Dieses Ritual findet bisher jeden Morgen an jeder griechischen Schule im Land statt: Man sieht Kinder in Reih und Glied stehen, eines davon spricht laut das "Vater unser".
"Schüler und Lehrer kommen jeden Morgen zusammen und beten. Das ist gesetzlich so festgelegt. Bisher war das kein Problem, da 99 Prozent unserer Bürger dem griechisch-orthodoxen Glauben angehören. Es ist zum ersten Mal so, dass wir es mit Menschen zu tun haben, die keine Christen sind. Und vielleicht werden sie in naher Zukunft sogar ihre eigenen Gebete bei uns sprechen müssen."
So drückt der Direktor des 1. Gymnasiums der Inselhauptstadt Mitilini und Sohn eines ehemaligen griechischen Generals, Alekos Koutsandonis, seine Sorge über die Zukunft des Morgengebets in den griechischen Schulen aus. Mit der Ankunft Tausender Muslime auf der Insel Lesbos und der bevorstehenden Einschulung der Migrantenkinder fürchtet der Gymnasialdirektor jetzt, dass diese typisch griechischen Rituale drohen verloren zu gehen.
"Unsere Insel hat seit dem letzten Jahr sehr viele Flüchtlinge und Emigranten aufgenommen, die unterwegs nach Westeuropa waren. Wir haben eine sehr große Anzahl von Geflüchteten aufnehmen müssen. Nach dem jüngsten Deal mit der Türkei fühlen sich hier ca. 6.000 geflohene Menschen gefangen. Kulturell und von ihrem Glauben haben diese Menschen überhaupt nichts mit unserer Region zu tun. Sie besitzen kein europäisches Bewusstsein und genießen keine europäische Erziehung. Das ist nicht schlimm, aber es ist eben auch total unbekannt für uns."
"Die Lehre Christi wird wie ein Märchen erzählt"
Aus den Äußerungen des Lehrers Koutzandonis sprechen Angst und Verunsicherung. In Griechenland hat man bisher kaum Erfahrung im Umgang mit religiösen Minderheiten sammeln können. Darüber hinaus kämpft Griechenland noch immer um die eigene Identität, nach seiner Befreiung von der osmanischen Fremdherrschaft vor knapp 200 Jahren. Griechisch-orthodox zu sein wird vielerorts noch immer mit dem Griechisch sein gleichgestellt. Kein Wunder also, dass der Religionsunterricht in der Schule als wichtiges Pflichtfach angesehen wird. Die Oberstufenschülerin Franzeska Salmos erklärt.
"Ich halte den Religionsunterricht für sehr wichtig. Nicht nur, damit ich in die Lehre des griechisch-orthodoxen Glaubens eingewiesen werde. In den griechischen Schulen übernimmt der Religionsunterricht die Aufgabe, den Kindern Werte von Mitmenschlichkeit und Güte beizubringen. Die Lehre Christi wird den Kindern wie ein Märchen erzählt, dass uns hilft zu unterscheiden, was gut und was böse ist."
Jetzt aber sorgen die vielen geflüchteten Muslime auf Lesbos in der Inselhauptstadt für Unruhe. Der Gymnasiallehrer Koutzandonis spricht von einer Islamisierung der Insel Lesbos und hält diesen Umstand für gefährlich. Denn Lesbos ist ja auch nur einen Katzensprung von der kleinasiatischen Küste entfernt. Die Ankunft von Muslimen auf seiner Insel ruft alte Schreckensbilder von Okkupation und Unfreiheit hervor.
"Bringt sie, wohin ihr wollt."
Ich treffe Alekos Koutzsandonis im stadtbekannten "Panellinikon" Cafe. Groß muss der Raum sein und gut überschaubar. Denn Alekos Koutsandonis fürchtet seit kurzem um sein Leben. Seitdem er angefangen hat in aller Öffentlichkeit seine Bedenken wegen der muslimischen Flüchtlinge zu äußern, wird er von linken Gruppierungen bedroht. Da alle wissen, dass er Mitglied der Nea Dimokratia ist, macht er sich mit seinen radikalen Äußerungen politisch angreifbar. Als Rassist sieht er sich nicht, er verurteilt aber die Unfähigkeit der griechischen Regierung, den Einschulungsprozess der muslimischen Kinder richtig voranzutreiben.
"Ich glaube, dass 80 Prozent meiner Landsleute dieselben Ansichten vertreten, aber niemand traut sich, sie laut auszusprechen. Ohne entsprechendes Lehrpersonal und Aufnahmeklassen kann ich nicht arbeiten. Die Kinder brauchen einen vernünftigen Griechisch Unterricht, um irgendwann am regulären Unterricht teilnehmen zu können. Vor allem aber, wissen wir zu wenig über ihre Kultur. Deshalb sage ich: Sie müssen von der Insel so schnell wie möglich weg. Basta! Bringt sie, wohin ihr wollt, stationiert sie nur nicht hier an der äußersten Grenze Griechenlands. Wenn 100 oder 200 bleiben, kein Problem, das macht noch keine Minorität, aber bei so vielen Tausend auf einer Insel, die so nah an der Türkei ständig um ihre Identität kämpfen muss, ist es ein großes Problem."
Was wird aus den Ikonen?
Tatsächlich denken viele so wie der Lehrer Koutzandonis. Und viele Eltern sind sogar der Ansicht, dass sich ihre eigenen Kinder angreifbar machen, wenn immer mehr muslimische Kinder eingeschult werden. Was wird aus dem Christusbild oder den Ikonen, die in jeder Klasse hängen? fragen sie. Müssen diese beseitigt werden? Mit jedem weiteren Tag, der vergeht, wächst die Sorge der Menschen auf Lesbos, dass die Etablierung einer islamischen Minderheit sie ihrer griechisch-orthodoxen Identität berauben könnte.
Doch es gibt auch andere Stimmen, wie die von Elpi Deligianni, Mutter eines 11-jährigen Jungen.
"Wir leben in einer Zeit der Globalisierung. Wir können nicht mehr sagen, wir wollen nur Christen bei uns haben. Und nur weil wir Andersgläubige aufnehmen, muss das noch lange nicht heißen, dass wir unseren eigenen Glauben verlieren. Diese Menschen können das glauben, was sie wollen und wenn sie an unseren Religionsunterricht nicht teilnehmen wollen, dann ist das für mich in Ordnung."
Die Konfrontation mit den Geflüchteten hat die Menschen auf Lesbos in eine Identitätskrise gestürzt.