Thilo Kößler, Redakteur am Mikrofon:
Niemand weiß, wie viele Todesopfer der gefährliche Transit in Richtung Europa auch in diesem Jahr wieder gefordert hat. Sicher ist nur: Es waren viele. Und doch hat die Zahl der sogenannten illegalen Migranten, die über das Mittelmeer oder den Atlantik Italien, Spanien oder die Kanarischen Inseln erreichten, offenbar abgenommen – vermutlich weil die Seewege dort immer intensiver überwacht werden. Nun ist das östliche Mittelmeer in den Blickpunkt gerückt - immer mehr Flüchtlinge versuchen, über die Türkei nach Samos, nach Lesbos oder Chios zu kommen, auf eine jener griechischen Inseln also, die schon vom türkischen Festland aus zu sehen sind.
Auch dieser Weg birgt Gefahren - jenseits der natürlichen Risiken, wie heute auf Pressekonferenzen von Menschenrechtsorganisationen in Athen und Brüssel deutlich wurde. Sie erheben schwere Vorwürfe gegen EU-Grenzbehörden – besonders gegen die Küstenwache des EU-Mitgliedstaates Griechenland, dem eklatante Menschenrechtsverstöße angelastet werden: Bootsflüchtlinge würden abgefangen, eingeschüchtert und zur Umkehr gezwungen. Mehr noch: geschlagen und misshandelt, ins Meer geworfen oder auf unbewohnten Inseln ausgesetzt.
Der Bericht, den die Menschenrechtsorganisation Pro Asyl, der Europäische Flüchtlingsrat ECRE und eine Gruppe von griechischen Anwälten heute vorlegten, wertet über 100 Interviews aus, die mit Flüchtlingen, Regierungsvertretern und Beamten der griechischen Küstenwache geführt wurden. Dieser Bericht soll jetzt dem Europäischen Parlament und der EU-Kommission vorgelegt werden mit dem Ziel, die Einhaltung der Menschenrechte in der Ägäis durchzusetzen und die Vorwürfe aufzuklären.
Der Journalist Elias Bierdel, ehemals Vorsitzender von Cap Anamur und heute Leiter der Menschenrechtsorganisation Borderline Europe, hat an den Recherchereisen in Griechenland teilgenommen. Als Reporter sammelte er Aussagen von Augenzeugen und Betroffenen, die wir hier dokumentieren. Die erste Station: Die Insel Samos.
Beitrag von Elias Bierdel:
Sommer auf der griechischen Sporaden-Insel Samos. Im "Kipo", dem schattigen Stadtpark der Inselhauptstadt Vathi, herrscht Hochbetrieb. Urlauber aus ganz Europa genießen Eis und Kuchen mit Blick auf die Hafenbucht.
Nur eine Straßenecke weiter steht die Ruine der alten Tabakfabrik – der Putz bröckelt von der gelben Fassade, kaum ein Fenster ist intakt. Eigentlich sollte das Haus im Zentrum längst abgerissen werden. Doch in den letzten Jahren hat es eine neue Verwendung gefunden: als Auffanglager für Flüchtlinge. Rund 200 Menschen werden hier derzeit festgehalten, weil sie illegal nach Europa eingereist sind. Im Juni 2007 besuchte eine Delegation des Europaparlaments das Lager: "Die Bedingungen lassen sich generell nur als schmutzig, erbärmlich und unmenschlich beschreiben", hieß es im Bericht der Abgeordneten.
Anna: "”Alle halten sich hier in den selben Räumen auf","" beschreibt Sozialarbeiterin Anna vom Verein für Flüchtlingshilfe auf Samos die Zustände.
"Pro Stockwerk gibt es nur eine Toilette ohne Tür – Frauen, Männer, Familien – alle sind zusammengepfercht. Es gibt nur Betten, keine Möbel, keine Unterteilung, nicht mal Vorhänge, die ein bisschen Privatsphäre vermitteln würden. Die Menschen liegen hier einer am anderen und müssen sich den engen Platz irgendwie teilen: einer hier und der andere da."
Unter den Lagerinsassen sind viele, die Verletzungen haben, sagt Anna: Platzwunden am Kopf, gequetschte Finger, Prellungen an Brust oder Rücken... Doch kaum einer der Flüchtlinge will darüber sprechen, was ihm passiert ist. Jedenfalls nicht, solange er im Lager festgehalten wird.
Benjamin ist seit einigen Tagen frei. Wir treffen ihn in der Wohnung eines Freundes. Der 24-jährige Eritreer erzählt von seiner nächtlichen Überfahrt. 21 Menschen seien auf dem kleinen Boot gewesen, darunter auch vier Frauen und ein Kleinkind. Die griechische Küstenwache habe ihr Boot gestoppt.
Benjamin: "Sie haben gerufen, wir sollten in die Türkei zurückfahren – aber da waren so hohe Wellen. Es war starker Wind und wir hatten Angst um unser Leben. Da habe ich gerufen: `Bitte helft uns!` Aber die haben geantwortet: `Ihr seid uns egal – ob Frauen oder Baby – fahrt zurück in die Türkei!` Dann sind sie weggefahren und haben uns mitten auf dem Meer alleingelassen. Die haben unser Boot gesehen und dachten wohl, wir würden sowieso sterben. Darum sind sie weggefahren."
