Derzeit seien die Anerkennungsraten für Asylbewerber in den Mitgliedstaaten sehr unterschiedlich, so Luxemburgs Außenminister, Jean Asselborn. Das gleiche gelte für die Fristen zur Bearbeitung der Anträge. In Großbritannien beispielsweise müsse das Verfahren innerhalb von zwei Monaten abgeschlossen sein, betonte Asselborn. Deshalb drängten dorthin viele Flüchtlinge in der Hoffnung, danach eine Arbeit aufnehmen zu können. "In den Köpfen der Menschen sind Deutschland und Großbritannien. Sie möchten nicht in Griechenland, Italien und in den südlichen Ländern der EU bleiben."
Asselborn appelierte auch an die Verantwortung der afrikanischen Staaten für das Schicksal der Menschen. Da vor allem junge Leute ihre Heimat verließen, stehe die Zukunft Afrikas auf dem Spiel. "Die besten Kräfte gehen diesen Ländern verloren."
Das Interview in voller Länge:
Jürgen Zurheide: Wir wollen uns mit der Flüchtlingspolitik in Europa beschäftigen. Gerade wenn ich dieses Stichwort nenne und das mit Europa verknüpfe, dann könnte der ein oder andere zu Recht sagen, am Beispiel der Flüchtlingspolitik zeigen sich Konstruktionsfehler der Europäischen Union. Auf der einen Seite ist da die Kommission, möglicherweise ein zahnloser Tiger, auf der anderen Seite sind da die nationalen Regierungen, die im Wesentlichen das Handeln bestimmen, und wir sind eben in Europa kein Staatenbund – maximal ein Staatenbund und eben kein Bundesstaat –, und das Ganze führt dann zu Friktionen, und das ist jetzt harmlos ausgedrückt. Was das im Konkreten bedeutete, sieht man zum Beispiel im Mittelmeer, wenn Menschen sterben. Über all das wollen wir reden, und ich begrüße dazu Jean Asselborn, den Außenminister Luxemburgs. Guten Morgen, Herr Asselborn!
Jean Asselborn: Guten Morgen, Herr Zurheide!
Zurheide: Herr Asselborn, beginnen wir vielleicht mal mit Griechenland in dem Fall, die Griechen haben allein im Juli 50.000 Flüchtlinge aufgenommen - das ist eine Zahl, wenn man sie vor allen Dingen ins Verhältnis zum Land setzt, weiß man, unabhängig von der Frage, dass die Griechen eine Menge anderer eigene Probleme haben, dass sie da völlig überfordert sind. Was kann, was müsste man da tun?
Asselborn: Sie fangen mit Griechenland an, es ist ganz klar, dass die Lage in Griechenland - wir kennen sie alle -, dass man Verständnis haben muss, dass Griechenland vielleicht nicht die Kraft hat, um das so zu bewältigen, wie andere Länder es tun können mit der Flüchtlingsfrage. Die Kommission hat schnell reagiert, man muss manchmal auch Europa loben. Sie wissen, dass zum Beispiel in Griechenland jetzt strukturelle Mittel, was normalerweise nicht geht, aber angewandt werden können, um Infrastrukturen zu schaffen, um Menschen aufnehmen zu können. Das ist für Griechenland eine Ausnahme, die ist geschaffen worden, und dass das freiwillig geschieht, hat mit Innenpolitik zu tun in Griechenland. Es ist nicht akzeptabel und auch nicht normal, dass die lokalen Autoritäten und die staatlichen Autoritäten gegeneinander arbeiten, und ich kann nur sagen, ohne mich zu viel einzumischen, dass Syriza hier nicht der Hauptschuldige ist. Also wir müssen auch weiterhin Griechenland, sagen wir mal, ermutigen, dass wirklich diese Mittel, die Europa zur Verfügung stellt, dass die auch angewandt werden.
Syriza ist nicht der Hauptschuldige
Zurheide: Es ist so im Moment, es ist ein dreistelliger Millionenbetrag, wenn ich es jetzt richtig im Kopf habe, der für Griechenland bereit steht, aber der nicht abfließen kann, und das, sagen Sie, hat innenpolitische Gründe in Griechenland.
Asselborn: Ja, ganz klar. Das heißt auf Deutsch, dass Syriza, die ja die Verantwortung hat auf Landesebene, dass die zurzeit auch blockiert werden von den lokalen Autoritäten, die nicht unbedingt dieser Partei angehören, und das ist eine, glaube ich, unverantwortliche Situation, die schnellstens behoben werden muss.
Zurheide: Wobei, wir sehen nicht nur in Griechenland wird eben Innenpolitik häufig auf dem Rücken von anderen gemacht, das ist leider ein Mechanismus, den wir überall beobachten. Wie sehr ärgert Sie so was?
