"Die EU ist immer in der Krise stärker geworden", sagte Oettinger. Er sei sich sicher, dass die Minister bei der Frage verbindlicher Aufnahmequoten für Flüchtlinge bald zu einer Lösung kämen. "Jede Regierung hat in Teilen der Öffentlichkeit und in Teilen des Parlaments Bürger und Mandatsträger, die überhaupt nicht einsehen, dass hier Solidarität geübt werden muss. Diese müssen wir überzeugen, gegebenenfalls überstimmen."
Wenn das beschlossen werde, seien die Mitgliedsstaaten in der Pflicht, das einzuhalten. "Gegebenenfalls muss die Kommission gegen Mitgliedsstaaten, die dies nicht einhalten und nicht praktizieren, durch Vertragsverletzungsverfahren - wir haben zahlreiche schon laufen - vor Gericht dafür sorgen, dass diese Mitgliedsstaaten im europäischen Rechtsstaat auch europäisches Recht anwenden", so Oettinger. Die von der EU-Kommission vorgeschlagene Quotenregelung orientiere sich an der Zahl der Einwohner, der wirtschaftlichen Situation und der Zahl der Arbeitslosen in den jeweiligen Ländern.
In Bezug auf den Besuch von Ungarns Ministerpräsident Viktor Orban in Brüssel sagte Oettinger, es werde bei den Gesprächen nicht maßgeblich um den neu errichteten Grenzzaun gegen Flüchtlinge gehen, sondern um Möglichkeiten der EU dem Land mit dem Flüchtlingsansturm finanziell und bei der Verwaltung zu helfen. In Bezug auf die Barriere sagte Oettinger: "Der Zaun ist aus unserer Sicht wenig hilfreich."
Der deutsche EU-Kommissar sprach sich dafür aus, in Ungarn sogenannte Hotspots einzurichten, wo Flüchtlinge vor Ort ihren Asylantrag stellen können. Es sei wichtig, möglichst schnell darüber zu entscheiden, ob ein Anspruch auf Bleiberecht bestehe oder nicht, anstatt die Asylsuchenden vorher durch Europa fahren zu lassen.
Das Interview in voller Länge:
Peter Kapern: In der Europäischen Union geht er ja vielen auf die Nerven, Ungarns rechtspopulistischer Ministerpräsident Viktor Orbán. Wenn er die Opposition gängelt, die Medienfreiheit in seinem Land einschränkt, gegen ausländische Konzerne vorgeht oder mit Wladimir Putin liebäugelt, dann ist in Brüssel ein lautes Stöhnen zu hören, so wie auch jetzt wieder, als Orbán eine europäische Flüchtlingsquote abblockt und stattdessen unter Missachtung des Europarechts Flüchtlinge ohne Registrierung nach Österreich und Deutschland weiterreisen ließ. Heute kommt Viktor Orbán nach Brüssel.
Bei uns am Telefon ist EU-Kommissar Günther Oettinger. Guten Morgen, Herr Oettinger!
Günther Oettinger: Guten Morgen, Herr Kapern.
Kapern: Herr Oettinger, ich weiß nicht, ob Sie heute Morgen schon einen Blick in die „Süddeutsche Zeitung" geworfen haben. Die gibt es ja um diese Uhrzeit auch schon in Brüssel. Da prangt auf der Titelseite die Überschrift: "Wieder Grenzkontrollen am Brenner!" Und in der Tat muss man hier die Frage aufwerfen: Wirft die Flüchtlingskrise die Europäische Union eigentlich gerade um 20 Jahre zurück?
Oettinger: Herr Kapern, wir haben eine Lage wie seit Ende des Zweiten Weltkriegs nicht mehr. Damals hatten wir unglaubliche Flüchtlingsströme, Vertriebene, und vielleicht auch vergleichbar ist die Lage nach dem Fall der Mauer und dem Zusammenbruch der Sowjetunion. Jetzt haben wir um Europa herum Regionen der Instabilität mit Terror, mit Diktatur, mit Armut, mit keiner Perspektive, von Libyen, Mali über Eritrea, Palästina bis nach Irak und Syrien, und deswegen ist doch klar, dass unsere bisherigen Instrumente nicht ausreichen.
Kapern: Aber die Bewegungsfreiheit der Menschen in Europa, Herr Oettinger, das ist doch nicht nur ein Instrument; das ist doch ein Wesenskern der Europäischen Union in der heutigen Zeit.
Oettinger: Die bleibt ja auch erhalten. Wenn Sie morgen mit Ihrem Fahrzeug nach Warschau fahren, oder wenn ich nach Wien will, oder wenn ich von Straßburg Richtung Madrid fahren will, habe ich keinerlei Einschränkung.
Kapern: Aber ich habe offenbar wieder Grenzkontrollen am Brenner offenbar wieder.