Doch die Flüchtlinge wollen nicht umkehren. 800 Dollar haben sie für die Überfahrt bezahlt. Im Morgengrauen des 1. Mai erreichen sie die Küste von Samos und klettern einen Hang hinauf – dort werden sie erneut von der Küstenwache entdeckt. Und es setzt Prügel.
Benjamin: "”Sie haben mich geschlagen, weil sie wissen wollten, wer unser Kapitän war. Ich habe gesagt, ich weiß es nicht. Schon in den Bergen haben sie mich geschlagen, hier über dem Auge. Alle haben die Wunde gesehen, aber keiner wollte später im Lager wissen, woher ich das habe - weder die Polizisten noch die Ärztin.""
Unter den Geschichten, die die Flüchtlinge erzählen, gehören die Erlebnisse von Benjamin zu den harmloseren. Auch Amir, ein Palästinenser aus dem Libanon, wurde mit seinem Boot nachts von der Küstenwache erwischt. Als die Beamten auf einen 17-Jährigen einprügelten, seien die übrigen 21 Bootsinsassen ins Wasser gesprungen. Man habe sie an Deck des Patrouillenschiffes gezogen. Dort mussten sie sich flach hinlegen.
Amir: "Sie waren bewaffnet mit Maschinenpistolen. Mit den Füßen sind sie auf uns draufgestiegen. Die haben in die Luft geschossen, dann wurde uns der heiße Lauf der Gewehre an den Rücken gedrückt. Das hat gezischt, unsere Kleider waren ja naß!"
Einem Mann, den man für den Kapitän hielt, hätten die Beamten mit dem Stiefel ins Gesicht getreten. Ihm selbst wurde eine Rippe gebrochen, sagt Amir. Drei Wochen lang habe er Blut gespuckt. Dann erst ließ man den Verletzten ins Krankenhaus. Anna, die Sozialarbeiterin, bestätigt den Bericht von Amir. Für sie gehören Flüchtlingsgeschichten wie diese zum Alltag:
Anna: "Wir haben uns immer gefragt, warum es so viele Ertrunkene gibt. Aber wenn man hört, wie Flüchtlinge mit ihrem kleinen Boot unterwegs sind, wie die Küstenwache die stoppt, sie zurückzieht Richtung Türkei, wie man die Menschen 250 Meter vor dem rettenden Ufer ins Wasser schmeißt und die irgendwie schwimmend da drüben ankommen, und wenn sie nun nicht hätten schwimmen können, was wäre dann aus den Leuten geworden? Jedenfalls haben es einige geschafft, irgendwie hierher zu kommen – die haben berichtet, was ihnen widerfahren ist. Und das sind keine Einzelfälle."
Nur 1400 Meter Wasser trennen die Insel Samos an der schmalsten Stelle vom türkischen Festland. Dennoch ist die Zahl der Todesopfer hier höher als sonst wo in Griechenland: Mehr als 80 ertrunkene Flüchtlinge wurden in diesem Jahr bisher aus dem Wasser gezogen. Rechtsanwalt Dimitris Vouros vertritt viele der Überlebenden – und er hat sich auch manche der Toten zeigen lassen.
Rechtsanwalt Samos: "Nach allem was ich weiß, sind die Boote, auf denen die Leute unterwegs sind, in einem sehr schlechten Zustand. Außerdem können die meisten Flüchtlinge nicht schwimmen, und es befinden sich keine Schwimmwesten an Bord. So kann es bei schlechtem Wetter leicht zu tragischen Ereignissen kommen.
Ich untersuche aber auch die Rolle der Küstenwache in dem Geschehen. Denn manchmal sind die Informationen sehr unzuverlässig, zum Beispiel wenn es keine Überlebenden gibt. Aber Verletzungen durch Schusswaffen, die gibt es bisher bei uns nicht – jedenfalls, soweit uns bekannt ist."
Auf dem Gemeindefriedhof von Vathi hebt Totengräber Manolis in der Mittagshitze eine neue Grube aus. Drei neue tote Flüchtlinge sind ihm heute gemeldet worden. Langsam wird es eng zwischen den alten Friedhofsmauern. Immer öfter muss er die Toten aus der Fremde auch in den Gängen zwischen den regulären Gräbern verscharren. Es geht einfach nicht mehr anders, sagt Manolis:
"Hier liegen schon acht Leute und da hinten sind noch mehr – wir machen schon, was wir können! Aber der Platz ist begrenzt, da müssen wir etwas zusammenrücken, damit wir alle unter die Erde bringen!"
Während am Hang über der Stadt die anonymen Gräber immer mehr werden, kann Sozialarbeiterin Anna nicht viel mehr tun, als ihren Schützlingen im überfüllten Lager ein bisschen menschliche Wärme zu geben. Und manchmal geht auch das über ihre Kräfte.
Anna: "”Wenn ich all die schrecklichen Dinge höre, dann bitte ich zu allererst um Verzeihung – ich entschuldige mich für das, was den Menschen hier bei uns widerfährt.""
