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Flüchtlingsaufnahme
Chef der Innenministerkonferenz relativiert Kritik aus München

Die Unterbringung von Flüchtlingen werde in allen Bundesländern durchgeführt, sagte der Präsident der deutschen Innenministerkonferenz, Roger Lewentz (SPD). Dennoch habe er Verständnis für die Strapazen, die Bayern mit der Flüchtlingsaufnahme habe, weil München die erste Anlaufstelle von Asylsuchenden der Balkanroute sei.

Roger Lewentz im Gespräch mit Bettina Klein |
    Der Vorsitzende der Innenministerkonferenz, der rheinland-pfälzische Innenminister Roger Lewentz (SPD)
    Der Vorsitzende der Innenministerkonferenz, der rheinland-pfälzische Innenminister Roger Lewentz (SPD) (picture alliance / dpa/ Torsten Silz)
    Bayern hätte am Wochenende eine Ausnahmesituation gehabt, und diese Massen an Menschen seien "schwer zu bewältigen", führte Lewentz aus. Dennoch seien seit Mitte vergangener Woche die ersten Flüchtlinge mit der Deutschen Bahn auch in andere Bundesländer verteilt worden. "Wir haben ja jeden Tag Zuzug von Hunderten und Tausenden von Flüchtlingen und verteilen die in unseren Ländern und verteilen die dann weiter in die Kommunen." Die Verteilung der Flüchtlinge laufe in allen 16 Bundesländern auf Hochtouren, betonte der Innenminister von Rheinland-Pfalz. Die Grenzschließung zu Österreich und das Aussetzen des Schengenabkommens gebe allen ein bisschen Luft, begrüßte er die jüngste Entscheidung der Bundesregierung. Die Herausforderungen im Oktober und November könnte man so bewältigen. Vor allem, wennn auch andere EU-Länder Flüchtlinge aufnähmen.
    Druck auf Deutschland senken
    Das EU-Innenminister-Treffen, an dem Lewentz als Präsident der deutschen Innenministerkonferenz auch teilnehmen wird, müsse den Druck auf Deutschland senken. "Wir brauchen die Aufnahmekapazitäten in den anderen Ländern. Einstimmig wäre schön, wenn es nur per Mehrheit geht, dann eben nur per Mehrheit."
    Lewentz fügte hinzu, er könne nicht akzeptieren, wenn EU-Länder Agrarsubventionen annehmen, aber nicht die Verteilung von Lasten trügen. "Wenn man eine Wertegemeinschaft in der EU ist, müssen alle ihren Beitrag leisten". Er nannte namentlich Großbritannien, Dänemark und Polen.
    Merkel hätte sich mit Bundesländern abstimmen müssen
    Von der Entscheidung von Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU), Flüchtlinge unkontrolliert aus Ungarn nach Deutschland einreisen zu lassen, seien die Bundesländer "völlig überrascht worden. Das war falsch." Lewentz ergänzte, da die Entscheidung aus humanitären Gründen geboten war, man hätte sich aber abstimmen müssen. Die Informationsstränge hätten offenkundig nicht funktioniert, das müsse in Berlin noch einmal besprochen werden, verlangte der SPD-Politiker.

    Das Interview in voller Länge:
    Bettina Klein: Die Erinnerung an die Zeit vor 26 Jahren wird bei vielen in Deutschland seit Wochen wieder wach. Damals kamen die Flüchtlinge aus der DDR vor allen Dingen über die nicht mehr gesicherten Grenzen in Osteuropa. Die Zukunft war ungewiss und ihren glücklichen Verlauf konnte damals niemand ahnen. Heute scheint, das ist einer der Eindrücke, etwas wie eine Gegenbewegung erkennbar. Angesichts Zehntausender Menschen, die hier Zuflucht suchen, führt Deutschland nun zumindest vorübergehend die Grenzkontrollen nach Österreich wieder ein. Die Schengen-Vereinbarung wird in gewisser Weise nicht ausgesetzt, aber gilt im Augenblick nicht, was den kontrollfreien Reiseverkehr angeht. Aber die Züge zwischen Deutschland und Österreich fahren wieder.