Asselborn: Ja, wenn man von Flüchtlingen redet, dann redet man ja nicht von Waren, nicht von Kapital, sondern von Menschen. Und dass die Europäische Union, die ja viel kritisiert wird, manchmal zu Recht, wissen Sie, auch was die Rettung von Menschen angeht … Noch nie hat die Europäische Union so viele Schiffe, so viele Flugzeuge zur Verfügung gestellt. Dann kann man wieder antworten, ja, das ist nicht die Europäische Union, die Kommission hat keine Flugzeuge und auch keine Schiffe, aber es sind sehr, sehr viele Länder, die helfen nach dem Prinzip der Rotation. Frontex koordiniert das Ganze, Triton, Poseidon, die Effektivität dieses Mechanismus jetzt ist größer als bei Mare Nostrum. Das Geld ist vorhanden, ich sag es noch einmal, aber die Kommission hat einen Appell gerichtet an die Länder, mehr Schiffe, mehr Flugzeuge noch zur Verfügung zu stellen, und dieser Appell nach der letzten Katastrophe muss in die Wirklichkeit umgesetzt werden.
Mafiöse Unternehmungen müssen in Libyen unterbunden werden
Zurheide: Das heißt, Sie sagen, ja, was da auf dem Wasser passiert, nach den Katastrophen, die wir gehabt haben, reicht noch nicht ganz aus, aber wir sind auf dem richtigen Wege?
Asselborn: Ich glaube, was die Rettung angeht, ja. Also das Mittelmeer ist keine Badewanne, das wissen Sie, und es sind, glaube ich, 15 Länder, die sehr, sehr viele Anstrengungen machen, um zu helfen. Natürlich, wir müssen der Realität sehr in die Augen schauen. Der Kampf gegen die Schmuggler - es gibt Schmuggler, die sicherlich gute Absichten haben, aber dieses rücksichtslose Beladen von Schiffen von diesen mafiösen Unternehmungen, das muss in Libyen natürlich versucht werden zu unterbinden, vor allem auch Reeder, die für sehr hohe Preise an diese Mafia Schiffe verkaufen, muss unterbunden werden. Und darum muss zwischen Europol und Interpol eine bessere Koordination noch stattfinden. Und wenn ich sage Libyen, das ist ja eines der Schlüsselprobleme. Sie wissen, dass die UNO, Bernadino Léon, sehr viele Anstrengungen macht, seit Monaten, um, sagen wir mal diplomatisch, alle, die irgendwelchen Einfluss haben in Libyen - das sind ja nicht nur alles gute Menschen -, dass das zusammen trotzdem koordiniert werden kann, dass man es fertig bringt, dass in Libyen diese kriminellen Taten vor Ort, dass die unterbunden werden und dass vielleicht dann auch für Ende August, Anfang September auch die UNO eine Resolution hinbekommt. Das hängt natürlich davon ab, ob alle Kräfte in Libyen es für notwendig finden, dass man diesen Menschenhandel und diese Katastrophen, diese menschlichen Katastrophen vor Ort jedenfalls schon, sie unter Kontrolle bringen kann.
Zurheide: Wir haben gestern hier in diesem Programm mit dem Kollegen, mit dem Cap-Anamur-Gründer Rupert Neudeck gesprochen, der hat vor allen Dingen darauf hingewiesen, dass auch in den Ländern, aus denen die Menschen fliehen, dass die jeweiligen Machthaber eigentlich viel, viel mehr tun müssten, um die Menschen in ihrem eigenen Lande zu halten, denn was da verloren geht, sind ja überwiegend junge Menschen, die auch die Zukunft sind. Ist der Appell richtig?
Größere politische Sensibilisierung in den Ländern Afrikas erreichen
Asselborn: Ja, ganz klar. Ich würde es ein wenig ausbreiten, wenn Sie wollen.
Zurheide: Gerne.
Asselborn: Wir müssen natürlich auch über legale Wege reden in der Europäischen Union. Wissen Sie, wenn Apple oder Amazon Rechtsanwälte brauchen, um Bürger aus den USA, die hier arbeiten sollen, hier anzumelden in Europa, dann ist die Komplexität sicher nicht noch zu unterzeichnen. Wie soll ein Mensch aus Afrika eine Chance haben, auf legalem Wege nach Europa zu kommen, das ist das Erste. Das Zweite ist …
Zurheide: Das heißt, um da einzuhaken, wenn ich das darf, wir brauchen so eine Art Einwanderungsgesetz, was aber dann auch nicht nur für einzelne Länder, sondern auch für Europa möglicherweise gilt?