Thilo Kößler, Redakteur am Mikrofon:
Die Vorwürfe an die Adresse der griechischen Grenzschutzbehörden sind im Prinzip nicht neu: Schon vor einem Jahr berichteten Flüchtlinge aus dem Irak, dass es Todesopfer gegeben habe, nachdem die griechische Küstenwacht Boat-people vor der türkischen Küste ausgesetzt hatte.
Der Bericht "Über die Situation der Flüchtlinge in der Ägäis", der heute in Athen und Brüssel vorgestellt wurde, listet allerdings viele ähnliche Fälle auf und legt den Schluss nahe, dass Menschenrechtsverletzungen an der griechisch-türkischen Grenze keine Einzelfälle sind und einem bestimmten Muster folgen. Die Menschenrechtsorganisationen sprechen von "eklatanten Defiziten des griechischen Asyl- und Aufnahmesystems". Sie fordern, dass Flüchtlingsboote nicht mehr zurückgeschickt werden. Sie fordern freien Zugang zu fairen Asylverfahren, ein Verbot der obligatorischen Inhaftierung, menschenwürdige Unterbringung und einen besseren Schutz von Minderjährigen.
Auf EU-Ebene sind Forderungen wie diese schon längst angekommen. Seit 1999 zeichnen sich die Grundzüge einer gemeinsamen europäischen Migrations- und Zuwanderungspolitik ab. Zuletzt verständigte sich ein Gipfel vom Dezember 2006 darauf, es nicht allein bei der Bekämpfung illegaler Immigration zu belassen und der Festung Europa Türen einzubauen. Die Möglichkeiten legaler Einwanderung sollen verbessert werden. Die EU will Migration künftig steuern. Und eine europäische Asylagentur soll die Unterschiede bei der Anerkennung von Flüchtlingen beseitigen.
Doch Anspruch und Wirklichkeit liegen weit auseinander. Es hapert an der Umsetzung der europäischen Vorgaben. Im griechisch-türkischen Grenzgebiet geht das zu Lasten schutzloser boat-people, die immer wieder zwischen die Fronten der zerstrittenen Nachbarn geraten, weil sie von einem Hoheitsgebiet in das andere getrieben werden. In der Ägäis steht aber mehr auf dem Spiel als das griechisch-türkische Verhältnis: Viele sehen die Glaubwürdigkeit des europäischen Menschenrechtsversprechens in Gefahr. Elias Bierdel berichtet aus Lesbos:
Beitrag von Elias Bierdel:
Geschäftiges Treiben im Hafen von Mitilini: Das tägliche Fährschiff aus Piräus bringt Baumaterial, Geräte und Lebensmittel auf die drittgrößte griechische Insel. In seinem Büro im zweiten Stock der Hafenmeisterei empfängt Apostolos Mikromastiras die Besucher – stolz stellt der Chef der Küstenwache einen Mann in schwarzer Uniform vor, der müde am Schreibtisch sitzt:
Mikromastiras: "”"Dieser Mann ist auch einer unserer besten Kämpfer! Denn neben den Patrouillenbooten benutzen wir auch noch Spezialeinheiten, dieser hier gehört zu den Spezialeinheiten! Es ist sehr schwer, die Flüchtlinge zurückzudrängen, aber wir machen das! Sogar manchmal, wenn wir sie an Land finden, dann sammeln wir die wieder ein und fahren sie zurück!""
Auf der Landkarte zeigt der drahtige Chef der Küstenwache, wo seine Kämpfer nachts unterwegs sind: Die ganze Ostküste der Insel Lesbos ist dem türkischen Festland zugewandt, an der schmalsten Stelle liegen hier gerade einmal 10 Kilometer zwischen Europa und Asien.
Und dort, davon ist Apostolos Mikromastiras überzeugt, lauert der Feind.
Mikromastiras: "”Das ist die größte Gefahr für die Einheit Europas, denn wir haben hier eine Invasion der Islamisten. Das sind alles Krieger, Krieger! Verstehen Sie? Die können jederzeit Europa zerschlagen, in dem sie bei uns einen Krieg beginnen. Das ist sehr gefährlich!""
Wie ein General an der Front fühlt sich der Chef der Küstenwache – und das zeigt er auch offen. Für ihn geht es darum, Europa gegen einen Angriff zu verteidigen – in einem Krieg, den die Politiker in Athen, Berlin oder Brüssel noch gar nicht bemerkt hätten.
Mikromastiras: "”Vielleicht bin ich die erste Person in der Europäischen Union, die sich denen da entgegenstemmt, der erste, der versucht, den Gegner zu stellen! Wie auch immer, Europa muss verstehen, dass hier sehr große Gefahren heraufziehen. Ich glaube fest daran, dass es sich hier um eine islamische Invasion handelt. Eine stille Invasion, wie ich immer sage. So nenne ich das: stille, islamische Invasion!""
Auch türkische Militärstellen seien in das Geschehen verwickelt, berichtet der Chef der Küstenwache. Und viele von den jungen Männern, die man auf den Booten antreffe, stünden auf der Soldliste der Armee.
