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Flüchtlingskrise
"Eine Obergrenze lässt sich nicht einhalten"

Die Politik müsse den Menschen ehrlich sagen, dass die kommenden Monate nicht leicht würden, sagte die Fraktionsvorsitzende der Grünen im Bundestag, Katrin Göring-Eckardt, im DLF. Eine Obergrenze für die Aufnahme von Flüchtlingen lasse sich nicht definieren. Ultimaten wie die des CSU-Chefs Horst Seehofer seien das falsche Signal.

Katrin Göring-Eckardt im Gespräch mit Mario Dobovisek |
    Katrin Göring-Eckardt, Fraktionsvorsitzende von Bündnis 90/Die Grünen.
    Katrin Göring-Eckardt, Fraktionsvorsitzende von Bündnis 90/Die Grünen. (picture alliance / dpa / Bernd von Jutrczenka)
    Man sehe den Flüchtlingen die Strapazen der Überfahrt über das Mittelmeer an, führte Göring-Eckardt aus. Die Grünen-Politikerin hält sich zur Zeit in Mazedonien auf. Dort seien ein Viertel der ankommenden Flüchtlinge Kinder. Die Hilfskräfte täten alles, was sie könnten. Trotzdem müssten die Menschen kilometerweit durch den Schlamm waten. Wenn im Winter noch Schnee dazukomme, sei zu befürchten, dass man die Situation kaum noch zu bewältigen könne, so Göring-Eckardt.
    Die am Wochenenden beim Krisentreffen in Brüssel vereinbarten Flüchtlingslager entlang der sogenannten Balkan-Route bewertete die Grünen-Fraktionsvorsitzende kritisch. "Die Probleme an die EU-Außengrenzen zu verlagern, ist wieder die alte Politik, die schon seit Jahren gescheitert ist." Es habe schon fast etwas verzweifeltes, zu diskutieren, ob Strukturmittel danach vergeben werden könnten, wer in der Flüchtlingskrise wie viel leiste. "Aber wenn es nicht anders geht, dann müssen wir das tun". Dieses letzte mögliche Mittel hieße dann aber auch, dass "wir die Probe darauf, wie Europa eigentlich gemeint ist, nicht bestanden haben".
    Kritik an Horst Seehofer
    Göring-Eckardt kritisierte die Forderung von Bayerns Ministerpräsident Horst Seehofer, die Bundeskanzlerin müsse bis zum Wochenende Maßnahmen zur Begrenzung des Zustroms treffen: "Ultimaten stellen bis Allerheiligen - das ist Totengedenken, was ist denn das für ein Signal?" Es sei falsch, die Öffentlichkeit ständig damit zu beschäftigen, was man tun könne, um die Zahl der Flüchtlinge zu begrenzen. Die politische Klasse dürfe - egal in welcher Rolle - keine Versprechen machen, die nicht einzuhalten seien. "Und eine Obergrenze gehört zu den Versprechen, die nicht einzuhalten sind." Stattdessen müsse man der Realität ins Auge blicken und ehrlich sagen, dass die Bewältigung der Krise viel Geld koste und es sehr schwierig werde, in den kommenden Monaten eine "Willkommensstruktur" aufzubauen.

    Das Interview in voller Länge:
    Mario Dobovisek: Von Griechenland aus geht es erst nach Mazedonien und weiter nach Serbien. Ungarn ist dicht, die meisten Flüchtlinge weichen deshalb auf Kroatien aus und erreichen so Slowenien - einer der möglichen Wege auf der sogenannten westlichen Balkan-Route. Bis zu 13.000 Flüchtlinge täglich kommen derzeit nach Slowenien. Das zwei Millionen Einwohner Land ist überfordert, rief nach Hilfe und bekommt sie auch. 400 Polizisten aus anderen Ländern sollen unterstützen, darunter auch deutsche Bundespolizisten. Und dann: Die meisten Flüchtlinge ziehen weiter nach Österreich, von Maribor aus nach Graz in der Steiermark.
    Reisen wir dem Zug der Flüchtlinge auf der Balkan-Route ein paar hundert Kilometer entgegen: nach Mazedonien. Dort unterwegs ist Katrin Göring-Eckardt, die Fraktionsvorsitzende der Grünen im Bundestag. Gestern war sie an der Grenze zu Serbien, heute geht es weiter in Richtung Griechenland. Guten Morgen, Frau Göring-Eckardt.
    Katrin Göring-Eckardt: Schönen guten Morgen, Herr Dobovisek.
