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Flüchtlingskrise in Griechenland
Merkel hat an Ansehen gewonnen

Mit Tausenden Flüchtlingen im Land, die an der Grenze gestrandet seien, fühle sich Griechenland von Europa alleingelassen, sagte der Ökonom Jens Bastian im DLF. "Das überfordert schlichtweg Wirtschaft und Gesellschaft." Positiv habe sich aber das Bild der Griechen von Kanzlerin Merkel verändert, weil sie konsequent eine europäische Lösung fordere.

Jens Bastian im Gespräch mit Dirk Müller |
    Der griechische Ministerpräsident Alexis Tsipras spricht während einer Konferenz in London mit Bundeskanzlerin Angela Merkel.
    Der griechische Ministerpräsident Alexis Tsipras spricht mit Bundeskanzlerin Angela Merkel. (imago / ZUMA Press)
    Dirk Müller: Tausende Flüchtlinge harren aus, wir haben das eben auch gehört, an der Grenze zwischen Griechenland und Mazedonien. Die Regierung von Alexis Tsipras fordert die anderen Länder auf, die Flüchtlinge direkt weiterzuleiten, damit Griechenland zu entlasten. - Am Telefon ist nun der Wirtschaftswissenschaftler und Unternehmensberater Jens Bastian, der seit vielen Jahren in Griechenland arbeitet und lebt. Guten Tag nach Athen.
    Jens Bastian: Guten Tag, Herr Müller.
    Müller: Herr Bastian, hat Griechenland längst die Kontrolle verloren?
    Bastian: Eigentlich nicht die Kontrolle verloren, aber es wird immer schwieriger, diese Kontrolle auszuüben, weil Griechenland im Selbstverständnis sich als alleingelassen fühlt. Und das, was sich gegenwärtig an der Grenze zu Mazedonien in Idomeni abspielt, 12.000 Flüchtlinge, die nicht mehr weiterreisen können, da ist Griechenland überfordert und da möchte Griechenland nicht zum Sündenbock gemacht werden.
    Müller: Jetzt haben wir aus Brüssel gestern gehört, es gibt 700 Millionen Euro in den kommenden Jahren. Ist das nicht genug?
    "Griechenland kann Flüchtlingen keine Beschäftigung verschaffen"
    Bastian: Das wird sich zeigen in den kommenden Jahren, ob das genug ist. Das ist ja auf drei Jahre angelegt, dieser Kommissionsbeschluss, Sondermittel Griechenland zur Verfügung zu stellen. Aber es geht ja nicht nur um die Finanzierung, sondern auch darum, wenn sie denn in Griechenland ankommt, wie schnell können dann zum Beispiel Unterkünfte gebaut werden, Sprachkurse angeboten werden. Und vor allen Dingen, Herr Müller: Griechenland hat eine Arbeitslosigkeit von 25 Prozent. Griechenland kann Flüchtlingen keine Beschäftigung verschaffen.
    Müller: Die Hotspots waren auch immer wieder groß in der Diskussion, das heißt diese Erstaufnahmelager, mit der Logistik, mit der Organisation. Umfassend sollte das alles verbessert werden, es sollte vergrößert werden, auch die Anzahl sollte dementsprechend ja vermehrt werden. Geht das zumindest in die richtige Richtung?
    Bastian: Hier sind Fortschritte in den vergangenen Wochen eindeutig erkennbar, vor allen Dingen auf den Inseln, dass die sogenannten Hotspots, die Sie ansprechen, in der Tat auch fast vollständig errichtet worden sind. Aber danach geht es ja darum, wenn die Flüchtlinge dann mit dem Boot in Piräus auf dem Festland ankommen und dann Richtung Norden weitergehen möchten: Können sie die Grenze überqueren zu Nord-Mazedonien? Und es ist ja immer stärker absehbar, dass dies nicht der Fall ist. Das heißt, Griechenland wird immer mehr zu einem Rückhalteland für Flüchtlinge und Migranten, und da ändert sich dann die gesamte Architektur der Flüchtlingspolitik in Griechenland: Nicht nur die Kosten, sondern dann muss auch mehr Personal aufgenommen werden, dann muss an den Grenzen anders registriert werden. Damit ist Griechenland gegenwärtig überfordert. Da zeigt sich auch, dass die Sparpolitik der vergangenen Jahre heute kontraproduktiv ist.
    Müller: Auf der anderen Seite soll das ja konterkariert beziehungsweise flankiert und aufgefangen werden mit europäischer Hilfe, durch europäische Solidarität, auch personell, auch logistisch. Funktioniert das nicht?
    Flüchtlinge, die länger bleiben - darauf ist Griechenland nicht vorbereitet
    Bastian: Das ist absolut notwendig, dass diese europäische Hilfe personell und auch, was die Sachkosten angeht, hier in Griechenland ankommen werden. Einzelstaatliche Lösungen, wie Sie das eben von verschiedenen deutschen Politikern angesprochen haben, helfen uns hier nicht weiter. Wir können auch Griechenland nicht alleine lassen. Deswegen ist es gut, dass zum Beispiel heute der EU-Ratsvorsitzende Donald Tusk in Athen ist, um sich vor Ort ein Bild zu machen von den Möglichkeiten, aber auch von den Risiken, die gegenwärtig in Griechenland vorhanden sind.