Rund 100 Mann befehligt Apostolos Mikromastiras auf Lesbos. Nicht jeder teilt seine Ansichten. Doch das Weltbild ihres Chefs setzt sich unter den Kollegen immer mehr durch, wie dieser Offizier berichtet, der anonym bleiben möchte.
Offizier: "”Normalerweise, wenn wir Flüchtlinge sehen, Frauen und Kinder, dann sagen wir: Also, das ist eine Familie, der müssen wir helfen. Aber wenn zum Beispiel die Afghanen kommen, das sind alles junge Männer zwischen 14 und 17, dann kommt es manchem so vor, als wäre da eine Art Armee im Anmarsch, aus dem Osten in Richtung Europa. Und dann fragt sich mancher, was das werden soll.""
Mit ihren 3000-PS starken "Lambro”-Kreuzern läuft die Küstenwache Nacht für Nacht aus, um die Flüchtlingsboote "sicher zu stoppen und zur Umkehr zu bewegen", wie es in der Dienstanweisung heißt. Die Schiffe sind annähernd 100 Stundenkilometer schnell – sie fahren ohne Beleuchtung. Treffen sie auf ein sogenanntes "Zielobjekt", so gibt es ein spezielles Manöver: volle Kraft in engen Kreisen um die Boote herum.
Offizier: "”Die griechische Küstenwache umrundet die Flüchtlinge. Ja, das ist wahr, um den Leuten einen Schrecken einzujagen – so, als wollte man sagen: Wir haben hier zu bestimmen – haut ab! Und das passiert manchmal auf der Seegrenze, oder auch in unseren Gewässern. Um ihnen Angst zu machen, damit sie abhauen!""
Auch von Warnschüssen und gewagten nächtlichen Einsätzen berichtet der Offizier: Wie Flüchtlinge auf unbewohnten Inseln ausgesetzt – oder mitsamt ihren Booten herüber zur türkischen Küste geschleppt werden. Das sei dann die Aufgabe der Spezialeinheiten. Die müssten die Drecksarbeit machen. Ihren genauen Einsatzbefehle kenne nur der Chef.
Mikromastiras: "Wir fangen viele Türken, viele Boote - ungefähr 80 Prozent blocken wir ab. Dieser Mann hier und auch die anderen machen einen sehr guten Job in der Nacht, oft im Konflikt mit türkischen Patrouillenbooten."
Das türkisch-griechische Grenzgebiet ist eine besonders sensible Region. Jahrhundertealte Rivalitäten lassen auf beiden Seiten auch heute noch schnell die Emotionen hochgehen. Militärische Provokationen sind zwischen den NATO-Partnern Griechenland und Türkei an der Tagesordnung. Zudem ist der genaue Verlauf der Seegrenze zwischen beiden Ländern umstritten. Ob das Militär mit der Küstenwache bei der Flüchtlingsabwehr zusammenarbeitet, will ich wissen.
Mikromastiras: "”Nein, die vermeiden das. Denn wenn die bei so was mitmachen, dann könnte das leicht zum Krieg führen. Es könnte Krieg geben, deshalb machen die nicht mit. Aber die Geheimdienste sind dabei.""
Zoe Libaditou gehört zu den wenigen Zivilisten, die mehrfach die Küstenwache vor Mitilini im Einsatz begleiten konnten. Früher jedenfalls. Denn in letzter Zeit lässt man die resolute Krankenschwester nicht mehr mitfahren – das sei angeblich "zu gefährlich". Sie berichtet von dramatischen Szenen, in denen sich griechische und türkische Einheiten gegenseitig belauerten, während im Wasser Flüchtlinge um ihr Leben kämpften. Zoe Libaditou war jahrelang im Hilfseinsatz in Afghanistan – aber was sich hier vor den Inseln abspielt, ist aus ihrer Sicht noch schlimmer:
Zoe Libaditou: "”Jede Nacht ist hier draußen Krieg mit den Türken. Jede Nacht! Auch wenn das offiziell nicht so heißt: Es ist ein Krieg! Hier auf den Inseln Lesbos, Samos, Chios, Kos oder am Evros herrscht Krieg zwischen der Türkei und Griechenland!""
Auch vor der Insel Lesbos steigt die Zahl der Todesopfer. Wie viele es genau sind, kann niemand sagen. Denn der Wind treibt die Leichen wohl häufig hinaus aufs offene Meer. Fischer finden immer öfter menschliche Überreste in ihren Netzen. Für die Krankenschwester Zoe Libaditou beginnt dann das letzte Kapitel der Tragödie.
Zoe Libaditou: "”Wir finden hier viele Leichen, viele Tote. Und jetzt machen wir auch DNA-Analysen, weil immer mehr Angehörige von Vermissten nachforschen. Aber wie viele solche Untersuchungen können wir schon machen? Die meisten Toten finden wir ja doch nicht – das hängt vom Wind ab: Wenn er von Norden kommt, dann landen sie bei uns. Wenn nicht, dann treiben sie zurück in die Türkei.""
Thilo Kößler, Redakteur am Mikrofon:
Die Lage illegaler Migranten auf den griechischen Inseln und die Grenzschutzpolitik der EU im Mittelmeer – Elias Bierdel berichtete aus Samos und Lesbos, wo er die Recherchen von Menschenrechtsorganisationen zwei Monate lang als Journalist begleitete.