    Dobovisek: Wir haben es gerade gehört, wie es an der Grenze zwischen Slowenien und Österreich aussieht. Welche ersten Eindrücke konnten Sie in Mazedonien gewinnen?
    Göring-Eckardt: Ja auch hier kommen die Leute schon sehr entkräftet an. Es ist einfach in den Nächten kalt. Man läuft kilometerweit durch die Nacht mit vielen kleinen Kindern. Ungefähr ein Viertel derjenigen, die aus den Zügen aussteigen, sind Kinder, sehr, sehr viele Kleinkinder dabei, und man sieht, dass die Überfahrt übers Meer, der Weg von Griechenland bis nach Mazedonien und Serbien tatsächlich schon sehr an den Menschen zehrt und dass insbesondere die Kinder entkräftet sind. Ansonsten ist die Situation hier so, dass man schon fast sagen kann, das ist relativ reibungslos. Aber relativ reibungslos heißt auch, die Leute müssen über Kilometer durch den Schlamm waten, und die Hilfskräfte hier vor Ort, das Hilfswerk der Vereinten Nationen, viele, viele Freiwillige, auch übrigens die amtlichen Hilfskräfte tun, man hat so das Gefühl, was sie können und überlegen sich, wie kann das eigentlich in den nächsten Monaten weitergehen, wenn es tatsächlich auch noch Schnee gibt, wenn es unter null Grad ist. Im Moment sind es nachts so zwischen fünf und sechs Grad und da merkt man schon, das ist kaum noch zu bewältigen.
    Die Leute wollen weiter nach Europa
    Dobovisek: Wollen denn Flüchtlinge auch in Mazedonien bleiben, gerade um die Strapazen des Weiteren Weges zu umgehen?
    Göring-Eckardt: Alle, die wir gefragt haben, wollen weiter und wollen übrigens auch schnell weiter. Selbst die Stationen, die sagen, hier gibt es erst mal medizinische Versorgung und was zu essen, werden sehr schnell passiert. Die Leute wollen weiter und sie wollen weiter nach Österreich, sie wollen weiter nach Deutschland und auch nach Schweden. Deutschland ist nicht das einzige Land, was als Zielland angegeben wird. Aber viele wissen es auch noch nicht, sondern sie sagen nur, wir wollen auf jeden Fall weiter nach Europa, und dann sehen wir, wie es weitergeht.
    Dobovisek: Der EU-Minigipfel mit den Ländern der Westbalkan-Route hat nach zähem Ringen am Sonntag beschlossen, in Griechenland und entlang der Balkan-Route 100.000 Aufnahmeplätze für Flüchtlinge zu schaffen. Wo genau ist nicht klar. Droht hier der gleiche zähe Kampf wie um die Verteilquoten?
    Göring-Eckardt: Was da für ein Kampf droht, weiß man ja noch gar nicht. Wenn es darum geht, dass man dafür sorgt, dass humanitär geholfen wird, dass die Möglichkeiten sich da tatsächlich verbessern, dann sage ich, das ist was Positives. Wenn das dazu führen soll, die Menschen dort im Winter in Zelten festzuhalten, die kaum beheizt sein können, dann kann das aus meiner Sicht jedenfalls kein sinnvoller Weg sein. Und was Europa jetzt ja tun muss ist, diese Bewährungsprobe zu bestehen und zu sagen, selbstverständlich müssen die Menschen innerhalb Europas auch verteilt werden. Ich finde das eine sehr ernste Situation für dieses gemeinsame Europa, ob das zu bewältigen ist oder nicht, und dass man die Situation dann wieder vor allen Dingen an die Außengrenzen verlagern will, das ist die alte Politik, die total gescheitert ist. Das wissen wir.
    Wir haben jahrelang versucht, als Europa abzuschotten. Wir haben jahrelang versucht, mit Grenzsicherung etc. nicht hinzuschauen. Da sind Tausende von Menschen ertrunken. Jetzt kommen viele, viele hierher und ich finde, wir sollten eher der Situation der Realität ins Auge blicken und sagen, das wird in den nächsten Monaten sehr, sehr anstrengend für uns werden, die nicht nur Willkommenskultur, sondern auch Willkommensstruktur aufzubauen, aber dem müssen wir uns stellen, und zwar als Europa gemeinsam.