    Am Telefon begrüße ich Roger Lewentz von der SPD, Innenminister von Rheinland-Pfalz und derzeitiger Vorsitzender der Innenministerkonferenz in Deutschland. Schönen guten Morgen.
    Roger Lewentz: Schönen guten Morgen, Frau Klein.
    Klein: Herr Lewentz, Sie sind heute auch bei dem schon viel diskutierten EU-Treffen dabei. Die Innenminister wollen ja versuchen, eine Quotenregelung für die Aufnahme von Flüchtlingen zustande zu bringen. Was ist denn Ihre Rolle heute in Brüssel?
    Lewentz: Na ja. Bundesminister de Maizière und ich werden natürlich klar machen, wie die Situation derzeit in Deutschland ist. Wir haben ja enorm großzügig Flüchtlinge aufgenommen. Wir haben da, glaube ich, wirklich an der Spitze in der Europäischen Union gelegen. Das wollen wir im Grunde ja auch, aber wir sehen, dass wir an Engpässe geraten, dass hier im Moment eine Erschöpfung von Kapazitäten stattfindet, und dann ist doch klar: Wenn wir eine Wertegemeinschaft in der Europäischen Union sind, dann müssen alle auch ihren Beitrag leisten. Alle, das bedeutet auch Polen, das bedeutet Dänemark, Frankreich, England. Alle müssen mit dabei sein. Das entlastet uns in Deutschland und das zeigt, dass die Europäische Union eine Einheit ist.
    Druck auf Deutschland senken
    Klein: Um diese Frage auch Ihnen zu stellen, Herr Lewentz. Im Augenblick sieht es ja nicht so aus, dass man da auf eine einstimmige Lösung kommen wird, denn aus Staaten wie Tschechien, Slowakei, Polen, Ungarn etwa kommt ein klares Nein dazu. Gehen Sie davon aus, dass man mit Mehrheit dann diese Staatenüberstimmen wird, oder werden Druckmittel in Anwendung gebracht werden, um dort ein Ja zu erzwingen?
    Lewentz: Ich gehe da sehr ergebnisorientiert heran. Wir brauchen diese Aufnahmekapazitäten in den anderen Ländern, wir sind eine Europäische Union, und in dem Ministerrat gibt es eine Möglichkeit, per Mehrheit zu entscheiden. Schön wäre es natürlich einstimmig, aber wenn es dann per Mehrheit geht, geht es per Mehrheit. Ich kann Länder nicht verstehen und ihre Haltung nicht akzeptieren, die auf der einen Seite sehr gerne zum Beispiel die EU-Agrarsubventionen nehmen, aber dann im Verteilen der Lasten sagen, wir nicht. Das ist nicht zu akzeptieren.
    Klein: Aber da sagen Sie auch ganz klar, da sollen dann irgendwelche Strafmaßnahmen verhängt werden?
    Lewentz: Wissen Sie, die Methoden, wie wir erreichen, dass Gerechtigkeit in der Verteilung der Flüchtlinge einziehen kann, die sind mir relativ egal. Wenn die Bundesregierung Angebote an diese Länder machen kann, oder wenn Strafsanktionen vorgesehen sind, dann muss man diese heute diskutieren. Das ist vollkommen klar. Wir müssen von Brüssel zurückkommen und müssen ein Ergebnis haben, das den Druck auf Deutschland ein Stück reduziert, das uns entlastet und das uns sehr human mit dieser Flüchtlingswelle in Europa umgehen lässt.