Niemand weiß, wie viele Todesopfer der gefährliche Transit in Richtung Europa auch in diesem Jahr wieder gefordert hat. Sicher ist nur: Es waren viele. Und doch hat die Zahl der sogenannten illegalen Migranten, die über das Mittelmeer oder den Atlantik Italien, Spanien oder die Kanarischen Inseln erreichten, offenbar abgenommen – vermutlich weil die Seewege dort immer intensiver überwacht werden. Nun ist das östliche Mittelmeer in den Blickpunkt gerückt - immer mehr Flüchtlinge versuchen, über die Türkei nach Samos, nach Lesbos oder Chios zu kommen, auf eine jener griechischen Inseln also, die schon vom türkischen Festland aus zu sehen sind.
Auch dieser Weg birgt Gefahren - jenseits der natürlichen Risiken, wie heute auf Pressekonferenzen von Menschenrechtsorganisationen in Athen und Brüssel deutlich wurde. Sie erheben schwere Vorwürfe gegen EU-Grenzbehörden – besonders gegen die Küstenwache des EU-Mitgliedstaates Griechenland, dem eklatante Menschenrechtsverstöße angelastet werden: Bootsflüchtlinge würden abgefangen, eingeschüchtert und zur Umkehr gezwungen. Mehr noch: geschlagen und misshandelt, ins Meer geworfen oder auf unbewohnten Inseln ausgesetzt.
Der Bericht, den die Menschenrechtsorganisation Pro Asyl, der Europäische Flüchtlingsrat ECRE und eine Gruppe von griechischen Anwälten heute vorlegten, wertet über 100 Interviews aus, die mit Flüchtlingen, Regierungsvertretern und Beamten der griechischen Küstenwache geführt wurden. Dieser Bericht soll jetzt dem Europäischen Parlament und der EU-Kommission vorgelegt werden mit dem Ziel, die Einhaltung der Menschenrechte in der Ägäis durchzusetzen und die Vorwürfe aufzuklären.
Der Journalist Elias Bierdel, ehemals Vorsitzender von Cap Anamur und heute Leiter der Menschenrechtsorganisation Borderline Europe, hat an den Recherchereisen in Griechenland teilgenommen. Als Reporter sammelte er Aussagen von Augenzeugen und Betroffenen, die wir hier dokumentieren. Die erste Station: Die Insel Samos.
Beitrag von Elias Bierdel:
Sommer auf der griechischen Sporaden-Insel Samos. Im "Kipo", dem schattigen Stadtpark der Inselhauptstadt Vathi, herrscht Hochbetrieb. Urlauber aus ganz Europa genießen Eis und Kuchen mit Blick auf die Hafenbucht.
Nur eine Straßenecke weiter steht die Ruine der alten Tabakfabrik – der Putz bröckelt von der gelben Fassade, kaum ein Fenster ist intakt. Eigentlich sollte das Haus im Zentrum längst abgerissen werden. Doch in den letzten Jahren hat es eine neue Verwendung gefunden: als Auffanglager für Flüchtlinge. Rund 200 Menschen werden hier derzeit festgehalten, weil sie illegal nach Europa eingereist sind. Im Juni 2007 besuchte eine Delegation des Europaparlaments das Lager: "Die Bedingungen lassen sich generell nur als schmutzig, erbärmlich und unmenschlich beschreiben", hieß es im Bericht der Abgeordneten.
Anna: "”Alle halten sich hier in den selben Räumen auf","" beschreibt Sozialarbeiterin Anna vom Verein für Flüchtlingshilfe auf Samos die Zustände.
"Pro Stockwerk gibt es nur eine Toilette ohne Tür – Frauen, Männer, Familien – alle sind zusammengepfercht. Es gibt nur Betten, keine Möbel, keine Unterteilung, nicht mal Vorhänge, die ein bisschen Privatsphäre vermitteln würden. Die Menschen liegen hier einer am anderen und müssen sich den engen Platz irgendwie teilen: einer hier und der andere da."
Unter den Lagerinsassen sind viele, die Verletzungen haben, sagt Anna: Platzwunden am Kopf, gequetschte Finger, Prellungen an Brust oder Rücken... Doch kaum einer der Flüchtlinge will darüber sprechen, was ihm passiert ist. Jedenfalls nicht, solange er im Lager festgehalten wird.
Benjamin ist seit einigen Tagen frei. Wir treffen ihn in der Wohnung eines Freundes. Der 24-jährige Eritreer erzählt von seiner nächtlichen Überfahrt. 21 Menschen seien auf dem kleinen Boot gewesen, darunter auch vier Frauen und ein Kleinkind. Die griechische Küstenwache habe ihr Boot gestoppt.
Benjamin: "Sie haben gerufen, wir sollten in die Türkei zurückfahren – aber da waren so hohe Wellen. Es war starker Wind und wir hatten Angst um unser Leben. Da habe ich gerufen: `Bitte helft uns!` Aber die haben geantwortet: `Ihr seid uns egal – ob Frauen oder Baby – fahrt zurück in die Türkei!` Dann sind sie weggefahren und haben uns mitten auf dem Meer alleingelassen. Die haben unser Boot gesehen und dachten wohl, wir würden sowieso sterben. Darum sind sie weggefahren."