    Strukturmittelverteilung als letztes Mittel
    Dobovisek: Nun hat Europa ja bekanntlich ein Solidaritätsproblem. Das haben wir in den vergangenen Wochen beobachten dürfen, beobachten müssen. Geld als Druckmittel schlug Österreich schon im August vor. Jean-Claude Juncker als EU-Kommissionspräsident geht da jetzt auch noch so weit und redet von einer flexiblen Auslegung der Regeln im Stabilitäts- und Wachstumspakt für jene Länder, die besonders stark von der Krise betroffen sind. Sind Zuckerbrot und Peitsche am Ende die einzige funktionierende Lösung?
    Göring-Eckardt: Ja, es ist schon fast ein bisschen verzweifelt, dass man auf die Idee kommt, danach zu fragen, ob man die europäischen Strukturmittel, ob man die europäischen Mittel insgesamt denn danach vergibt, wer Flüchtlinge wirklich aufnimmt und wer sich weigert. Trotzdem: Wenn das die einzige Möglichkeit ist, die im Moment innerhalb Europas funktioniert, dann muss man darüber nachdenken.
    Dobovisek: Eine Möglichkeit, die Sie begrüßen?
    Göring-Eckardt: Eine Möglichkeit, über die man nachdenken muss, wenn alles andere nicht mehr geht. Begrüßen tue ich das nicht, weil ich finde, dass wir in Europa erst mal eine Wertegemeinschaft sind und nicht eine Wirtschafts- und Finanzgemeinschaft. Und dass wir das in den letzten Jahren waren, dass wir, wenn es um Wirtschaft und Finanzen ging, am Ende uns in Europa immer zusammenraufen konnten, das ist ja positiv. Aber wenn das alles ist, was übrig bleibt von diesem gemeinsamen Europa, dann wäre das sehr bitter. Aber austragen können wir das unmöglich auf dem Rücken der Flüchtlinge, die jetzt zu uns kommen, und deswegen halte ich das für ein letztes mögliches Mittel. Aber ich würde es nicht nur bedauern, sondern ich glaube, das würde auch heißen, dass wir diese Probe darauf, wie dieses Europa eigentlich gemeint ist, nicht bestanden haben.
    Asylgrundrecht kennt keine Obergrenze
    Dobovisek: Viele Flüchtlinge - Sie haben es ja auch selber gesagt - wollen weiterreisen, viele darunter auch nach Deutschland. Jetzt kommen markige Worte aus Bayern. Wir haben das alles gemeinsam gehört. Ein Ultimatum aus Bayern von Horst Seehofer setzt sozusagen der Kanzlerin die Pistole auf die Brust. Das letzte Mal, als der bayerische Löwe gebrüllt hat, versprach Berlin ihm Transitzonen. Muss Deutschland jetzt eine Kapazitätsgrenze definieren?
    Göring-Eckardt: Ich weiß nicht, wie man die definieren soll, ehrlich gesagt. Wir wissen, dass das Grundrecht auf Asyl, weil es ein Grundrecht ist, keine Obergrenze kennt. Wir wissen, dass viele Kommunen in Deutschland tatsächlich extrem belastet sind und sich fragen, wie sollen wir das eigentlich die nächsten Wochen schaffen. Und ich kann jede Kommune verstehen, die sagt, wir brauchen noch weitere Hilfe, wir brauchen weitere Hilfe des Bundes, wir brauchen weitere Unterstützung auch personeller Art, wir brauchen vor allen Dingen eine vernünftige Struktur. Wir müssen dafür sorgen, dass diese Anträge endlich bearbeitet werden. Wenn man hier an der Grenze unterwegs ist, dann sieht man, dass die Leute schon dreimal registriert worden sind. Wir machen das in Deutschland noch mal, ohne dass es einen Austausch von Daten beispielsweise gibt. Und ich finde, was Horst Seehofer jetzt in erster Linie tun müsste, ist nicht, Ultimaten zu stellen bis Allerheiligen. Ich meine, das ist Totengedenken. Was ist das eigentlich für ein Signal?
    Sondern er müsste das, was das größte Problem ist, was wir politisch haben, nämlich auch eine richtige krasse Vertrauenskrise, mit lösen und müsste sich an den Tisch setzen und sagen, wie machen wir es, und nicht mit Abblocken, mit "hier geht nichts mehr" reagieren. Und ein Land wie Bayern, das in der Tat ja sehr viele Menschen jetzt zu versorgen hat, was aber auch stark ist, was reich ist, und das sind wir als Deutschland ja insgesamt. Die Frage ist doch eigentlich: Haben wir eine Task Force und reden darüber, wie wir das schaffen und wer helfen muss und wer helfen kann an welcher Stelle, und nicht die Öffentlichkeit permanent damit zu beschäftigen, dass man so tut, als ob man etwas verhindern könnte. Man wird es nicht können und das hat nicht nur damit zu tun, dass wir unsere Verfassung ernst nehmen müssen, sondern das hat einfach damit zu tun, dass ganz viele Jahre weggeschaut worden ist, dass ganz viele Jahre so getan worden ist, als könnte man die Flüchtlinge an der Grenze halten.
