Gerald Beyrodt: Ob sich jemand für Flüchtlinge einsetzt, ob ihm Flüchtlinge gleichgültig sind oder ob er vielleicht dagegen kämpft, wovon hängt das ab? Ist Engagement für Geflüchtete abhängig davon, ob man im Osten oder Westen lebt oder, ob man selbst welche kennt oder in der Nähe einer Flüchtlingsunterkunft wohnt? Fragen wie diese erforscht die Bertelsmann-Stiftung dieses Jahr in ihrem Religionsmonitor. Vor allem widmet sich der Monitor der Rolle der Religion in der Flüchtlingshilfe. Und so lautet die Überschrift: Engagement für Geflüchtete - eine Sache des Glaubens?
Am Telefon habe ich mit Alexander Nagel gesprochen, Professor für Religionswissenschaft in Göttingen, einer der Autoren der Studie. Herr Nagel, wie sind Sie auf die Frage gekommen, ob es einen Zusammenhang gibt zwischen Religion und Engagement für Geflüchtete?
Alexander Nagel: Aus der Engagements- oder Ehrenamtsforschung ist bekannt, dass religiöse Anbindung ein wichtiger Faktor ist dafür, ob man ehrenamtlich aktiv ist oder nicht. Wenn man davon ausgeht, dass die Flüchtlingshilfe ein besonderes Segment des Ehrenamts ist, lag es eigentlich nahe zu fragen, ob auch hier religiöse Hintergründe eine Rolle spielen. Hinzu kommt vielleicht, dass einem auch nach kurzem Nachdenken spezifisch religiöse Quellen von Empathie mit Geflüchteten einfallen. Dazu gehören die verbreiteten Geschichten von Flucht, Vertreibung und Beheimatung in eigentlich allen Traditionen der abrahamitischen Religionen, sei es die Hidschra bei den Muslimen oder der Auszug des erwählten Gottesvolkes, also es liegt eigentlich auf der Hand zu fragen, ob es spezifisch religiöse Quellen von Empathie gibt, die dann auch ein Engagement in der Flüchtlingshilfe befördern.
"Religiöse Menschen sind aktiver"
Beyrodt: Das ist in der Tat sehr auffällig, wie sehr die Religionen die Nächstenliebe und auch die Fremdenliebe und so weiter betonen. Wie ist es denn jetzt, sind religiöse Menschen flüchtlingsfreundlicher?
Nagel: Also flüchtlingsfreundlicher gemessen an der Bereitschaft sich in der Flüchtlingshilfe zu engagieren, ja. Das war eben der Kernbefund unserer Studie, dass sich 44 Prozent der in Deutschland lebenden Muslime in den vergangenen 12 Monaten in der Flüchtlingshilfe engagiert haben, im Vergleich zu 21 Prozent der Christen und 17 Prozent der Konfessionslosen. Daraus könnte man ableiten, dass religiöse Menschen in der Flüchtlingshilfe aktiver sind. Man muss aber auch betonen, dass es natürlich auch nicht-religiöse Quellen von Empathie und nicht-religiöse Formen der Mobilisierung für Geflüchtete gibt. Also das kann natürlich aus einer allgemeinen Vorstellung von Menschenwürde begründet sein - so waren ja eigentlich auch die Debatten in Deutschland.
Beyrodt: Was frappierend ist an Ihren Zahlen, ist, dass sich Muslime mehr engagieren als Christen. Wie kommt das?
Nagel: Ja, da haben wir uns auch viele Gedanken darüber gemacht. Die hohe Beteiligung der Muslime in der Flüchtlingshilfe steht in deutlichem Kontrast zum sonstigen, allgemeinen Ehrenamt. Nun scheint es sich bei der Flüchtlingshilfe um ein Segment von Engagement zu handeln, in dem die Muslime eben besonders präsent sind und dafür lassen sich zumindest zwei Antworten formulieren: Die eine ist, dass Muslime, aufgrund eigener Migrationserfahrung - der Großteil der Muslime in Deutschland haben ja entweder eine eigene oder eine irgendwie in der Familie tradierte Migrationserfahrung -, sozusagen noch näher dran sind an den Geflüchteten. Und zum andern kann man die Zugehörigkeit, das Moslemsein oder Nicht-Moslemsein, auch als Näherungswert für bestimmte Sprach- und Kulturkompetenzen verstehen, die im Rahmen der Fluchtzuwanderung besonders gefragt waren, das heißt, es war vielleicht gar nicht so, dass Muslime eine bestimmte innere Regung verspürt haben, sich jetzt hier zu beteiligen, aber die Kompetenzen, die gefragt waren, waren plötzlich: Spricht jemand Farsi? Spricht jemand Urdu? Und: Kann dieser jemand helfen?