Doch die Flüchtlinge wollen nicht umkehren. 800 Dollar haben sie für die Überfahrt bezahlt. Im Morgengrauen des 1. Mai erreichen sie die Küste von Samos und klettern einen Hang hinauf – dort werden sie erneut von der Küstenwache entdeckt. Und es setzt Prügel.
Benjamin: "”Sie haben mich geschlagen, weil sie wissen wollten, wer unser Kapitän war. Ich habe gesagt, ich weiß es nicht. Schon in den Bergen haben sie mich geschlagen, hier über dem Auge. Alle haben die Wunde gesehen, aber keiner wollte später im Lager wissen, woher ich das habe - weder die Polizisten noch die Ärztin.""
Unter den Geschichten, die die Flüchtlinge erzählen, gehören die Erlebnisse von Benjamin zu den harmloseren. Auch Amir, ein Palästinenser aus dem Libanon, wurde mit seinem Boot nachts von der Küstenwache erwischt. Als die Beamten auf einen 17-Jährigen einprügelten, seien die übrigen 21 Bootsinsassen ins Wasser gesprungen. Man habe sie an Deck des Patrouillenschiffes gezogen. Dort mussten sie sich flach hinlegen.
Amir: "Sie waren bewaffnet mit Maschinenpistolen. Mit den Füßen sind sie auf uns draufgestiegen. Die haben in die Luft geschossen, dann wurde uns der heiße Lauf der Gewehre an den Rücken gedrückt. Das hat gezischt, unsere Kleider waren ja naß!"
Einem Mann, den man für den Kapitän hielt, hätten die Beamten mit dem Stiefel ins Gesicht getreten. Ihm selbst wurde eine Rippe gebrochen, sagt Amir. Drei Wochen lang habe er Blut gespuckt. Dann erst ließ man den Verletzten ins Krankenhaus. Anna, die Sozialarbeiterin, bestätigt den Bericht von Amir. Für sie gehören Flüchtlingsgeschichten wie diese zum Alltag:
Anna: "Wir haben uns immer gefragt, warum es so viele Ertrunkene gibt. Aber wenn man hört, wie Flüchtlinge mit ihrem kleinen Boot unterwegs sind, wie die Küstenwache die stoppt, sie zurückzieht Richtung Türkei, wie man die Menschen 250 Meter vor dem rettenden Ufer ins Wasser schmeißt und die irgendwie schwimmend da drüben ankommen, und wenn sie nun nicht hätten schwimmen können, was wäre dann aus den Leuten geworden? Jedenfalls haben es einige geschafft, irgendwie hierher zu kommen – die haben berichtet, was ihnen widerfahren ist. Und das sind keine Einzelfälle."
Nur 1400 Meter Wasser trennen die Insel Samos an der schmalsten Stelle vom türkischen Festland. Dennoch ist die Zahl der Todesopfer hier höher als sonst wo in Griechenland: Mehr als 80 ertrunkene Flüchtlinge wurden in diesem Jahr bisher aus dem Wasser gezogen. Rechtsanwalt Dimitris Vouros vertritt viele der Überlebenden – und er hat sich auch manche der Toten zeigen lassen.
Rechtsanwalt Samos: "Nach allem was ich weiß, sind die Boote, auf denen die Leute unterwegs sind, in einem sehr schlechten Zustand. Außerdem können die meisten Flüchtlinge nicht schwimmen, und es befinden sich keine Schwimmwesten an Bord. So kann es bei schlechtem Wetter leicht zu tragischen Ereignissen kommen.
Ich untersuche aber auch die Rolle der Küstenwache in dem Geschehen. Denn manchmal sind die Informationen sehr unzuverlässig, zum Beispiel wenn es keine Überlebenden gibt. Aber Verletzungen durch Schusswaffen, die gibt es bisher bei uns nicht – jedenfalls, soweit uns bekannt ist."
Auf dem Gemeindefriedhof von Vathi hebt Totengräber Manolis in der Mittagshitze eine neue Grube aus. Drei neue tote Flüchtlinge sind ihm heute gemeldet worden. Langsam wird es eng zwischen den alten Friedhofsmauern. Immer öfter muss er die Toten aus der Fremde auch in den Gängen zwischen den regulären Gräbern verscharren. Es geht einfach nicht mehr anders, sagt Manolis:
"Hier liegen schon acht Leute und da hinten sind noch mehr – wir machen schon, was wir können! Aber der Platz ist begrenzt, da müssen wir etwas zusammenrücken, damit wir alle unter die Erde bringen!"
Während am Hang über der Stadt die anonymen Gräber immer mehr werden, kann Sozialarbeiterin Anna nicht viel mehr tun, als ihren Schützlingen im überfüllten Lager ein bisschen menschliche Wärme zu geben. Und manchmal geht auch das über ihre Kräfte.
Anna: "”Wenn ich all die schrecklichen Dinge höre, dann bitte ich zu allererst um Verzeihung – ich entschuldige mich für das, was den Menschen hier bei uns widerfährt.""