Oettinger: Das ist erst einmal eine Amtshilfe. Die bayerische Staatsregierung ist nicht mehr in der Lage, in Rosenheim, in München die Registrierung durchzuführen. Das heißt, die Aufnahme von Daten von möglichen Asylbewerbern, damit überhaupt die Verfahren beginnen können im Rechtsstaat. Deswegen haben die Bayern, die Deutschen die Italiener gebeten, helft uns, was ja durchaus naheliegend ist, denn viele Flüchtlinge kommen ja vom Süden in Italien, aus Lampedusa, aus Sizilien nach Norden, und dann ist es doch gut, wenn die Italiener sie nicht nur durchschleusen, sondern auch egal wo (und sei es an der Grenze zu Österreich und Deutschland) entsprechende Kontrollen durchführen und die Erstregistrierung veranstalten.
Kapern: Das heißt also, die italienischen Zollbeamten führen wieder Grenzkontrollen ein, werfen damit Europa um Jahre, Jahrzehnte zurück, weil die bayerische Staatsregierung versagt?
Oettinger: Nein! Die Italiener erfüllen damit im Grunde ihre Pflicht, dass sie als Erstaufnahmeland nicht durchschleusen, sondern registrieren, und man dann gemeinsam und am besten über verbindliche Quoten die Bearbeitung bei Verwaltung und Gericht durchführt und die Unterbringung in dieser Zeit menschenwürdig macht.
"Europa, nicht die Europäische Union allein ist in ihren Grundfesten erschüttert"
Kapern: Darüber hinaus sind ja noch andere Phänomene des Krebsgangs der Europäischen Union zu beobachten, Herr Oettinger. Die Regierungen der Mitgliedsstaaten schieben sich öffentlich gegenseitig die Schuld für die Flüchtlingskrise zu. In dem Beitrag meiner Kollegin Annette Riedel ist das ja gerade angeklungen. Es wird mit dem Entzug von Geldern gedroht, es werden Grenzzäune gebaut, es wird mit dem Entzug von Stimmrechten gedroht oder jedenfalls wird das erwogen. Da muss man doch sagen, die Europäische Union ist in ihren Grundfesten erschüttert und wir müssen Angst haben, dass wir möglicherweise sehr bald in einer weit zurückentwickelten Union wach werden. Oder teilen Sie diese Befürchtung gar nicht?
Oettinger: Europa, nicht die Europäische Union allein ist in ihren Grundfesten erschüttert. Das gilt für die Türkei, das gilt für Serbien, für Montenegro, für Mazedonien, das gilt für alle Länder, weil wir in Nordafrika, in der Maghreb-Zone und im Nahen Osten, aber auch in der Ukraine kriegerische oder kriegsähnliche Entwicklungen haben und die sich jetzt auf uns auswirken. Wir brauchen eine gemeinsame europäische Politik und in der Tat, da helfen Schuldzuweisungen wenig. Deswegen: Wir als Kommission geben uns allergrößte Mühe, um jetzt entsprechende gerechte und für alle Mitgliedsstaaten und Nachbarstaaten leistbare Aufgaben zu verteilen.
Kapern: Wenn Sie nun eine gemeinsame Politik fordern, Herr Oettinger, dann klingt das ja - wie soll man das sagen? -, nehmen Sie es mir nicht krumm, fast blauäugig, angesichts dessen, was wir von den Regierungen der Mitgliedsstaaten und ihrem Verhalten untereinander gerade mitbekommen.
Oettinger: Jetzt warten Sie es ab. Die Europäische Union ist eigentlich immer in der Krise stärker geworden. Ich bin mir sehr sicher, dass die Innenminister aufgrund der Vorschläge der Kommission, die Herr Juncker nächste Woche vorstellen wird, auf jeden Fall dann der Europäische Rat, sich zu gemeinsamen Lösungen bereitfinden. Das wird jetzt nicht ganz leicht. Jede Regierung, egal ob in Berlin oder in Budapest, ob in Frankreich, ob in Rom, ob in Wien, hat natürlich auch in Teilen der Öffentlichkeit und in Teilen des Parlaments Bürger und Mandatsträger, die überhaupt nicht einsehen, dass hier Solidarität geübt werden muss. Diese müssen wir überzeugen, gegebenenfalls überstimmen. Das ist nicht ganz leicht und klar ist, hier ist die Solidarität Europas aufs Äußerste gefragt. Aber ich bin mir sicher, wir bekommen es hin, genau wie wir bei Griechenland letztendlich unter großen Schwierigkeiten zu gemeinsamen Entscheidungen gekommen sind.
Kapern: Einer von denen, die, was die Mitmenschlichkeit, die Solidarität angeht, zu den Skeptikern zählen, der taucht ja heute in Brüssel auf: Viktor Orbán, der ungarische Regierungschef. Was bekommt der dort zu hören, beispielsweise vom Kommissionschef Juncker?
