Zigtausende Menschen überqueren alltäglich die Brücke Simon Bolivar. Sie führt über den Grenzfluss Táchira und verbindet das venezolanische San Antonio mit dem kolumbianischen Cúcuta. Vor zweieinhalb Jahren ist die Brücke von Venezuela für den Autoverkehr gesperrt worden. Seither dürfen nur noch Fußgänger passieren.
Kontrolliert wird nur noch sporadisch: Zu groß ist der schier nicht abebben wollende Strom an Menschen: Männer, teils schwer bepackt, Frauen, in der einen Hand einen Trolley und auf dem anderen Arm ein Baby, Kinder.
"In Venezuela erleben wir eine ganz schlimme Krise. Das Essen ist teuer, der Lohn und die Boni des Staates reichen nicht. Vor einem Jahr ist mein Haus abgebrannt und bis heute warte ich auf Hilfe vom Staat."
Mutter, Kinder und Schwiegersohn im Geleit hat sich Quena Zambrano auf die Suche nach einem besseren Leben gemacht. Auch Rafael Sánchez hat wegen der Krise die fast 1.000 Kilometer von Caracas bis nach Cúcuta zurückgelegt.
Ein Unterschied wie Tag und Nacht
Gleich hinter der Brücke erwartet die Weitgereisten geschäftiges Treiben: Hier gibt es alles, was min Venezuela fehlt: Maismehl, Öl, Bohnen, Autozubehör, Medikamente… aber auch SIM Karten und Bustickets zur Weiterreise. Über einen Lautsprecher werden die Venezolaner, die bleiben wollen, aufgefordert sich zu registrieren.
"Es kommen zwischen 45.000 und 50.000 Menschen täglich: Unsere venezolanischen Brüder, aber auch viele Kolumbianer überqueren die drei für den Grenzverkehr geöffneten Brücken: Simon Bolivar verzeichneten den größten Einwandererfluss, über die Brücke General Santander kommen circa. 12.000 täglich und der Rest kommt über die Brücke Union in Puerto Santander."
Nur zwischen drei- und viertausend pro Tag kehren nicht zurück, wollen bleiben, berichtet Oberst Javier Barrera. Mit 3.500 Polizisten ist er für die Sicherheit der Grenzstadt Cúcuta und der zugehörigen 143 Kilometer Grenze verantwortlich. Je gravierender die Krise in Venezuela, desto mehr Arbeit für ihn. Vor allem der Benzinschmuggel blüht: Kanister weise wird das in Venezuela quasi verschenkte Benzin über die Grenze gebracht und teuer verkauft. Im Gegenzug nehmen die Menschen Lebensmittel und Medikamente mit zurück.
Viele nehmen die zwei Stunden Wartezeit zum Grenzübertritt aber auch in Kauf, um gratis an eine warme Mahlzeit kommen. Etwa einen Kilometer von der Brücke Simon Bolivar entfernt, verteilt Pater José David im riesigen Hinterhof eines Hauses in la Parada Essen an Hungrige. Der Durchschnittsvenezolaner hat im letzten Jahr mehr als neun Kilo abgenommen:
Diese Frau kommt jeden Tag aus der Grenzstadt San Antonio, weil es in Venezuela kaum mehr etwas zu kaufen gibt oder nur zu sehr hohen Preisen.
"Wir verpflegen etwa 2.000 bis 2.100 Venezolaner jeden Tag. Jetzt ist es 10.20 Uhr morgens in Kolumbien, aber in Venezuela ist es schon 11.20 Uhr. Wir servieren früh damit die Menschen es zurück schaffen. Viele haben einen Drei-Vier-Stunden-Weg hinter sich. Hier passen 750 Personen auf einmal rein – deshalb servieren wir in drei Etappen",
erläutert Pater José David, dankbar für internationale Hilfe auch von Organisationen wie Adveniat und Caritas. Seit einem Jahr verteilt er mit freiwilligen Helfern Essen. Vor der roten Steinmauer hat sich eine lange Schlange gebildet. Ein paar Schritte weiter waschen sich Flüchtlinge im Straßengraben. Neben ihnen stehen Koffer: Sie sind auf der Suche nach einer neuen Heimat.
200.000 Flüchtlinge pro Monat
Seit Anfang April werden die Flüchtlinge registriert: Mehr als 200.000 sind pro Monat gekommen, um zu bleiben. Die Hälfte von ihnen ist über Cúcuta eingereist, das zum Departamento Norte de Santander gehört. Dessen Gouverneur ist William Villamizar:
"Seit dem 15. September 2015, als die Grenze für Auto gesperrt wurde, sind mehr als 20 Millionen Venezolaner eingereist. 17 Millionen sind zurückgekehrt. Das bedeutet drei Millionen sind geblieben, bzw. Richtung Peru, Ecuador, Brasilien und andere Länder weitergereist auf der Suche nach einem neuen Leben. Das heißt, im Endeffekt könnten sich zwischen drei und vier Millionen Venezolaner in Kolumbien aufhalten."
Etwa die Hälfte davon sind Venezolaner mit kolumbianischen Wurzeln. In den Boom Jahren des letzten Jahrhunderts führte der Weg in die umgekehrte Richtung: Millionen Kolumbianer gingen als Gastarbeiter nach Venezuela, weil es dort gut bezahlte Jobs gab – und keinen Bürgerkrieg. Integrationsprobleme gab es damals nicht und gibt es heute nicht: Man spricht die gleiche Sprache, hat ähnliche kulturelle Umgangsformen. Der Zufluss von Millionen sorgt freilich für sozialen Sprengstoff. Gouverneur Villamizar:
"Natürlich arbeiten die Neuankömmlinge für weniger Geld. Unsere Arbeitslosenquote liegt mit 16 Prozent doppelt so hoch wie im nationalen Durchschnitt. 71 Prozent der Leute arbeiten informell, also schwarz. Die Krankenhäuser brechen unter Last zusammen."
Die gewähren Venezolanern nur Notversorgung, wenn sie die Behandlung nicht bezahlen können. Cúcutas Bevölkerung ist durch den Zustrom der Venezolaner um ein Drittel auf 1,2 Millionen gestiegen. Diebstähle, Morde und Prostitution haben enorm zugenommen. Viele der Zuwanderer haben weder Zugang zu Gesundheit und Bildung noch zu Arbeitsplätzen.
Noch nehmen die meisten Kolumbianer ihre venezolanischen Brüder mit offenen Armen auf: Wie lange noch? Mit 200.000 Neuankömmlingen pro Monat droht das Land von der Flüchtlingswelle überrollt zu werden. Ohne zusätzliche internationale Hilfe wird Kolumbien diesen Ansturm und den wackligen Friedensprozess wohl kaum bewältigen können.