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Flüchtlingsdebatte
"Es gibt keine sicheren Länder mehr"

Der Politikwissenschaftler Werner Ruf hält den Vorschlag, nordafrikanische Länder zu sicheren Herkunftsländern zu erklären, für zynisch. Sigmar Gabriel empfiehlt er, sich die Berichte zur Menschenrechtslage in Marokko und in Algerien anzuschauen. "Wir können Leute nicht in Länder abschieben, in denen ihnen Folter und Mord droht," sagte Ruf im DLF. Außerdem verursachten Deutschland und die EU "das Elend der Migration und der Flucht" selber.

Werner Ruf im Gespräch mit Martin Zagatta |
    Junge Lehrerin protestiert gegen Polizeigewalt.
    Demonstration gegen Polizeigewalt in Rabat (Marokko): Die Berichte von Amnesty International zeigten, dass Marokko und Algerien keine sicheren Herkunftsstaaten sein könnten, meint Werner Ruf. (dpa/picture-alliance/Abdelhak Senna)
    Martin Zagatta: Über eine Million Flüchtlinge sind 2015 nach Deutschland gekommen. Die Zustimmung in der Bevölkerung zu dieser Politik der offenen Grenzen sinkt. Das machen die jüngsten Umfragen deutlich. Der Zustrom soll begrenzt werden, da sind sich die meisten Politiker einig. Aber wie? Darüber ist man selbst im Regierungslager höchst uneins. Nicht nur zwischen CSU und CDU, auch die SPD fordert von Angela Merkel nun ernsthafte Maßnahmen. Und der neueste Vorschlag für Flüchtlinge aus Nordafrika: Aus Staaten wie Tunesien, Marokko und Algerien soll es nun Schnellverfahren geben, angelehnt an den Umgang mit den Balkan-Staaten. Verbunden sind wir jetzt mit Professor Werner Ruf, Politikwissenschaftler und Maghreb-Experte. Guten Tag, Herr Ruf.
    Werner Ruf: Guten Tag, Herr Zagatta.
    Zagatta: Herr Ruf, die Union will Marokko, Algerien und Tunesien jetzt als sichere Herkunftsstaaten einordnen. Spricht da aus Ihrer Sicht irgendetwas dagegen? Wir kennen ja zum Beispiel Marokko als ziemlich beliebtes und auch recht sicheres Urlaubsland.
    Ruf: Ja, bis auf die Anschläge, die es dort auch schon gegeben hat. Die liegen zwar etwas zurück, aber die waren auch massiv. Es gibt keine sicheren Länder mehr heute. Das ist das eine, was wir sehen müssen. Nicht nur, weil in Paris Bomben explodieren oder in Burkina Faso ein Hotel angegriffen wird. Nein, der Punkt ist: Ich würde Herrn Gabriel und auch Frau Dreyer doch mal empfehlen, sie sollen sich irgendwann für fünf Minuten die Berichte von Amnesty International zur Menschenrechtslage in Marokko und in Algerien anschauen. Dann wird es ihnen wahrscheinlich ein bisschen schwerfallen, hier noch von sicheren Herkunftsländern zu sprechen. Wenn Sie überlegen, dass im algerischen Bürgerkrieg - und der ist nicht zu Ende - zwischen 10.000 und 30.000 Menschen verschwunden sind - das heißt in der Regel Menschen, die umgebracht worden sind und nie wieder irgendwo auftauchen -, dann kann man nicht als Europäische Union und als Bundesrepublik Deutschland von Menschenrechten sprechen und dann nach Belieben sichere Herkunftsländer definieren.
    Jugendliche haben keine Zukunft - Flucht nachvollziehbar?
    Zagatta: Wie ist es aber mit Marokko oder Tunesien beispielsweise, denn die Anerkennungsquote, habe ich heute Morgen gelesen, für Flüchtlinge aus diesen Ländern, die liegt deutlich unter fünf Prozent?
    Ruf: Ja. Das ist natürlich eine Frage, wie ich die Verfahren handhabe. Und es ist auch ganz klar, wenn jetzt beschleunigte Verfahren eingeführt werden, dass dann kaum mehr eine fundierte Prüfung möglich sein wird. Genau deswegen soll das ja gemacht werden und ich halte diesen Vorschlag für zynisch.
