Gerd Breker: Es ist nur eine Prognose. Es wird angenommen, dass in diesem Jahr 800.000 Menschen in Deutschland Asyl suchen werden. Es können weniger, aber es könnten auch mehr werden. Die Herausforderung auf jeden Fall, die ist riesig, und die Frage stellt sich, ob man im Lichte dieser Herausforderung nicht besondere Maßnahmen ergreifen muss, ob die bestehende Praxis nicht zwangsläufig zur Überforderung führt, denn am Ende sind es ja die Kommunen, die mit den Flüchtlingen umgehen müssen, und das wird bald mehr sein als nur Unterbringung und Versorgung.
Am Telefon sind wir nun verbunden mit dem Innenminister des Landes Niedersachsen, mit Boris Pistorius von der SPD. Guten Tag, Herr Pistorius.
Boris Pistorius: Schönen guten Tag, Herr Breker.
Breker: 800.000 - das ist zwar nur eine Prognose, aber in dieser Größenordnung muss man mit Asylsuchenden rechnen. Wie viele, Herr Pistorius, werden davon nach Niedersachsen kommen? Wissen Sie das schon?
Pistorius: Ja. Nach dem Königsteiner Schlüssel* müssen wir uns auf 75.000 einstellen. Das ist in etwa die Größenordnung. Beachtlich ist dabei, dass wir ja noch vor wenigen Monaten von Zahlen von 400.000 Erstantragsstellern in Deutschland ausgegangen waren. Diese Prognose hat sich jetzt mal eben verdoppelt.
Breker: Wie kann man diesen Zustrom bewältigen? Ist es sinnvoll, die Verfahren zu beschleunigen?
Pistorius: Die Verfahrensbeschleunigung ist ein Instrument. Aber unter Beschleunigung sollten wir zunächst einmal verstehen, dass sie überhaupt in der ordnungsgemäß vorgesehenen Zeit erledigt werden. Das ist ja in den letzten Jahren nie der Fall gewesen, wodurch sich ja auch der gewaltige Berg von unbearbeiteten Asylanträgen ergeben hat. Da liegt ein großer Teil unseres Hauptproblems. Aber natürlich müssen wir auch überlegen, ob wir denjenigen, bei denen wir wissen, sie haben keine Chance auf politisches Asyl, obwohl sie gute Gründe haben, ihre Heimat zu verlassen, dass wir in den Fällen dann auch wirklich zu schnelleren Verfahren kommen, auch um zu signalisieren in die Herkunftsstaaten, macht euch nicht auf den Weg, ihr werdet, wenn ihr hier arbeiten wollt, nicht über den Weg des Asyls zu diesem Ergebnis kommen. Das ist eine wichtige Botschaft, die wir senden müssen, die aber nur funktioniert, wenn die Verfahren auch schnell genug laufen.
Sichere Herkunftsländer allein sind nicht die Lösung
Breker: Sie könnten sich durchaus vorstellen, Herr Pistorius, dass Albanien, Kosovo und Montenegro als sichere Herkunftsstaaten anerkannt werden?
Pistorius: Sagen wir es mal so: Ich bin jetzt nicht ein unbedingter Freund und ein Fan von Etiketten auf irgendwelchen Gegenständen. Ob die Staaten zu sicheren Herkunftsstaaten erklärt werden oder nicht, das kann man machen. Ich verstehe den Hype um diese Diskussion, ehrlich gesagt, nicht, weder von den Befürwortern, noch von den Gegnern. Es ist weder Teufelswerk, sondern es ist im Grunde genommen ehrlich; es ist aber auf der anderen Seite auch kein Allheilmittel, wie es manche Befürworter uns glauben machen wollen. Damit alleine wird man das Problem nicht in den Griff kriegen. Es kann bestenfalls überhaupt nur ein Baustein sein.
Ungleichheit in EU-Ländern ist ein Problem
Breker: Würde es denn umgekehrt helfen, wenn man den syrischen Flüchtlingen zum Beispiel eine generelle Aufnahmezusage geben würde?