Asselborn: Ganz klar, für Europa. Das Zweite ist die Entwicklungshilfe. Wir sind auf dem guten Weg, aber alles, was mit Post-2015 in New York im September zu tun hat, muss helfen, dass vor Ort selbstverständlich die Entwicklungshilfe verstärkt werden kann und nicht, was sich ja aufzeichnet oder anzeigt, dass das in die verkehrte Richtung geht. Dann, was der Professor richtig sagt, glaube ich jedenfalls, das ist, die Flüchtlingsproblematik ist ein globales Problem. Wenn in Australien, was ein typisches Immigrationsland ist, wenn die Türen geschlossen werden mit Methoden, die sehr, sehr zweifelhaft sind für eine Demokratie, wenn das geschieht, hat das Auswirkungen auch selbstverständlich auf Europa. Und Afrika, es ist klar und Sie haben es gesagt, die wichtigsten oder die besten Kräfte gehen verloren, und darum setzen wir auch als Europäische Union viel auf die Malta-Konferenz, die im November dort stattfindet, dass man hier es fertig bringt, auch eine größere Sensibilisierung, politische Sensibilisierung mit den afrikanischen Ländern, die betroffen sind vor allem, zu tätigen. Natürlich, in Syrien ist Krieg, Sie wissen, was im Jemen los ist, das ist alles sehr, sehr kompliziert, um das zu stoppen, aber es gibt Länder, die auch kooperativ sind. Ich glaube, dass zum Beispiel Niger ein vorbildliches Land ist, mit dem wir es fertigbringen können, auch, sagen wir mal, die Ströme der Wirtschaftsflüchtlinge, dass die auch unterbunden werden können mithilfe auch selbstverständlich Europas.
"Wir müssen die Regeln in der Europäischen Union harmonisieren"
Zurheide: Ich halte fest: Wir brauchen ein Einwanderungsgesetz, das möglicherweise eine europäische Dimension hat, und dann sind wir ganz schnell bei der Frage: Wie verteilen wir dann diejenigen, die zu uns kommen und möglicherweise auch hier Chancen haben und haben sollen und können, wie verteilen wir die in Europa? Und dann sind wir bei dem anderen sehr kritischen Punkt: Wir haben Bilder, wie wir sie im Moment zwischen Frankreich und England am Kanaltunnel sehen – das hat ja alles damit zu tun, dass diese Verteilung in Europa nicht funktioniert. Die These ist erst mal richtig?
Asselborn: Ja. Bevor wir aber zur Verteilung kommen, man muss sich ja die Frage stellen: Die Menschen werden ja jetzt - und das ist ein Punkt, auf den die Europäische Union und auch die Länder sehr pochen, dass Hotspots eingerichtet werden, das heißt, dass die Menschen, die gerettet werden, und es werden jetzt sehr, sehr viele gerettet, was ja auch das Allerallerwichtigste ist, dass die auch registriert werden. Das Problem ist, dass viele dieser Menschen, die gerettet werden, dass die nicht in eine normale Prozedur wollen, die wollen nicht - ich sage es jetzt mal so, wie es, glaube ich, ist - in Griechenland sein oder in Italien sein, sondern die Zielländer in den Köpfen dieser Menschen sind Deutschland, wegen der Wirtschaftslage, und natürlich Großbritannien. In Großbritannien muss die Prozedur in zwei Monaten abgeschlossen sein. Großbritannien ist ein typisches klassisches Einwanderungsland, darum dieser Drang, nach Großbritannien zu kommen, in der Hoffnung, dass nach zwei Monaten man einen positiven Bescheid hat und dann auch Arbeit findet. Das ist ja das Problem, was wir, wenn wir in Europa jetzt über eine Flüchtlingspolitik reden, dass wir die Regeln in der Europäischen Union harmonisieren müssen. Die Anerkennungsraten sind sehr, sehr unterschiedlich, und zweitens, auch der Zeitraum für Prozeduren ist sehr unterschiedlich. Und ich hoffe, dass es sehr bald zur Ruhe kommt im Mittelmeer, dass keine neue Katastrophe sich anzeigt im Osten. Und das muss ja auch, wenn ich das einflechten kann, vielleicht auch, was die Solidarität angeht. die Ströme der Flüchtlinge, die ändern sehr schnell. Heute ist es der Süden, morgen kann es der Osten sein. Darum sind alle Länder der Europäischen Union gut beraten, dass wir in der Solidarität an einem Strang ziehen. Ich bin der Überzeugung, weil wir auch aus Luxemburg ja die Präsidentschaft haben und ich diesen Rat zu präsidieren habe über die Immigration, dass wir nach den Wahlen in Polen und in Spanien - das ist halt so in einer Demokratie -, dass wir spätestens im Dezember auch alle diese 60.000 Menschen, die wir verteilen sollen, dass wir das auch schaffen.
Zurheide: Es müssen Regeln harmonisiert werden, wir brauchen ein europäisches Einwanderungsgesetz – das war ein Plädoyer von Jean Asselborn, dem Luxemburger Außenminister, der vieles bewegen kann. Herr Asselborn, wir wünschen Ihnen viel Glück dabei, das ist keine kleine Aufgabe. Danke schön für das Gespräch heute Morgen!
Asselborn: Danke, Herr Zurheide!
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