    Zagatta: Ist etwas dran an dem Vorwurf, dass aus diesen Ländern besonders viele Menschen kommen, die Wirtschaftsflüchtlinge genannt werden? Kann man das so sagen?
    Ruf: Wissen Sie, ich kann es nicht sagen, weil ich die Daten nicht überprüfen kann, und ich denke, die Leute, die vollmundig mit solchen Daten operieren, haben das auch nicht getan. Was sind Wirtschaftsflüchtlinge? Wenn Sie überlegen, dass in diesen Ländern aufgrund der sozialen und wirtschaftlichen Verhältnisse insbesondere Jugendliche keinerlei Zukunft haben, dann versteht man, warum sie unter Lebensgefahr versuchen, übers Mittelmeer nach Europa zu kommen. Oder aber, wenn Sie sagen, mit die größte Zahl der Dschihadisten in Syrien und Irak sind tunesischer Herkunft, dann spiele ich noch mal den Herrn, dann bin ich noch mal jemand, da verdiene ich sogar Geld, dann gehe ich eben zu den heiligen Krieger. Das sollten wir uns auch überlegen, ob wir dazu beitragen wollen.
    "Wir verursachen das Elend der Migration und der Flucht selber"
    Zagatta: Herr Ruf, jetzt sollen ja die Übergriffe der Silvesternacht in Köln, diese Angriffe auf Frauen, hauptsächlich von Nordafrikanern, von Flüchtlingen aus den Maghreb-Staaten ausgegangen sein. Haben Sie dafür eine Erklärung?
    Ruf: Dafür habe ich eigentlich keine Erklärung. Erst mal sollen sie ausgegangen sein. Wir konzentrieren uns darauf. Wir sehen nicht, dass bei uns von weißen Männern, ich glaube, seit Silvester 300 Vergewaltigungen im eigenen Heim oder in der Umgebung erfolgt sind. Dahinter stecken natürlich rassistische Vorurteile, die genährt werden, und es mag durchaus sein, dass viele davon Nordafrikaner waren. Dann muss man aber, bitte schön, prüfen, was sind das denn für Menschen. Sind das Leute, die vielleicht schon lange hier leben, deren Integration nicht geklappt hat? Sollen das alles Flüchtlinge gewesen sein? Auch darüber kriegen wir keine Informationen und ich halte das für eine sehr, sehr gefährliche Politik zu sagen, das sind jetzt die Flüchtlinge, ohne dass man es geprüft hat.
    Zagatta: Jetzt abgesehen von dieser ganzen Diskussion und wie berechtigt diese Forderungen sind, diese Länder zu sicheren Herkunftsstaaten zu erklären, ist es ja nun mal so, dass 5.500 Menschen - das haben wir jetzt eben in dem Bericht gehört - aus Nordafrika bei ihren Asylverfahren keinen Erfolg hatten, dass sie eigentlich abgeschoben werden sollen, dass das aber so gut wie nicht geschieht, weil die Herkunftsländer sie nicht zurücknehmen wollen. Warum eigentlich? Gibt es dafür eine Erklärung?
    Ruf: Ich denke, dass für die Herkunftsländer es natürlich auch einfach ist, einen bestimmten sozialen Druck, der da ist, in dieser Weise zu entsorgen, aber man müsste das auch im Einzelfall prüfen. Und sehen Sie, wenn die Bundesrepublik Deutschland jetzt in Algerien 1.400 Fuchs-Panzer baut, dann muss man sich überlegen, wofür ist das. Stärkt man ein Regime, damit es seine Bevölkerung unterdrücken kann und dass noch mehr Elend, noch mehr Druck geschieht? Müsste man da nicht ein anderes Paket schnüren und sagen, okay, wir fördern eure Rüstung nicht mehr, wir kooperieren mit euch nicht mehr in bestimmten Bereichen, damit dieser Druck dort nachlässt. Wir verursachen das Elend der Migration und der Flucht selber, und dann zu unterscheiden zwischen politischen Flüchtlingen und wirtschaftlichen Flüchtlingen, das ist sehr schwer im Einzelfall. Da könnte man vielleicht mal interessante Interviews mit den Leuten vom BAMF, vom Bundesamt für Migration führen, wie denn da die Trennungslinie läuft.