    Müller: Ist denn diese Hilfe, ganz gleich welche es ist, finanziell oder auch personell, entsprechend schon angekommen, dass man das schon umsetzen konnte?
    Bastian: Ja, sie kommt schrittweise an. Das merken wir ja in der Art und Weise, wie die Regierung auch insgesamt mittlerweile lernt, mit dieser Hilfe umzugehen, das Geld dann auch den Bürgermeistern auf den Inseln zur Verfügung zu stellen. Aber das ist ja immer nur Erstaufnahme-Hilfe. Wenn Sie allerdings Flüchtlinge im Land haben, die nicht mehr durchreisen können, sondern für drei Monate oder länger bleiben, dann müssen Sie die ganze Architektur der Flüchtlingshilfe in Griechenland ändern. Darauf ist Griechenland gegenwärtig nicht vorbereitet.
    Müller: Und die Europäer und auch die Deutschen inzwischen, die Österreicher allemal, wollen ja auf gar keinen Fall, dass die Flüchtlinge dann nach einer kurzen Zeit in Griechenland einfach durchgewunken werden.
    "Die Stimmung kann auch umschlagen"
    Bastian: Das wollen sie in der Tat nicht. Aber da macht Griechenland sehr deutlich, da können wir dieses Land nicht alleine lassen. Da können wir nicht auf einmal zum Beispiel damit drohen, wenn die Grenzen nicht ausreichend gesichert werden, fliegt Griechenland aus dem Schengen-Raum raus. Wir können dieses Land, das ja schon ohnehin durch die vergangenen Jahre der Wirtschafts- und Sozialkrise wirklich ein geschundenes Land ist, wir können es nicht noch zusätzlich zu dem Land machen, dem die Flüchtlings- und Migrantenkrise in Europa aufgebürdet wird. Das überfordert schlichtweg Wirtschaft und Gesellschaft und auch die politische Architektur des Landes.
    Müller: Wie sieht das die normale Bevölkerung, mit denen Sie ja auch tagtäglich in Kontakt treten, mit ihnen reden? Lässt Europa Athen und das ganze Land im Stich?
    Bastian: Die Bevölkerung in Griechenland reagiert, obwohl es ja selber von einer Sozial- und Wirtschaftskrise getroffen ist, mit großer Hilfsbereitschaft. Die Zivilgesellschaft hat im Grunde genommen es erst ermöglicht, dass wir in dem vergangenen Jahr und in den ersten zwei Monaten dieses Jahres diese Krise zwar nicht bewältigen können, aber damit umgehen können. Aber meine Sorge ist, dass die Stimmung auch umschlagen kann. Die Menschen haben wenig, sie versuchen, es zu teilen mit den Flüchtlingen, aber am Ende des Tages ist das ein Tropfen auf den heißen Stein. Was sich allerdings sehr positiv verändert ist, dass in Griechenland zum ersten Mal erkennbar ist, dass Kanzlerin Merkel hier ein ganz anderes Bild an Ansehen bekommt, weil sie Lösungen propagiert in Europa, die in Griechenland akzeptiert werden.
    Müller: Sie war die böse Kanzlerin aus Berlin im Rahmen der Finanzkrise, im Rahmen der harten Verhandlungen um die entsprechenden Unterstützungen, um das Sparprogramm, was ja nach wie vor sehr umstritten ist in Griechenland, und jetzt ist das im Grunde fast schon vergessen und sie ist plötzlich die Helferin des Landes?
    "Kanzlerin Merkel hat hier auf einmal Kredit"
    Bastian: Vergessen ist es nicht, Herr Müller. Aber es ist ein Wandel festzustellen, eine Überraschung, dass viele Griechen feststellen: Diejenige, die in Europa europäische Lösungen propagiert und das am überzeugendsten auch macht und konsequent dabei bleibt in den vergangenen Monaten, ist Kanzlerin Merkel. Deswegen ist das Bild nicht vergessen der vergangenen Jahre, aber es ist im Wandel begriffen und Kanzlerin Merkel hat hier auf einmal Kredit, den sie in den vergangenen Jahren nicht hatte, und ich glaube, das ist ganz wichtig für das bilaterale Verhältnis zwischen Athen und Berlin, um gemeinsame Lösungen zu finden.
    Müller: Wir dürfen, Herr Bastian, die Türkei zum Schluss nicht vergessen. Hat sich dort in irgendeiner Form etwas Konstruktives getan, Zusammenarbeit zwischen Athen und Ankara?
    Bastian: Bisher nicht ausreichend. Die Sicherung der Seegrenze zwischen der Türkei und Griechenland, das geschieht noch nicht in einem Maße, wie es angesichts der Problemlage notwendig wäre. Da wirken natürlich die historischen Auseinandersetzungen zwischen beiden Ländern nach. Was allerdings jetzt durch einen NATO-Verband in der Ägäis stattfindet, das ist absolut notwendig, aber die NATO kann auch die griechische Marine und die türkische Marine nicht ersetzen. Am Ende des Tages müssen gemeinsame See-Patrouillen stattfinden zwischen Griechenland und der Türkei.
    Müller: Heute Mittag bei uns im Deutschlandfunk der Wirtschaftswissenschaftler und Unternehmensberater Jens Bastian. Danke für das Gespräch und auf Wiederhören nach Athen.
    Bastian: Ich bedanke mich bei Ihnen, Herr Müller.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.