Jürgen Zurheide: Zwei Meldungen in dieser Woche stechen ganz besonders heraus: Die eine habe ich hier vor mir liegen, die UN sagt, die Zahl der Bootsflüchtlinge im Mittelmeer sei stark rückläufig, allerdings noch immer sterben viele, viele Menschen, nämlich Tausende dort im Mittelmeer. Auf der anderen Seite: Gestern hat der EU-Kommissar Oettinger darauf hingewiesen, dass die Türkei bei allen Problemen, die die Türkei hat, durchaus Unterstützung verdient, wenn sie denn Flüchtlinge aufnimmt. Das führt uns zu der Frage, was kann und was muss denn möglicherweise in den Herkunftsländern getan werden, damit weniger Menschen ihr Land verlassen und Lebensgefahr für sich auf sich nehmen. Darüber wollen wir reden mit Kilian Kleinschmidt, der für die Vereinten Nationen in den letzten 25 Jahren in Pakistan, im Kongo, aber auch in Jordanien entsprechende Lager geleitet hat. Er ist jetzt bei uns am Telefon. Guten Morgen, Herr Kleinschmidt!
Kilian Kleinschmidt: Guten Morgen!
Zurheide: Herr Kleinschmidt, wenn ich Sie als Erstes mal frage, und Sie sind auch gerade jetzt wieder unterwegs gewesen in Libyen zum Beispiel, wie ist denn die Lage aus Ihrer Sicht in diesem Land, der Zustand dort, wo Menschen warten, möglicherweise nach Europa zu flüchten? Was haben Sie da angetroffen?
Kleinschmidt: Wir wissen, dass sehr, sehr viele Menschen auf dem Sprung in Richtung Europa in Nordafrika warten. Gleichzeitig müssen wir uns auch klar machen, dass natürlich auch viele, viele innerhalb von Afrika migrieren, viele innerhalb von diesem Kontinent nach neuen Perspektiven und Möglichkeiten suchen. Deswegen habe ich immer wieder das Gefühl, wir von unserer Seite versuchen dieses Problem nur auf uns zu beziehen. Nein, es geht um Migration, es geht um Herkunftsländer, in denen Perspektiven fehlen, in denen Menschen versuchen, an ein Leben heranzukommen, auf das sie auch ein Recht haben, und das ist im Augenblick das Thema.
Zurheide: Noch mal konkret zu Libyen gefragt, was haben Sie da vorgefunden?
Kleinschmidt: Um das klarzustellen: Ich war nicht in Libyen, sondern im Nahen Osten. Libyen natürlich wissen wir sehr wenig, weil Libyen sehr schwer zugänglich ist. Deswegen ist immer wieder von diesen furchtbaren Lagern die Rede, an die die Hilfsorganisationen gar nicht herankommen, und das ist natürlich sehr besorgniserregend, dass wir im Augenblick alles darauf basieren, dass wir Leute zurück-, davon abhalten, auf das Mittelmeer zu kommen und in Libyen zu bleiben, wo Vergewaltigungen, wo Sklaverei, wo Ausnutzung und Ausbeutung von Menschen an der Tagesordnung ist. Wir vergessen auch immer wieder, dass viele, und viel mehr als im Mittelmeer, in der Wüste zu Tode kommen, und das ist eben das Erschreckende, dass wir im Augenblick da die Augen zu tun, denn wir schauen nur aufs Mittelmeer.
Zurheide: Dann kommen wir zu den Ländern, die Sie gerade auch in dieser Zeit noch besucht haben im Nahen Osten. Wie ist dort die Lage? Sie waren – das ist bekannt, und wir haben mehr als einmal auch hier in diesem Programm mit Ihnen darüber gesprochen –, Sie waren in Zaatari in Jordanien an der Grenze in diesem Lager. Wie sind denn die Zustände im Moment in – wenn ich Sie frage – Jordanien, aber auch im Libanon, möglicherweise in der Türkei? Beginnen wir da vielleicht mit Jordanien.
