Christiane Kaess: Bei einem Schiffsunglück vor der libyschen Küste sind offenbar etwa 400 Flüchtlinge im Mittelmeer ertrunken. Das geht unter anderem auch aus Schilderungen von Überlebenden hervor, die in der süditalienischen Stadt Reggio Calabria angekommen sind. Unter den Opfern sind wohl auch viele Kinder. Es ist die schlimmste Flüchtlingskatastrophe auf dem Mittelmeer, seit im Oktober 2013 mehr als 360 Menschen vor der italienischen Insel Lampedusa umgekommen waren. Am Telefon ist Ska Keller. Sie ist flüchtlingspolitische Sprecherin der Grünen im Europaparlament. Guten Morgen!
Ska Keller: Guten Morgen.
Kaess: Frau Keller, die schlimmste Flüchtlingskatastrophe auf dem Mittelmeer seit dem Oktober 2013. Ihre erste Reaktion?
Keller: Es ist wirklich unfassbar traurig, dass schon wieder Menschen im Mittelmeer sterben mussten. Leider ereignen sich solche Sachen aber fast täglich. Fast täglich sterben Menschen im Mittelmeer. Und das Traurige ist auch dabei, dass wir eigentlich alle wissen, was getan werden muss. Wir brauchen endlich eine koordinierte Seenotrettung. Die Menschen sind, soweit wir das gerade wissen, kurz vor der libyschen Küste gestorben und eigentlich ist Libyen dafür zuständig, in diesem Bereich Menschen aus Seenot zu retten. Aber wir wissen alle, dass Libyen kaum eine Staatlichkeit hat, die solche Aufgaben übernehmen könnte. Das heißt, da müssen die nördlichen Nachbarn ran. Da muss die Europäische Union auch ihre Verantwortung wahrnehmen, und zwar gemeinsam. Man kann das nicht auch alleine Italien überlassen, die wirklich viel, viel tun, die Italiener. Aber sie brauchen auch europäische Unterstützung, damit das gesamte Mittelmeer auch befahren werden kann.
Kaess: Jetzt wird wieder diskutiert über dieses Programm Mare Nostrum, das italienische Rettungsprogramm für Flüchtlinge. Das ist letztes Jahr ausgelaufen und wurde dann durch die EU-Grenzschutzmission TRITON abgelöst. Es hieß ja schon am Anfang, das sei ungeeignet als Rettungsprogramm für Menschen in Not. Aber Mare Nostrum war teuer und wie hätte es weiter finanziert werden sollen, wenn das Geld dafür fehlt?
"Frontex-Mission deckt zu kleines Gebiet ab"
Keller: Mare Nostrum hat die italienische Regierung ungefähr neun Millionen Euro im Monat gekostet und hat aber ein großes Gebiet abgedeckt. Die sind richtig bis runter nach Libyen gefahren. Jetzt gibt es diese Frontex-Mission, die ein viel kleineres Gebiet abdeckt und auch nicht vor Libyen, und Frontex ist eine Grenzschutzmission, keine Rettungsmission. Ich denke, was damals passieren hätte müssen und was jetzt passieren sollte ist, dass alle europäischen Staaten zusammen sagen, wir müssen da was machen, dass Italien das nicht selbst bezahlt und dafür aufkommt, sondern dass es eine gemeinsame, europäisch koordinierte Seenotrettungsaktion gibt, die auch langfristig angelegt ist.
Kaess: Wie sollte sie finanziert werden?
Keller: Durch die Mitgliedsstaaten der Europäischen Union, und zwar alle gemeinsam.
Kaess: Sie haben gerade schon Italien und die Situation dort angesprochen. Wir wissen auch, dass viele Auffanglager in Italien vollkommen überfüllt sind. Auf Lampedusa sollen 1.400 Menschen in einem Lager sein, das für etwa 250 ausgelegt ist. Wird Italien mit dem Problem allein gelassen?
Keller: Italien und auch andere südliche Mitgliedsstaaten und auch östliche Mitgliedsstaaten haben in der Tat viel mehr Ankünfte von Asylsuchenden als andere Mitgliedsstaaten. Es gibt Mitgliedsstaaten, die nehmen so gut wie keine Flüchtlinge auf, weder, dass welche da hinkommen, noch, dass sie Flüchtlinge neu ansiedeln über sogenannte Resettlement-Projekte. Es fehlt wirklich an europäischer Solidarität hier zwischen den Mitgliedsstaaten. Klar müssen auch die Länder im Süden und Osten mehr tun, damit sie Menschen menschenwürdig unterbringen. Auch da kann Italien viel tun, da kann Griechenland viel tun, können andere Staaten viel tun. Aber es ist eben auch klar, dass man nicht sagen kann, ja gut, das ist halt ein italienisches Problem, werdet ihr da mal mit fertig, sondern es braucht wirklich der europäischen Unterstützung, der europäischen Solidarität, und da lehnen sich viele Mitgliedsstaaten zurück, die keine Außengrenzen haben, und die sagen, schaut doch mal, wie ihr damit fertig werdet, und das kann nicht sein in der Europäischen Union. Wir sind auch ein Solidaritätsverbund.
Kaess: Auf der anderen Seite, Frau Keller, berichten Gerettete dieses Unglücks jetzt gerade, dass es in Tripolis unhaltbare Zustände waren, unter denen sie dort hausen mussten. Muss nicht auch mehr tatsächlich an der Situation in den Ländern geändert werden, wo die Flüchtlinge vor ihrer Überfahrt stranden?
"Fluchtursachen bekämpfen"
Keller: Ganz viel muss getan werden im Bereich der Fluchtursachen. Da kann die Europäische Union manchmal etwas tun, allein schon durch eine fairere Politik nach außen. In anderen Bereichen ist es schwieriger. Was will man jetzt ganz schnell in Syrien tun, damit sich die Situation da verbessert? Ähnlich ist es in Libyen oder in anderen Transitstaaten. Es ist ja völlig verständlich, dass Menschen da nicht bleiben können. Libyen hat eine furchtbar schwierige Situation. Es gibt kaum noch staatliche Kontrolle oder staatliche Autorität vor Ort, die Menschen, sei es den eigenen Staatsbürger oder den Flüchtlingen helfen könnten. Da ist es völlig verständlich und normal, dass die Menschen dann weiter müssen. Da kann man aber auch was tun. Man kann zum Beispiel über sogenannte Resettlement-Projekte und Programme Menschen auf einem sicheren und legalen Weg ausfliegen, in die Europäische Union hinein. Dann weiß man erstens auch, wie viele kommen, und es muss keiner sterben auf dem Weg nach Europa.
Kaess: Sagt Ska Keller. Sie ist flüchtlingspolitische Sprecherin der Grünen im Europäischen Parlament. Danke für das Gespräch.
Keller: Ich danke Ihnen.
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