    Marokko hält nach wie vor die Westsahara völkerrechtswidrig besetzt
    Zagatta: Jetzt gibt es auf der einen Seite aber beispielsweise Marokko als Gastland bei der Grünen Woche in Berlin. Auf der anderen Seite heißt es, die marokkanische Botschaft in Deutschland, die antworte überhaupt noch nicht mal auf Anfragen der Bundesregierung. Auf der einen Seite arbeitet man so gut zusammen oder erweckt den Eindruck und auf der anderen Seite funktioniert es überhaupt nicht. Woher kommt so was?
    Ruf: Richtig. Das habe ich aber gerade zu sagen versucht. Wenn man gegenüber einem Land wie Marokko Druck machen will, dann kann man es nicht auf der einen Seite hofieren, kann man nicht auf der einen Seite groß die Grüne Woche feiern, den Tourismus feiern oder darüber hinwegsehen, dass Marokko nach wie vor die Westsahara völkerrechtswidrig besetzt hält. Dann muss man dort ansetzen, wo man Druck ansetzen kann. Das hat natürlich dann wieder Rückwirkungen auf unsere eigene Wirtschaft.
    Zagatta: Und passiert ja im Moment zumindest mit Drohungen, die Entwicklungshilfe dort einzuschränken, Hilfen aus Deutschland oder der EU zu kürzen. Was würde das bedeuten?
    Ruf: Ich weiß nicht genau, was das bedeuten würde, denn im Grunde genommen ist diese Wirtschaftshilfe oft auch nur Türöffner für deutsche Unternehmen, die daran das größte Interesse haben. Das ist auch wieder ein Problem, wo der Ball eigentlich in unserem Feld liegt und nicht im Feld der dortigen Länder.
    Zagatta: Trotzdem noch mal eine Frage, weil ich diese Zusammenarbeit eigentlich nicht verstehe. Da war ja der algerische Präsident vor wenigen Tagen erst in Berlin. Man hat sich die Hände geschüttelt, hat sich bestens verstanden und mit Algerien soll es auch ein solches Rückführungsabkommen geben. Warum wird das nicht umgesetzt?
    Ruf: Hier war nicht der Präsident Algeriens.
    Zagatta: Der Ministerpräsident.
    Ruf: Der ist unbeweglich. Es war der Ministerpräsident.
    "Da wird mit Zahlen Stimmung gemacht, ohne dass vorher geprüft wird"
    Zagatta: Der Ministerpräsident, ja genau.
    Ruf: Die Frage ist, was ist wichtiger, die 1.400 Fuchs-Panzer beispielsweise, das Öl und das Gas aus Algerien - das sind Druckmittel, die dieses Land hat -, oder die Frage der Rückführung der Flüchtlinge, wo man wirklich, bitte schön, bitte schön, auch um unsere eigenen, immer wieder beschworenen Werte nicht zu beschädigen, genauer hinschauen muss, was sind das für Leute, was sind das für Fluchtursachen. Denn was den Menschen passiert, wenn sie zurückkommen, das ist unerträglich.
    Zagatta: Das heißt - wir haben den ja am Anfang gehört, um zu dieser Diskussion hinzuführen -, der Bundeswirtschaftsminister und SPD-Chef Sigmar Gabriel, der wäre eigentlich genau der richtige, der in dieser Diskussion dann gefragt wäre?
    Ruf: Das wäre die richtige Adresse. Und lassen Sie mich noch mal eines sagen: Nach unserer Gesetzeslage können wir Leute nicht abschieben in Länder, in denen ihnen Folter und Mord droht. Und es mag genau dies der Grund sein, warum, wenn die Zahlen stimmen - 5.500 sollen ausreisen, 53 sind ausgereist -, sie nicht abgeschoben werden können. Da wird mit Zahlen Stimmung gemacht, ohne dass vorher geprüft wird.
    Zagatta: ... sagt der Politikwissenschaftler und Maghreb-Experte Professor Werner Ruf. Herr Ruf, herzlichen Dank für das Gespräch.
    Ruf: Ja, ich bedanke mich auch bei Ihnen. Ich war etwas harsch, aber die Diskussion nervt mich tatsächlich ein bisschen.
    Zagatta:
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.