"90 Prozent der Flüchtenden sind ärmer geworden"
Kleinschmidt: Interessanterweise oder traurigerweise ist zu beobachten, dass über die letzten sechs Jahre – das ist die Zeit, in der wir jetzt diesen Bürgerkrieg, diesen furchtbaren Krieg in Syrien erleben –, dass wir immer noch nicht dazugelernt haben. Schon 2013, '14 fehlten die Mittel, dann kamen viele in Richtung Europa 2015, und wir haben angefangen zu finanzieren, und auf einmal haben wir das wieder vergessen, denn wir haben ja inzwischen, wie wir glauben, erfolgreich die Balkanroute geschlossen, und es fehlen schon wieder die Mittel. Menschen im Nahen Osten sind ärmer geworden über sechs Jahre des Krieges und sechs Jahre der Hilfe. Über 90 Prozent der Flüchtenden und auch viele der Lokalbevölkerung sind ärmer geworden, und da müssen wir uns natürlich die Frage stellen, was ist denn eigentlich los, was passiert denn nicht, und gerade hier muss man wirklich klar sagen, es fehlt an der Unterstützung an aufnehmende Gemeinden, denn die wenigsten Menschen sind ja in Lagern. Die meisten sind ja untergekommen bei lokaler Bevölkerung, werden dort ganz stark unterstützt, die Solidarität ist weiterhin sehr groß, ob das jetzt Irak, Libanon oder Jordanien und auch die Türkei ist, und da wird zu wenig getan und zu wenig unterstützt. Die Lager als solches, das geht. Man kann sagen, das ist vernünftig, aber außerhalb der Lager wird nichts getan.
Zurheide: Dabei höre ich doch immer von allen Politikern hierzulande und auch anderswo, ja, wir haben es verstanden, wir müssen mehr tun, wir können nicht wieder in die Situation kommen, wie wir sie von Ihnen geschildert 2013 hatten, wo zu wenig Mittel da waren. Also man sagt doch, wir tun da was, aber es passiert zu wenig, sagen Sie immer noch?
Kleinschmidt: Ja, natürlich passiert zu wenig, und das Ganze wird ja immer wieder in die Richtung der Hilfsbudgets abgeschoben. Es geht ja um ganz andere Dinge: Was macht ein Bürgermeister, wenn er eine Bevölkerung hat, die sich verdoppelt hat? Das ist der Fall in vielen Gemeinden im Nahen Osten. Was mache ich, wenn ich auf einmal 100.000 mehr Menschen in meiner Gemeinde, in meiner Stadt wohnen habe? Dann brauche ich mehr Wasser, mehr Abwassersysteme, brauch ich Müll, brauch ich aber auch Wohnbau. In diesem Bereich passiert weiterhin sehr wenig. Es wird einiges getan, die EU tut viel, Deutschland tut viel mehr als andere – das muss man auch sagen –, aber insgesamt ist das natürlich lächerlich im Vergleich zu dem Bedarf und auch zu den Kosten, die entstehen im Augenblick mit allem, was mit dem Thema Migration und auch Aufnahme und so weiter anderswo zu tun hat.
Zurheide: Kommen wir noch mal auf das, was Herr Oettinger gestern adressiert hat. Er hat ja gesagt, auch mit der Türkei müssen wir da zusammenarbeiten, obwohl uns vieles möglicherweise an der politischen Linie nicht gefällt. Richtig ist, die Türkei hat auch viele Menschen aufgenommen, und haben Sie das Gefühl oder den Eindruck oder vielleicht können Sie es beurteilen, dass das Geld, was da gegeben wird, wenn es denn ausreichend gegeben wird, dass es auch da ankommt, wo die Menschen es brauchen?
"Insgesamt macht das die Türkei ganz vernünftig"
Kleinschmidt: Also die Türkei macht es ganz vernünftig. Das müssen wir auch wirklich anerkennen. Von den über zwei Millionen Flüchtenden und Migranten, die in der Türkei sich aufhalten, sind ganze 250.000 in Lagern, die anderen sind in Gemeinden und Städten untergebracht. Sie haben nicht den perfekten Zugang zu Unterstützung. Es gibt natürlich sehr viele Schwierigkeiten im Bereich gerade des Schutzes von Minderjährigen, von Frauen und so weiter, aber insgesamt macht die Türkei das ganz vernünftig. Ich glaube auch, dass die Zusammenarbeit in Bezug auf die Mittel, die zur Verfügung gestellt werden, vernünftig laufen – das muss man ja auch noch mal sagen. Man hat ja der Türkei keinen Blankoscheck ausgestellt als solches, sondern man verwaltet die Mittel, die damals versprochen worden sind, die zwar immer noch nicht in der Gesamtheit geflossen sind, aber man verwaltet diese Mittel gemeinsam, und Projekte von Organisationen, aber auch der türkischen Institutionen werden dort unterstützt und gefördert, und das ist auch gut so und funktioniert, und das muss man wirklich auch mal so gesagt haben.