Thilo Kößler, Redakteur am Mikrofon:
Die Vorwürfe an die Adresse der griechischen Grenzschutzbehörden sind im Prinzip nicht neu: Schon vor einem Jahr berichteten Flüchtlinge aus dem Irak, dass es Todesopfer gegeben habe, nachdem die griechische Küstenwacht Boat-people vor der türkischen Küste ausgesetzt hatte.
Der Bericht "Über die Situation der Flüchtlinge in der Ägäis", der heute in Athen und Brüssel vorgestellt wurde, listet allerdings viele ähnliche Fälle auf und legt den Schluss nahe, dass Menschenrechtsverletzungen an der griechisch-türkischen Grenze keine Einzelfälle sind und einem bestimmten Muster folgen. Die Menschenrechtsorganisationen sprechen von "eklatanten Defiziten des griechischen Asyl- und Aufnahmesystems". Sie fordern, dass Flüchtlingsboote nicht mehr zurückgeschickt werden. Sie fordern freien Zugang zu fairen Asylverfahren, ein Verbot der obligatorischen Inhaftierung, menschenwürdige Unterbringung und einen besseren Schutz von Minderjährigen.
Auf EU-Ebene sind Forderungen wie diese schon längst angekommen. Seit 1999 zeichnen sich die Grundzüge einer gemeinsamen europäischen Migrations- und Zuwanderungspolitik ab. Zuletzt verständigte sich ein Gipfel vom Dezember 2006 darauf, es nicht allein bei der Bekämpfung illegaler Immigration zu belassen und der Festung Europa Türen einzubauen. Die Möglichkeiten legaler Einwanderung sollen verbessert werden. Die EU will Migration künftig steuern. Und eine europäische Asylagentur soll die Unterschiede bei der Anerkennung von Flüchtlingen beseitigen.
Doch Anspruch und Wirklichkeit liegen weit auseinander. Es hapert an der Umsetzung der europäischen Vorgaben. Im griechisch-türkischen Grenzgebiet geht das zu Lasten schutzloser boat-people, die immer wieder zwischen die Fronten der zerstrittenen Nachbarn geraten, weil sie von einem Hoheitsgebiet in das andere getrieben werden. In der Ägäis steht aber mehr auf dem Spiel als das griechisch-türkische Verhältnis: Viele sehen die Glaubwürdigkeit des europäischen Menschenrechtsversprechens in Gefahr. Elias Bierdel berichtet aus Lesbos:
Beitrag von Elias Bierdel:
Geschäftiges Treiben im Hafen von Mitilini: Das tägliche Fährschiff aus Piräus bringt Baumaterial, Geräte und Lebensmittel auf die drittgrößte griechische Insel. In seinem Büro im zweiten Stock der Hafenmeisterei empfängt Apostolos Mikromastiras die Besucher – stolz stellt der Chef der Küstenwache einen Mann in schwarzer Uniform vor, der müde am Schreibtisch sitzt:
Mikromastiras: "”"Dieser Mann ist auch einer unserer besten Kämpfer! Denn neben den Patrouillenbooten benutzen wir auch noch Spezialeinheiten, dieser hier gehört zu den Spezialeinheiten! Es ist sehr schwer, die Flüchtlinge zurückzudrängen, aber wir machen das! Sogar manchmal, wenn wir sie an Land finden, dann sammeln wir die wieder ein und fahren sie zurück!""
Auf der Landkarte zeigt der drahtige Chef der Küstenwache, wo seine Kämpfer nachts unterwegs sind: Die ganze Ostküste der Insel Lesbos ist dem türkischen Festland zugewandt, an der schmalsten Stelle liegen hier gerade einmal 10 Kilometer zwischen Europa und Asien.
Und dort, davon ist Apostolos Mikromastiras überzeugt, lauert der Feind.
Mikromastiras: "”Das ist die größte Gefahr für die Einheit Europas, denn wir haben hier eine Invasion der Islamisten. Das sind alles Krieger, Krieger! Verstehen Sie? Die können jederzeit Europa zerschlagen, in dem sie bei uns einen Krieg beginnen. Das ist sehr gefährlich!""
Wie ein General an der Front fühlt sich der Chef der Küstenwache – und das zeigt er auch offen. Für ihn geht es darum, Europa gegen einen Angriff zu verteidigen – in einem Krieg, den die Politiker in Athen, Berlin oder Brüssel noch gar nicht bemerkt hätten.
Mikromastiras: "”Vielleicht bin ich die erste Person in der Europäischen Union, die sich denen da entgegenstemmt, der erste, der versucht, den Gegner zu stellen! Wie auch immer, Europa muss verstehen, dass hier sehr große Gefahren heraufziehen. Ich glaube fest daran, dass es sich hier um eine islamische Invasion handelt. Eine stille Invasion, wie ich immer sage. So nenne ich das: stille, islamische Invasion!""
Auch türkische Militärstellen seien in das Geschehen verwickelt, berichtet der Chef der Küstenwache. Und viele von den jungen Männern, die man auf den Booten antreffe, stünden auf der Soldliste der Armee.
Rund 100 Mann befehligt Apostolos Mikromastiras auf Lesbos. Nicht jeder teilt seine Ansichten. Doch das Weltbild ihres Chefs setzt sich unter den Kollegen immer mehr durch, wie dieser Offizier berichtet, der anonym bleiben möchte.