Pistorius: Das erfolgt ja faktisch schon. Die Asylverfahren für Syrer dauern ja wirklich nicht mehr lange und erfolgen oft nur noch im schriftlichen Verfahren. Ich glaube nicht, dass man da noch, wie soll ich sagen, unbeschränkte Einsparpotenziale, was die Zeit angeht, herausarbeiten kann. Optimieren kann man sicher immer noch, aber unsere Baustelle sind die Verfahren insgesamt und die Verteilung auf die Kommunen dann.
Aber wir kommen um einen Punkt nicht herum, Herr Breker. Wenn Deutschland 44 Prozent, knapp 44 Prozent der Flüchtlinge, die nach Europa kommen, aufnimmt und nur zehn von 28 europäischen Mitgliedsstaaten sich überhaupt an der Aufnahme von Flüchtlingen beteiligen, und wenn, dann in einer wirklich homöopathischen Dosis, dann muss man doch mal sehr deutlich sagen: Europa wird von einigen Mitgliedsstaaten offenbar betrachtet als eine Art Kuchentheke, aus der man sich herausnimmt, was einem gefällt, aber sich nicht beteiligt an dem, was übrig bleibt. So funktioniert Europa nicht und das ist dann am Ende auch eine Kritik an der Europäischen Kommission. Es kann doch nicht sein, dass die Europäische Kommission jederzeit bereit ist, Vertragsverletzungsverfahren anzustrengen und Sanktionen anzudrohen, wenn Kommunen nicht genug Kläranlagen errichten oder Umweltzonen einrichten, aber bei dieser Frage ist sie untätig. Anstatt die Mitgliedsstaaten der Europäischen Union anzuhalten, ihren Pflichten nachzukommen, auf der Grundlage des gemeinsamen europäischen Asylsystems. Das kann doch nun wirklich nicht die Konsequenz sein. Wir reden über Menschen und über Systeme, die völlig ins Ungleichgewicht geraten, weil sich nur wenige daran beteiligen.
Aber wir kommen um einen Punkt nicht herum, Herr Breker. Wenn Deutschland 44 Prozent, knapp 44 Prozent der Flüchtlinge, die nach Europa kommen, aufnimmt und nur zehn von 28 europäischen Mitgliedsstaaten sich überhaupt an der Aufnahme von Flüchtlingen beteiligen, und wenn, dann in einer wirklich homöopathischen Dosis, dann muss man doch mal sehr deutlich sagen: Europa wird von einigen Mitgliedsstaaten offenbar betrachtet als eine Art Kuchentheke, aus der man sich herausnimmt, was einem gefällt, aber sich nicht beteiligt an dem, was übrig bleibt. So funktioniert Europa nicht und das ist dann am Ende auch eine Kritik an der Europäischen Kommission. Es kann doch nicht sein, dass die Europäische Kommission jederzeit bereit ist, Vertragsverletzungsverfahren anzustrengen und Sanktionen anzudrohen, wenn Kommunen nicht genug Kläranlagen errichten oder Umweltzonen einrichten, aber bei dieser Frage ist sie untätig. Anstatt die Mitgliedsstaaten der Europäischen Union anzuhalten, ihren Pflichten nachzukommen, auf der Grundlage des gemeinsamen europäischen Asylsystems. Das kann doch nun wirklich nicht die Konsequenz sein. Wir reden über Menschen und über Systeme, die völlig ins Ungleichgewicht geraten, weil sich nur wenige daran beteiligen.
Breker: Bis dahin ist das aber, Herr Pistorius, ein nationales Problem und wir haben akut dieses Problem jetzt. Für den 24. September ist eine Bund-Länder-Konferenz zum Thema Flüchtlinge anberaumt. Ist das nicht zu spät?