    Dobovisek: Nun müssen wir nicht unbedingt zurückblicken, sondern blicken wir mal nach vorne. Auch Baden-Württemberg ist ein reiches Bundesland, um bei Ihrer Ausdrucksweise zu bleiben. Das sieht Ihr Parteifreund Boris Palmer anders mit den Obergrenzen, die Sie gerade abgelehnt haben. Er ist Oberbürgermeister von Tübingen und sprach bei uns am Montag sehr wohl von Obergrenzen. Hören wir, was er gesagt hat:
    O-Ton Boris Palmer: "Wenn wir dieses Tabu nicht brechen, dann wird es dazu kommen, dass die Leute ausweichen und sagen, die Politik hört nicht zu, dann wähle ich AfD, nicht weil ich die will, sondern weil ich will, dass die Politik was ändert."
    Dobovisek: Wir haben gerade gehört, wie viele Menschen in diesen Minuten nach Österreich kommen. In Mazedonien sehen Sie es selbst, Frau Göring-Eckardt. Und viele weitere Flüchtlinge werden wohl noch folgen. Also noch einmal meine Frage: Wo liegen die Grenzen der Belastbarkeit?
    Göring-Eckardt: Ich finde, dass jeder Politiker, und zwar egal auf welcher Ebene, ob das ein Oberbürgermeister ist, wenn Sie den zum Beispiel von Stuttgart hören, Fritz Kuhn, auch ein Grüner, der sagt, ja, wirklich sehr schwierig, aber trotzdem, wir müssen das schaffen, und übrigens Boris Palmer hat ja seine Position inzwischen auch geändert und sagt, wir müssen darüber reden, wie wir es schaffen können. Darum geht es jetzt. Es geht nicht darum, die Leute in Richtung AfD zu treiben und Herrn Höcke recht zu geben, der schon den Untergang des Abendlandes befürchtet und die Überfremdung und ich weiß nicht, was alles wir da hören. Sondern es geht darum, dass die politische Klasse - und da ist es völlig egal, in welcher Rolle man ist, ob man in der Opposition ist oder in der Regierung - keine Versprechen macht, die man nicht einhalten kann. Eine Obergrenze, die man festlegt, gehört zu so einem Versprechen, das man nicht einhalten kann. Und dass wir ehrlich sagen, das wird viel Geld kosten und das wird in den nächsten Monaten auch nicht leicht werden. Da wird es rumpeln, da wird es Schwierigkeiten geben, Leute unterzubringen etc. Aber dann - und weil wir ja über die Zukunft sprechen wollen -, wenn wir es gut machen, wenn wir sofort mit der Integration anfangen, können wir als Land auch davon profitieren.
    Viele sagen ja, machen den Vergleich mit der deutschen Einheit. Ich glaube, hier sind wir noch eine Stufe weiter. Die deutsche Einheit haben wir einigermaßen gemeistert. Hier könnten wir beweisen, dass wir als ein reiches Industrieland auch Menschen integrieren können und damit nicht nur Facharbeiter haben, nicht nur die demografische Frage möglicherweise gelöst haben, ganz anders, als wir es ursprünglich mal dachten, sondern dass wir auch aus so einer Krisensituation tatsächlich gestärkt hervorgehen können. Es gibt viel Hilfsbereitschaft, nicht nur von Ehrenamtlichen, sondern auch von Leuten in den Verwaltungen, die sagen, wir müssen völlig neu denken, und ich glaube, die Frage, ob wir diese Veränderung meistern und ob wir sie in die Hand nehmen, davon hängt auch ab, wie wir als Land dann dastehen, und ich finde, da sollten auf allen Ebenen die Leute mithelfen und nicht der Bevölkerung Angst machen auf der einen Seite oder Versprechen machen auf der anderen Seite, die nicht einzuhalten sind.
    Dobovisek: Die Fraktionsvorsitzende der Grünen im Bundestag, Katrin Göring-Eckardt, derzeit auf Reisen in Mazedonien. Ich danke Ihnen für das Gespräch.
    Göring-Eckardt: Ich bedanke mich auch und wünsche einen guten Tag.
    Dobovisek: Ebenso!
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.