"Kein direkter Zusammenhang zwischen reiner Lehre und Engagement"
Beyrodt: Wir sind ja so ein bisschen ausgegangen, dass die Religion sehr stark das Engagement für andere betonen, zum Teil explizit das Engagement für Flüchtlinge. Kann man das überhaupt sagen, dass ich mich mehr engagiere für Flüchtlinge, wenn das in meinen heiligen Texten steht?
Nagel: Diesen Zusammenhang können wir zumindest so nicht herausstellen. Wir können also nicht den Beweis führen, weil eine religiöse Tradition eine starke Theologie der Flucht oder Migration ausgebildet hat, ist das Engagement größer. Wir können aber schon zeigen, das war für uns ein wichtiges Ergebnis, diejenigen religiösen Menschen, die einer toleranten und /oder pluralistischen Haltung gegenüber anderen Religionen und Weltanschauungen zuneigen, die neigen dazu, sich in der Flüchtlingshilfe zu engagieren.
Beyrodt: Das mit dem Pluralismus ist ja so eine Sache. Bei den Muslimen ist in der Öffentlichkeit immer wieder kritisiert worden, dass sie sich nicht genug für Flüchtlinge engagieren würden, als sie es dann taten, ist wiederum kritisiert worden, ihr macht das ja nur, weil ihr missionieren wollt. Haben Sie dazu was rausgefunden, ist das so?
Nagel: Beides versuchen wir eigentlich zentral zu adressieren, den ersten Punkt, denke ich, widerlegen wir mit der beeindruckenden Zahl von fast der Hälfte der Muslime in Deutschland, die sich engagiert haben für Geflüchtete in den vergangenen zwölf Monaten. Im Vergleich auch zu Christen und Konfessionslosen ein deutlich erhöhter Anteil und der zweiten Frage begegnen wird dadurch, dass wir nochmal genau hinschauen, was sind das eigentlich für Leute, welche Auffassungen haben die. Und dazu haben wir zwei Größen berücksichtigt oder zwei Einstellungsebenen: Einmal ist das die Frage, inwiefern ein religiöses Sendungsbewusstsein oder ein weltanschauliches Sendungsbewusstsein ausschlaggebend für ein Engagement in der Flüchtlingshilfe ist. Das ist ja Teil dieser Indoktrinierungsgeschichte.
Und dann haben wir uns gefragt, inwiefern bestimmte Einstellungen wie eben Toleranz und Pluralismus Aspekte religiöser Einstellungen sind. Und was man da eben sieht - und das ist ganz wichtig -, dass zwar ein gutes Viertel der Muslime, die in der Flüchtlingshilfe beteiligt sind über ein relativ ausgeprägtes Sendungsbewusstsein verfügen, der im größten Maße überwiegende Teil dieser Muslime aber ganz stark Werte von Toleranz und Pluralismus vertritt gemessen an der Tatsache, dass man anderer Religionen und Weltanschauungen einen Wahrheitsanspruch eigener Art zugesteht. Das heißt, eine ganz wichtige Zahl dieser Studie ist, dass diejenigen, die sowohl ein ausgeprägtes Sendungsbewusstsein haben und intolerante oder antipluralistische Haltungen vertreten, nur zwei Prozent der Muslime und ein Prozent der Christen ausmachen, die sich in der Flüchtlingshilfe beteiligen.
"Wenn Missionieren, dann nur mit den Werten der deutschen Gesellschaft"
Beyrodt: Wenn man es ein bisschen holzschnittartig sagt: Die Muslime, die sich da engagieren, wollen eigentlich nicht missionieren.
Nagel: Ganz genau oder wenn sie missionieren wollen, dann nur in eine Richtung, die gut verträglich ist mit Werten, die in der deutschen Gesellschaft verbreitet sind.
Beyrodt: Sie haben noch ganz viele Faktoren erforscht über die wir jetzt gar nicht sprechen konnten. Eine Sache ist der Bildungsgrad, also dass Engagement höher ist, wenn man gebildet ist. Dass Offenheit wichtig ist. Wenn wir jetzt einen Strich drunter machen, wie sieht eigentlich die Person aus, Herr Nagel, die sich am meisten für Flüchtlinge engagiert.
Nagel: Also wenn man aus den Daten des Religionsmonitors ein Bild des idealtypischen Flüchtlingshelfers extrahieren wollte, dann sehe das so aus: Es handelt sich um eine muslimische Akademikerin, mit einer Haltung, die wir als inspirierte Offenheit bezeichnet haben. Das heißt, durchaus ein religiöses Sendungsbewusstsein, aber in Verbindung mit toleranten und pluralistischen Haltungen, die in der Nähe einer Flüchtlingsunterkunft wohnt.
Beyrodt: Wenn ein Flüchtlingsheim in der Nähe ist, dann engagieren sich die Menschen also eher. Über den neuen Religionsmonitor habe ich mit Alexander Nagel gesprochen, einem der Autoren der Studie. Das Interview haben wir vor der Sendung aufgezeichnet.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.