Offizier: "”Normalerweise, wenn wir Flüchtlinge sehen, Frauen und Kinder, dann sagen wir: Also, das ist eine Familie, der müssen wir helfen. Aber wenn zum Beispiel die Afghanen kommen, das sind alles junge Männer zwischen 14 und 17, dann kommt es manchem so vor, als wäre da eine Art Armee im Anmarsch, aus dem Osten in Richtung Europa. Und dann fragt sich mancher, was das werden soll.""
Mit ihren 3000-PS starken "Lambro”-Kreuzern läuft die Küstenwache Nacht für Nacht aus, um die Flüchtlingsboote "sicher zu stoppen und zur Umkehr zu bewegen", wie es in der Dienstanweisung heißt. Die Schiffe sind annähernd 100 Stundenkilometer schnell – sie fahren ohne Beleuchtung. Treffen sie auf ein sogenanntes "Zielobjekt", so gibt es ein spezielles Manöver: volle Kraft in engen Kreisen um die Boote herum.
Offizier: "”Die griechische Küstenwache umrundet die Flüchtlinge. Ja, das ist wahr, um den Leuten einen Schrecken einzujagen – so, als wollte man sagen: Wir haben hier zu bestimmen – haut ab! Und das passiert manchmal auf der Seegrenze, oder auch in unseren Gewässern. Um ihnen Angst zu machen, damit sie abhauen!""
Auch von Warnschüssen und gewagten nächtlichen Einsätzen berichtet der Offizier: Wie Flüchtlinge auf unbewohnten Inseln ausgesetzt – oder mitsamt ihren Booten herüber zur türkischen Küste geschleppt werden. Das sei dann die Aufgabe der Spezialeinheiten. Die müssten die Drecksarbeit machen. Ihren genauen Einsatzbefehle kenne nur der Chef.
Mikromastiras: "Wir fangen viele Türken, viele Boote - ungefähr 80 Prozent blocken wir ab. Dieser Mann hier und auch die anderen machen einen sehr guten Job in der Nacht, oft im Konflikt mit türkischen Patrouillenbooten."
Das türkisch-griechische Grenzgebiet ist eine besonders sensible Region. Jahrhundertealte Rivalitäten lassen auf beiden Seiten auch heute noch schnell die Emotionen hochgehen. Militärische Provokationen sind zwischen den NATO-Partnern Griechenland und Türkei an der Tagesordnung. Zudem ist der genaue Verlauf der Seegrenze zwischen beiden Ländern umstritten. Ob das Militär mit der Küstenwache bei der Flüchtlingsabwehr zusammenarbeitet, will ich wissen.
Mikromastiras: "”Nein, die vermeiden das. Denn wenn die bei so was mitmachen, dann könnte das leicht zum Krieg führen. Es könnte Krieg geben, deshalb machen die nicht mit. Aber die Geheimdienste sind dabei.""
Zoe Libaditou gehört zu den wenigen Zivilisten, die mehrfach die Küstenwache vor Mitilini im Einsatz begleiten konnten. Früher jedenfalls. Denn in letzter Zeit lässt man die resolute Krankenschwester nicht mehr mitfahren – das sei angeblich "zu gefährlich". Sie berichtet von dramatischen Szenen, in denen sich griechische und türkische Einheiten gegenseitig belauerten, während im Wasser Flüchtlinge um ihr Leben kämpften. Zoe Libaditou war jahrelang im Hilfseinsatz in Afghanistan – aber was sich hier vor den Inseln abspielt, ist aus ihrer Sicht noch schlimmer:
Zoe Libaditou: "”Jede Nacht ist hier draußen Krieg mit den Türken. Jede Nacht! Auch wenn das offiziell nicht so heißt: Es ist ein Krieg! Hier auf den Inseln Lesbos, Samos, Chios, Kos oder am Evros herrscht Krieg zwischen der Türkei und Griechenland!""
Auch vor der Insel Lesbos steigt die Zahl der Todesopfer. Wie viele es genau sind, kann niemand sagen. Denn der Wind treibt die Leichen wohl häufig hinaus aufs offene Meer. Fischer finden immer öfter menschliche Überreste in ihren Netzen. Für die Krankenschwester Zoe Libaditou beginnt dann das letzte Kapitel der Tragödie.
Zoe Libaditou: "”Wir finden hier viele Leichen, viele Tote. Und jetzt machen wir auch DNA-Analysen, weil immer mehr Angehörige von Vermissten nachforschen. Aber wie viele solche Untersuchungen können wir schon machen? Die meisten Toten finden wir ja doch nicht – das hängt vom Wind ab: Wenn er von Norden kommt, dann landen sie bei uns. Wenn nicht, dann treiben sie zurück in die Türkei.""
Thilo Kößler, Redakteur am Mikrofon:
Die Lage illegaler Migranten auf den griechischen Inseln und die Grenzschutzpolitik der EU im Mittelmeer – Elias Bierdel berichtete aus Samos und Lesbos, wo er die Recherchen von Menschenrechtsorganisationen zwei Monate lang als Journalist begleitete.