Zurheide: Das heißt, unter dem Strich – aber ich meine, ich weiß ja, wen ich da frage –, wenn man in solchen Ländern arbeitet, kann man sich die nicht aussuchen, mit denen man zusammenarbeiten muss. Das gehört dann da zum Spiel dazu, ob es einem gefällt oder nicht, oder?
Kleinschmidt: Natürlich. Ich meine, man arbeitet immer wieder mit Menschen zusammen, mit Systemen zusammen, wo man manchmal sagt, muss das jetzt sein, aber gleichzeitig wieder muss man sich klarmachen, dass diese Solidarität dennoch hauptsächlich in die Richtung der Lokalbevölkerung geht, die weltweit ja im Grunde die große Arbeit stemmen. Das sind diejenigen, die Leute bei sich aufgenommen haben. Viele arme Menschen nehmen arme Menschen bei sich auf, unterstützen sie, und das müssen wir anerkennen, und da können wir einfach nur sagen, bravo, und zum zweiten müssen wir sagen, wir können wir euch dabei helfen und darf nicht nur von uns entschieden werden, sondern muss eine enge Zusammenarbeit sein, und das müssen wir auch ändern in der Form, wie wir jetzt mit Afrika und mit afrikanischen Staaten zusammenarbeiten und auch anzuerkennen, dass es hier nicht darum geht, Almosen zu verteilen, sondern wirklich auch Strukturen zu entwickeln, die einer Bevölkerung und einer Gesamtbevölkerung, inklusive von Migranten und Flüchtlingen, zur Verfügung stehen.
Zurheide: Sie haben es gerade angesprochen: Die Menschen sitzen nicht nur auf gepackten Koffern, sondern sie fliehen, weil die Lage außerordentlich schwierig ist. Wenn die Vereinten Nationen sagen – und das gehört zu den Grundsätzen –, eigentlich sollte man immer für eine heimatnahe Unterbringung sorgen. Ist das so etwas, was man dann hier aus westlicher Sicht so schnell sagt, um es abzulenken von den wirklichen Problemen oder sagen Sie, na ja, wir müssten das eigentlich hinkriegen. Wie sehen Sie das?
Kleinschmidt: Ja, natürlich. Ich meine, das hat aber auch damit zu tun, dass ich gleichzeitig-, also wenn ich davon rede, mehr zu tun in Herkunftsregionen, in Herkunftsländern, aber auch endlich in die Dörfer hineinzugehen, wo weiterhin sehr wenig passiert, wo zum Beispiel Migranten oder Menschen darüber nachdenken, wo sie hingehen, und im Allgemeinen denken sie darüber nach, in welche nahegelegene Stadt sie in Afrika gehen, wenn wir über Afrika reden zum Beispiel, und dass wir dort aber auch verstehen müssen, dass es gleichzeitig darum geht, legale Möglichkeiten zu schaffen zu migrieren, wie wir das ja auch selber gerne tun, und das aber zu verbinden mit Mitteln, die auch wirklich in Dinge hineingehen, die im Augenblick wirklich in vielen Regionen der Welt weiterhin nicht zugänglich sind für Menschen, und das ist Energie, Wasser. Wir müssen auch wirklich investieren in die Folgen des Klimawechsels und Wandels in Afrika, das viele, viele Menschen in Bewegung setzt und setzen muss, wenn auf einmal die Dürre nicht mehr alle zehn Jahre kommt, sondern alle drei oder vier.
Zurheide: Kilian Kleinschmidt war das und ist das. Ich danke Ihnen ganz herzlich für die Einsichten, die Sie uns heute Morgen vermittelt haben, für den Appell, den Sie gemacht haben. Danke schön, Herr Kleinschmidt!
Kleinschmidt: Danke sehr!
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