"Auf Lampedusa gibt es keine Mauern; es ist kein Gefängnis, und es ist auch kein Friedhof. Lange vor der Europäischen Union wurden Menschen, die über das Mittelmeer kamen, hier versorgt. Aber jetzt sind wir in Europa, und wer hier ankommt, wird erst einmal verhaftet, weil er nicht einreisen darf. Wenn wir solche Grenzen aufbauen, riskieren wir, selbst darin gefangen zu werden.", sagt Don Carmelo La Magra. Der 38-Jährige mit rotem Bart und weiter Soutane ist seit vier Jahren Pfarrer auf Lampedusa, dem südlichsten Außenposten Europas im Mittelmeer. Knapp 130 Kilometer sind es von hier bis zur tunesischen Küste.
Don Carmelo La Magra: "Sicher ist Lampedusa ein symbolischer Ort. Für die Italiener geschieht alles, was das Thema Migration betrifft, auf Lampedusa. Wenn ein Flüchtlingsboot auf der Insel ankommt, heißt es, in Italien kommen wieder mehr Migranten an. Im Verhältnis zur Gesamtzahl der Migranten sind diejenigen, die auf Lampedusa ankommen, in der weitaus geringeren Zahl. Aber weil Lampedusa im Mittelpunkt des Interesses steht, ist es zu einer Art "Schauplatz der Migration" geworden."
"Wir empfangen die Menschen, einen nach dem anderen"
In diesem Sommer hat Don Carmelo viele Nächte zusammen mit anderen Gläubigen auf den Stufen seiner Kirche San Gerlando verbracht. Mit dieser Geste wollte er für die Aufnahme der 47 Migranten der "Seawatch" und für die 150 Flüchtlinge der "Open arms" demonstrieren. Nur noch wenige private Rettungsschiffe patrouillieren im Kanal von Sizilien, um weitere Tragödien zu verhindern. Hunderte von Migranten sind in den letzten Monaten vor Lampedusa ertrunken.
Don Carmelo La Magra gehört zum "Forum Lampedusa Solidale," einem losen Zusammenschluss von Aktivisten und Gläubigen. Sein Engagement setzt die Tradition der Insel fort, auf der man Seeleute in Not, egal welcher Herkunft, immer geholfen hat. Als Papst Franziskus in Rom im Juni eine Messe für die Aufnahme von Migranten hielt, war Don Carmelo dabei. Viele, Christen und Muslime, bitten ihn um geistigen Beistand.
Bereits bei der Ankunft nehmen die Aktivisten des "Forums Lampedusa Solidale" die Flüchtlinge in Empfang. Die Rechtsanwältin Paola La Rosa gehört dazu. Sie sagt:
"An der Mole empfangen wir Menschen, einen nach dem anderen. Und wenn in einer Nacht 1250 Menschen aus dem Boot steigen, dann empfangen wir auch die einzeln und begleiten sie an Land: Wir hüllen sie in eine Decke, sehen ihnen in die Augen und heißen sie willkommen. Und jeden einzelnen fragen wir, wie es ihm geht und was er braucht."
Weder Helden noch Rassisten
Auch auf Lampedusa hatte bei den Europawahlen die rechtspopulistische Lega gewonnen. Doch das eigentliche Problem war die Wahlbeteiligung von gerade einmal 24 Prozent. Schon seit vielen Jahren fühlt man sich in der Migrantenfrage von Italien - und Europa - allein gelassen. Fischer beklagen, dass ihre Netze durch die ramponierten Boote auf dem Meeresgrund zerstört werden. Die Lampedusaner sind weder Helden noch Rassisten, findet Don Carmelo, sondern fürchten um ihre wichtigsten Einkommensquellen, den Fischfang und vor allem den Tourismus. Im Stadtbild selbst ist kaum ein Migrant zu sehen.
Don Carmelo La Magra: "Man achtet darauf, dass die Anwesenheit der Migranten vor allem im Sommer nicht zu offensichtlich ist. Die Verwaltung der Insel hat Angst, dass sich die Hotelbesitzer beschweren, und die haben Angst, dass sich die Touristen beklagen. Dabei haben sich die Touristen noch nie beschwert, es gibt gar keinen Grund dafür. Selbst wenn sich hier 500 Flüchtlinge gleichzeitig aufhalten, fallen sie unter 50 000 Touristen überhaupt nicht auf."
Eigentlich nahm der Tourismus durch die Migranten eher zu, findet Don Carmelo, weil sie Lampedusa international bekannt gemacht haben. Meist werden die Flüchtlinge nach wenigen Tagen nach Sizilien gebracht. Finanzpolizei, Küstenwache und Carabinieri - 700 Sicherheitskräfte - sind ständig auf der Insel stationiert.
"Für uns gelten die Gesetze des Meeres"
Trotz Salvinis Verdikt, die Häfen zu schließen, kamen viele in kleineren Booten und wurden sogar von der Küstenwache eskortiert. Mitunter wurden Boote beschlagnahmt - und danach gingen die Flüchtlinge an Land.
Während der "Sea Watch" verweigert wurde, den Hafen von Lampedusa anzusteuern, gingen über einhundert Migranten in sogenannten "Sbarchi fantasma", "Geisterbooten", an verborgenen Buchten an Land. Die Staatsanwaltschaft Agrigento hat belegt, dass es Querverbindungen zwischen der Mafia und nordafrikanischen Menschenhändler-Ringen gibt, die Rauschgift transportieren. Bürgermeister Salvatore Martello, auf einer unabhängigen Liste in der Nähe zum sozialdemokratischen "Partito democratico" gewählt, teilt die harte Linie von Innenminister Salvini keineswegs.
Salvatore Martello sagt: "Wir sind vom Meer umgeben und der erste Ort, der von Afrika aus in Italien und damit in Europa liegt. Also ist es selbstverständlich, dass jedes Boot in Seenot als erstes hier vor Anker geht. Für uns gelten die Gesetze des Meeres, das Seerecht. Wir sind ja nicht auf der Autobahn, wo ein Carabiniere die Kelle hebt und "Stop" ruft. So etwas geben nur Ignoranten von sich."