    Kommunen sind von Merkel-Entscheidung überrascht worden
    Klein: Herr Lewentz, ich würde gern mal schauen auf die Bundesregierung, wie sie agiert hat in den letzten Tagen und Wochen. Ihre Partei gehört bekanntlich der Großen Koalition in Berlin an. Wir haben von der Bundeskanzlerin das Signal gehört, wir schaffen das, wir öffnen unsere Herzen und unsere Grenzen, die Menschen können herkommen zu Zehntausenden. Dann hat sich ein Eindruck der Überforderung in den betroffenen Kommunen eingestellt in den vergangenen Tagen und jetzt heißt es, wir müssen einfach die Grenzen zumindest vorübergehend und auf gewisser Ebene dichtmachen. Ist das Ihrer Meinung nach eine stringente Politik, oder üben Sie daran Kritik?
    Lewentz: Wenn man Kritik äußern darf, dann an der Tatsache, dass die Bundeskanzlerin uns alle überrascht hat, als sie das, was human geboten war, aber unabgestimmt dann in die Welt gesetzt hat, zu sagen, wir lassen die Ungarn-Flüchtlinge alle unkontrolliert nach Deutschland. Und die Bundesländer, die mit den Kommunen diese Aufnahme zu organisieren haben, sind völlig überrascht worden. Das war falsch und ich denke, das hat man in Berlin auch gesehen und eingesehen. Dass humanitär dort geholfen werden musste, das ist auch bei uns bei den Bundesländern ganz unbestritten. Aber wenn wir Tausende von Flüchtlingen auf einen Schlag aufnehmen sollen, gemeinsam mit den Kommunen, dann müssen wir das wissen. Dann brauchen wir jede Stunde Zeitvorlauf, weil das ein wirklich tagtäglicher Kampf ist, neue Liegenschaften, neue Unterkunftsmöglichkeiten zu finden. In Deutschland wollen wir nicht die Bilder, dass viele, viele Flüchtlinge auf der Straße kampieren, nachts im Freien sind, jetzt wo Herbst und Winter kommen. Das muss geordnet zugehen. Da müssen wir auch die Chancen bekommen, dies geordnet zu organisieren.
    Klein: Aber da hat man sich schon gefragt, wie kam denn das zustande, dass Länder sich nicht informiert, sondern überrumpelt gefühlt haben. Man konnte ja sogar in der Zeitung nachlesen, was da beschlossen wurde und dass die Reise dahin gehen würde. Sie wussten doch eigentlich bescheid!
    Lewentz: Na ja, wenn das in den Zeitungen morgens steht, ist es halt abends entschieden worden, um mal so ein einfaches Beispiel zu nehmen. Dann müssen wir aber auch abends Bescheid wissen, um diese 12, 14 Stunden auch nutzen zu können. Da hätte man sofort die Länder informieren müssen in dieser beschriebenen Situation. Das ist nicht geschehen und dann fehlt uns jede Stunde, um Aufnahmekapazitäten für Tausende tagtäglich neu hinzukommende Flüchtlinge dann zu organisieren. Wir sind ja jeden und jeden Tag gefordert, neue Kasernen, neue große Gelände mit Betten, mit Sanitäreinrichtungen zu bestücken. Die Lager sind leer, die Bestände der Firmen sind leer, das ist ein tagtäglicher Kampf, und dann ist es wichtig, wenn eine solche Entscheidung getroffen wird, mit der man Tausende erneut zu uns bringt, dass wir das wissen. Sonst kriegen wir das nicht hin.
    Informationsstränge haben nicht funktioniert
    Klein: Wer hat da etwas versäumt, das Bundesinnenministerium oder wer?
    Lewentz: Die Bundesregierung hätte die Länder informieren müssen. Üblicherweise geschieht das durch das Bundesinnenministerium, mit dem wir eigentlich einen sehr, sehr guten Kontakt haben. Das war ja eine Situation, die Bundeskanzlerin hat entschieden und dann haben die Informationsstränge offenkundig nicht funktioniert. Das muss man in Berlin miteinander besprechen. Wir sind seit dem letzten Mittwoch tagtäglich in Schaltkonferenzen, zu denen überwiegend ich einlade, auch mit Bundesinnenminister de Maizière. Wir arbeiten nach. Wir versuchen, jetzt sehr, sehr eng im Kontakt zu sein, und das scheint auch gut zu funktionieren.
