Jochen Spengler: Am Telefon begrüße ich nun Alexander Graf Lambsdorff, für die FDP Mitglied im Europaparlament. Guten Abend.
Alexander Graf Lambsdorff: Guten Abend, Herr Spengler.
Spengler: Graf Lambsdorff, Erfolg oder Misserfolg der Innenminister?
Graf Lambsdorff: Das ist ein Misserfolg und da kann auch die ganze, ich sage mal, orwellsche Sprache nicht drüber hinwegtäuschen. Die Verkündigung einer sogenannten Grundsatzeinigung ohne jedes konkrete Ergebnis und die Verschiebung möglicher konkreter Ergebnisse auf den 8. Oktober, das ist angesichts der Situation an den Grenzen in Europa, an der deutsch-österreichischen, der österreichisch-ungarischen und der ungarisch-serbischen Grenze selbstverständlich ein Misserfolg. Es ist hier nicht gelungen, auf eine Linie zu kommen, und das zu einem Zeitpunkt, zu dem es zählt.
Spengler: Also Europa hat nicht so viel Zeit?
Graf Lambsdorff: Das Europa der Mitgliedsstaaten meint, es habe nicht so viel Zeit. Das Europa der Institutionen, Kommission, Jean-Claude Juncker und Europäisches Parlament, wir sind ganz klar der Meinung, es ist Zeit zu handeln. Aber wir bewegen uns hier auf einem Feld, wo die Mitgliedsstaaten eben noch sehr viel Einfluss haben, und das führt dazu, dass die Dinge sich verzögern.
Spengler: Man hätte in diesem Ministerrat ja nun abstimmen können mit qualifizierter Mehrheit. Was soll das Instrument der Mehrheitsbeschlüsse, wenn man es nicht anwendet?
Graf Lambsdorff: Das ist eine gute Frage. In Europa wirken ja zwei Systeme, wenn man so will: Ein demokratisches System, eine demokratische Logik, wo Mehrheit und Minderheit wechseln, und wenn man mal verliert, ist das kein Gesichtsverlust, und eine diplomatische Logik. Das ist, wenn Regierungen zusammentreffen. Keine Regierung will gerne einer anderen eine Abstimmungsniederlage beibringen. Das ist in der Diplomatie nun einmal so. Nur das Problem ist: Mit diplomatischer Logik ist der dramatischen Lage an den Grenzen nicht mehr Herr zu werden. Ich glaube, es wäre richtig gewesen, man hätte hier eine Abstimmung veranstaltet und dann gesehen, wer stimmt wie ab, und dann hätte man eine Forderung aufnehmen können, nämlich einen freiwilligen Verteilungsschlüssel jetzt schon ins Werk zu setzen. Ich glaube, das wäre der richtige Schritt gewesen.
Spengler: Könnte es denn sein, Graf Lambsdorff, dass für die verbindliche Quote, die der Kommissionspräsident Juncker will und die ja auch die Deutschen wollen, dass es dafür einfach keine Mehrheit gegeben hätte?
Graf Lambsdorff: Herr Spengler, das ist überhaupt nicht auszuschließen, dass es keine Mehrheit dafür gegeben hätte. Wenn beispielsweise Polen und Großbritannien dagegen stimmen, hat man ja zwei der sechs großen Mitgliedsstaaten, die sich schon dagegenstellen, es gibt eine Reihe kleiner. Aber das ist genau der Punkt, den wir auch von den Freien Demokraten seit einigen Tagen immer und immer wieder wiederholen.
Entscheidend ist heute nicht, dass wir zu einem rechtsverbindlichen Verteilungsschlüssel kommen, der sowieso nicht das Allheilmittel ist. Entscheidend ist, dass wir zu einem politisch relevanten und praktischen nützlichen System kommen, wo die Staaten, die bereit sind, das zu tun, sich freiwillig schon einmal in einer Art Avantgarde zusammenschließen und arbeiten. Wir machen das in Europa ja auf anderen Feldern auch, denken wir an den Schengen-Raum, denken wir mal an den Euro. Nicht jeder Staat in Europa muss immer alles mitmachen. Es müssen diejenigen vorangehen, die willens und in der Lage sind, etwas zu tun.
Spengler: Und jetzt bleibt es bei dem Motto, "Jeder für sich und Gott für uns alle". Was heißt das für Schengen? Wie lange bleibt es bei den Grenzkontrollen?
Graf Lambsdorff: Die Grenzkontrollen sind - und das ist wichtig zu wissen - zulässig. Das ist hier nichts Europarechtswidriges, was hier passiert.
Spengler: Das ist klar.