Oettinger: Es geht heute nicht um Themen der letzten Monate, wo man in der Tat manche Äußerungen, manches Vorgehen der ungarischen Regierung unter Gesichtspunkten des europäischen Rechts kritisch hinterfragen muss. Auch der Zaun steht nicht im Vordergrund. Er ist aus unserer Sicht wenig hilfreich. Es geht entscheidend darum, dass derzeit der Wanderungsstrom über die Türkei, Griechenland, Bulgarien, den Westbalkan Ungarn erreicht und dieses kleine Land allein verwaltungstechnisch es nicht alleine packt. Deswegen geht es um Erfüllung von rechtsstaatlichen Pflichten, Menschenwürde. Die Erstunterbringung muss menschenwürdig sein. Dabei werden wir aber auch finanziell helfen und müssen auch prüfen, ob wir verwaltungstechnisch helfen. Das heißt, es geht darum, dass wir möglichst früh durch Hotspots, durch Erstunterbringung und nicht erst durch lange Beförderung der Menschen durch Europa vor Ort prüfen, ist Asylrecht schlüssig behauptet, ist Asylrecht ausgeschlossen, und damit im Grunde genommen die Verfahren, die in Ungarn durchgeführt werden müssen, verwaltungstechnisch durch Europa unterstützen.
Zur ungarischen Grenzbarriere: "Der Zaun ist wenig hilfreich"
Kapern: Damit ich ganz sicher bin, dass ich das jetzt gerade richtig verstanden habe, möchte ich noch mal nachfragen, Herr Oettinger. Da baut eine Mitgliedsregierung der Europäischen Union einen Zaun, der ein wenig an die Grenzbefestigung zwischen Israel und dem Gazastreifen erinnert. Da gibt es Mitglieder dieser Regierung, die Flüchtlinge als Ansteckungsgefahr und Tsunami bezeichnen. Und um all das soll es dann heute nicht gehen beim Besuch von Viktor Orbán in Brüssel?
Oettinger: Diese Äußerungen sind nicht akzeptabel. Das war aber auch gerade nicht Thema Ihrer Frage. Und der Zaun ist, ich wiederhole es, wenig nützlich, wenig hilfreich. Aber schauen Sie mal nach Spanien und Gibraltar: Dort ist die Abgrenzung zu Marokko ähnlich weitreichend durch Mauern und durch Zäune. Nur das ist für uns nicht das entscheidende Thema. Entscheidend ist, dass diese Flüchtlinge bei uns menschenwürdige Aufnahme bekommen und ein rechtsstaatliches Verfahren, egal wo sie auf die Europäische Union treffen, und dies wollen wir, indem wir die Mitgliedsstaaten, nicht nur Ungarn, auch Griechenland, auch Italien verwaltungstechnisch und in vielen Fällen unterstützen, in allen Mitgliedsstaaten garantieren.
Kapern: Und gleichwohl ist Viktor Orbán ja gegen eine Flüchtlingsquote. Wie geht die EU damit um?
Oettinger: Das wird dann in den Gremien beraten. Wir werden die verbindliche Quote nochmals vorschlagen, unseren Vorschlag, der ja schon im Mai gemacht worden ist, nochmals entlang der aktuellen Entwicklung der Flüchtlingszahlen weiterentwickeln, und gegebenenfalls werden wir dann auf der Grundlage unseres Vertragsrechts mit Mehrheit beschließen müssen. Ich glaube, dass eine Mehrheit für eine verbindliche Quote im Rat und im Parlament im Herbst möglich ist.
Kapern: Und wie wäre dann so eine mit Mehrheit entschiedene Verteilung von Flüchtlingen in der EU, beispielsweise in Ungarn oder in den baltischen Staaten möglich? Gegen den Widerstand der dortigen Regierungen?
Oettinger: Die wird sich orientieren an der Zahl der Einwohner, der Größe des Landes also, der Wirtschaftskraft des Landes, was kann ein Land wirtschaftlich leisten, an der vor Ort bestehenden Zahl von Arbeitsplätzen und der Arbeitslosenquote. Da haben wir klare Kriterien entwickelt, die, glaube ich, auch schlüssig sind. Und wenn dies beschlossen wird, wie jedes europäische Recht, dann sind die Mitgliedsstaaten in der Pflicht, das einzuhalten. Das gilt für Umweltrecht, das gilt für andere Rechtsgebiete, das gilt für das Thema Flüchtlinge und Migration, Asyl ebenso. Und gegebenenfalls muss die Kommission gegen Mitgliedsstaaten, die dies nicht einhalten und nicht praktizieren, durch Vertragsverletzungsverfahren - wir haben zahlreiche schon laufen - vor Gericht dafür sorgen, dass diese Mitgliedsstaaten im europäischen Rechtsstaat auch europäisches Recht anwenden.
Kapern: ... sagt der deutsche EU-Kommissar Günther Oettinger heute Morgen bei uns hier im Deutschlandfunk. Herr Oettinger, vielen Dank, dass Sie Zeit hatten. Ich wünsche Ihnen einen guten Tag!
Oettinger: Gleichfalls! Auf Wiederhören.
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