    Klein: Auf der anderen Seite hörte man ja auch am Wochenende, dass gerade die Stadt München oder auch der Freistaat Bayern sich im Stich gelassen fühlen, durchaus auch von anderen Ländern, also Bundesländern. Die Frage war auch, weshalb werden nicht schnell solche Drehkreuze auch andernorts eingerichtet, zum Beispiel in Niedersachsen oder in Sachsen? Müssen sich da auch die anderen Bundesländer Kritik gefallen lassen, dass man zu langsam und zu schleppend dafür gesorgt hat, dass die Lasten nicht zu einseitig verteilt sind?
    Lewentz: Die Bayern haben garantiert die problematische Situation, dass sie sozusagen die Erstaufnehmenden in Deutschland sind, jedenfalls was die Balkan-Route betrifft. Das heißt, sie kriegen zunächst einmal 100 Prozent der von dort kommenden Flüchtlinge ab, bevor die in die Unterverteilung gehen.
    Man braucht Bundeshilfe
    Klein: Genau.
    Lewentz: Dass das eine Stadt wie München extrem strapaziert, das haben wir am Wochenende gesehen. Aber die Diskussion um einen weiteren Eisenbahn-Hub, die sind Mitte der letzten Woche gestartet. Wir sind dabei, Sie haben das Stichwort Niedersachsen gesagt, dies auch einzurichten. Da braucht man Bundeshilfe, da braucht man Hilfe der DB AG, das läuft alles. Dass die Bayern jetzt am Wochenende erneut eine Ausnahmesituation hatten, das haben wir alle gesehen und wir haben tagtäglich mit unserem Kollegen Herrmann aus Bayern telefoniert und jeder hat geguckt, wo man helfen kann. Diese Massen waren schwer zu bewältigen. Es ist geschafft worden, aber das war für München sicherlich sehr schwierig.
    Klein: Die Kritik ziehen Sie sich nicht an, die man auch vom Oberbürgermeister hörte, der sagte, er ist ziemlich frustriert darüber, dass die anderen Kommunen und Länder klagen, aber im Grunde genommen die Hauptarbeit von den Helfern in München geleistet werden muss?
    Lewentz: Das ist, glaube ich, das Problem, die große Herausforderung, die in München aber auch toll geleistet wurde. Ich verstehe den Oberbürgermeister, der wahrscheinlich rund um die Uhr dort vor Ort im Einsatz ist, organisiert, Entscheidungen treffen muss, dass es ihm nicht schnell genug geht, was andere Länder aufnehmen können, andere Bundesländer. Aber auch wir haben ja jeden Tag Zuzug von Hunderten und Tausenden von Flüchtlingen und verteilen die in unseren Ländern und verteilen die dann weiter in die Kommunen. Da laufen in allen 16 Bundesländern Apparate auf Hochtouren. Deswegen sind wir auch dankbar, dass es jetzt eine gewisse Pause gibt, um Luft zu holen und um die Flüchtlingsbewältigung ein wenig neu organisieren zu können. Diese Luft brauchen wir, und wenn es nur einige wenige Tage sind. Wenn dann hintendran mit dem heutigen Abend die Entscheidung steht, auch andere Länder in der Europäischen Union nehmen ihre Verpflichtung ernst, humanitär Flüchtlinge aufzunehmen, dann ist das eine Chance für uns, auch den Oktober und den November bewältigen zu können. Wenn jeden Tag diese Massen nur nach Deutschland kommen, dann, bin ich sicher, wird das System mehr als an seine Grenzen geraten.
    Klein: Roger Lewentz heute Morgen bei uns im Deutschlandfunk, SPD-Innenminister von Rheinland-Pfalz und derzeit Vorsitzender der Innenministerkonferenz und heute beim Innenministertreffen in Brüssel mit dabei. Ich danke Ihnen für diese Einschätzungen.
    Lewentz: Danke! Auf Wiederhören!
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.