"Flüchtlingsursachen müssen erfolgreich bekämpft werden"
Graf Lambsdorff: Ja für die Hörerinnen und Hörer, glaube ich, aber ganz wichtig, dass das nicht das Ende von Schengen ist. Die Grenzkontrollen sind so lange zulässig, wie eine Ausnahmesituation besteht. Die Flüchtlingssituation: Im Moment sieht sie nicht danach aus, als ob das sich schnell erledigen würde. Insofern kann man schwer sagen, wie lange das dauern wird. Ich glaube, ein entscheidender Punkt wird sein: wird es uns gelingen, die Fluchtursachen in Syrien, im Nordirak erfolgreich zu bekämpfen? Wird es gelingen, den Islamischen Staat zurückzudrängen und zu besiegen? Ich glaube, nur dann gibt es eine Perspektive für die Menschen, irgendwann auch in ihre Heimat zurückzukehren oder gar sofort dort zu bleiben. Das wäre in meinen Augen der wirkliche Schlüssel zum Erfolg.
Spengler: Aber wenn nun die Grenzkontrollen vielleicht tagelang, wochenlang oder monatelang bleiben, könnte daran die EU auseinanderbrechen, wie es die luxemburgische Ratspräsidentschaft befürchtet?
Graf Lambsdorff: Das wäre dann der Fall, wenn einzelne Staaten völlig unabgestimmt und europarechtswidrig vorgehen würden. Deutschland hat seine Grenzschließung unabgestimmt gemacht, so wie es aussieht. Die Österreicher sind zwar informiert worden, aber man hat sich nicht vorher zusammengesetzt und mit ihnen beraten, wie man der Lage Herr wird, wie es sich eigentlich gehört. Wenn so was sich häuft wie das, was Thomas de Maizière hier macht, dann wird das eine Gefahr für Europa. Wenn man aber im Rechtsrahmen bleibt und das Ganze miteinander bespricht, dann ist es zumindest für die europäische Rechtskonstruktion keine Gefahr. Am Ende des Tages wird es aber darauf ankommen, dass man der praktischen Probleme Herr wird und dass man eine Lösung für diese Flüchtlingskrise findet.
Spengler: Nun muss man aber natürlich dazu sagen, dass die Union sich schon seit Jahren nicht mehr an die eigenen Regeln hält, wenn Sie jetzt den Rechtsrahmen erwähnen. Ob nun Euro oder Asyl, ob Dublin oder Schengen. Welche Zukunft hat eine Union, die nicht an die eigenen Regeln glaubt?
Graf Lambsdorff: Die Europäische Union funktioniert nach dem Prinzip des Ausgleichs. Es gibt einige Staaten, die achten sehr stark darauf, dass Regeln wirklich auch angewendet werden, Deutschland, Finnland, die Niederlande, andere Länder. Im Süden Europas ist das etwas anders. Dort geht man eher vom politischen Impuls aus und sagt, ich bin demokratisch gewählt, solche Regeln können mich nicht derartig einengen. Das auszugleichen miteinander, hat man bei der Eurofrage gesehen, das ist wichtig.
Ich glaube, entscheidend ist aber was anderes hier an dieser Stelle. Athen und Rom haben seit vielen Jahren gesagt, dass das Dublin-System - das heißt, jeder Flüchtling muss dort behandelt und registriert werden, wo er ankommt -, dass das im Falle einer echten Krise nicht halten würde, dass das nicht praxistauglich ist, und da hat sich die Bundesrepublik Deutschland insbesondere auf Wunsch der CDU/CSU, die eben bestreitet, dass Deutschland ein Einwanderungsland ist, immer abgewendet und hat gesagt, nein, Dublin wird schon funktionieren. Wir sehen, dass diese Realitätsverweigerung in den letzten Jahren mit dazu beigetragen hat, dass wir jetzt eine so dramatische Lage haben. Es ist deswegen höchste Zeit, zu einem Schlüssel zu kommen und nicht, wie heute, erneut zu verschieben.
"Ich glaube an Europa"
Spengler: Glauben Sie denn noch an Europa?
Graf Lambsdorff: Ich glaube an Europa. Es ist dieser Kontinent, auf dem wir alle miteinander leben müssen. Ich bin Historiker. Der Blick zurück in die Geschichte zeigt mir, dass es schwerere Krisen gegeben hat, dass es größere Herausforderungen gegeben hat. Wir sind ihrer Herr geworden. Aber wenn wir weiter zurückblicken, dann gehen wir ins alte, ins schlechte Europa zurück, wo solche Konflikte eben nicht am Konferenztisch, sondern im Schützengraben ausgetragen werden, und dahin will wirklich niemand mehr zurück.
Spengler: Soweit Alexander Graf Lambsdorff. Das Gespräch mit dem FDP-Europaparlamentarier haben wir am Abend aufgezeichnet.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.