ungarischen Grenze gestern. Ich will darauf hinaus, dass die Ursache des Problems das gleiche ist. Uns ist in Ungarn vermittelt worden - ich teile das nicht, wir haben dieses auch zurückgewiesen -, dass Ungarn sich alleine gelassen gefühlt hat mit diesen Problemen. Herr Asselborn hat gestern Abend ja darauf hingewiesen, dass es Hilfsangebote von Europa gegeben hat, aber insgesamt ist es nicht gelungen, eine adäquate Antwort auf diese vielen Flüchtlinge, die im Moment vor Krieg, vor Vertreibung nach Europa kommen, zu finden.
Armbrüster: Steffi Lemke, die Parlamentarische Geschäftsführerin der Grünen im Deutschen Bundestag war das. Vielen Dank für dieses Gespräch nach Budapest.
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