Pistorius: Ich hätte mir auch gewünscht, dass es früher stattfindet. Aber entscheidend ist, was an Vorarbeiten bis dahin geleistet wird und was dann wirklich schnell entschieden wird am 24. September. Wir dürfen da nicht auseinandergehen und noch wieder zwei Monate warten, bis irgendwas umgesetzt wird. Die Zeit haben wir nicht: Der Winter steht vor der Tür, wir müssen Unterkünfte bauen und wir brauchen, glaube ich, insgesamt auch mehr Engagement auch von Unternehmen und auch von der Wirtschaft, hier uns dabei zu unterstützen. Wir brauchen schnellere Verfahren beim Bauen von Einrichtungen. Wir werden sonst dieser Aufgabe nicht Herr werden.
Breker: Bundesinnenminister Thomas de Maizière sagt, wir sind gefordert, wir sind aber nicht überfordert. Nur in so manch einer Kommune - und sie waren ja auch Bürgermeister von Osnabrück, Herr Pistorius -, in manch einer Kommune wird das anders gesehen. Da ist man schon überfordert.
Pistorius: Das ist so. In einigen Kommunen ist das so. In anderen ist das nicht so. Trotzdem gebe ich Herrn de Maizière recht: Wir sind gefordert, aber noch nicht überfordert. Was wir tun müssen und womit wir jetzt Gott sei Dank auch beginnen ist, aufzuhören, übereinander zu streiten, miteinander zu streiten, wer was nicht tut oder tut. Das ist jetzt eine nationale Aufgabe, die wir auch so angehen müssen, mit großer Kraft, mit Entschlossenheit, aber vor allem auch Geschlossenheit. Wir müssen jetzt wirklich aufhören mit dem Lamentieren und dem Verhandeln und darüber streiten, wer was wem geben muss. Wir müssen jetzt wirklich in einer gesamtstaatlichen Kraftanstrengung diese Aufgabe angehen. Das sind wir den Menschen in diesem Land und den Flüchtlingen schuldig.
Gesetzesaussetzung beim Thema Unterbringung
Breker: Sie, Herr Pistorius, haben ja vorgeschlagen, dass man das Baurecht entschlackt, damit neue Unterkünfte schneller gebaut werden. Aber es ist ja nicht nur die Unterbringung, die ansteht.
Pistorius: Die Unterbringung ist natürlich das erste Problem, sowohl in den Landesaufnahmeeinrichtungen, da also, wo die Flüchtlinge ankommen, und dann in den Kommunen. Wir haben leider das Problem, dass uns bestimmte rechtliche Vorschriften im Vergaberecht, im Umweltrecht, Stichwort energetische Sanierung und anderes, einfach unglaublich viel Zeit kosten und die Vergaben dann natürlich auch noch mal. Das können wir uns im Augenblick nicht leisten und deswegen ist der Vorschlag nicht, die Gesetze zu entschlacken, sondern sie so zu lassen, wie sie sind, aber für einen befristeten Zeitraum von drei Jahren quasi außer Kraft zu setzen, und zwar nur für diesen Einsatzbereich, also die Schaffung von Unterkünften für Flüchtlinge. Damit wäre schon viel gewonnen. Und wenn es uns parallel gelingt, Flüchtlingen vom Balkan zu signalisieren, nicht nach Deutschland zu kommen und Asylantrag zu stellen, oder und ihre Verfahren schneller zu bearbeiten, dann haben wir zwei Effekte, die zusammentreffen, und dann wird sich mittelfristig auch eine Entspannung ergeben, die wir dringend brauchen.
Breker: Eins, Herr Pistorius, ist ja auch gewiss: Mehr Flüchtlinge, da droht auch mehr Fremdenfeindlichkeit. Die Aufnahme dieser 800.000, die erwartet werden, wird zeigen, inwieweit man das schafft oder nicht schafft, inwieweit es vielleicht sogar so ist, dass mehr Fremdenfeindlichkeit geschaffen wird.
Pistorius: Die Befürchtung kann man haben und wenn man sich die aktuellen Zahlen anguckt, dass mehr als 50 Prozent der fremdenfeindlichen Straftaten in den neuen Bundesländern begangen werden, dann sieht man auch, worauf wir den Fokus lenken müssen. Wir haben in den westdeutschen Bundesländern natürlich auch ernst zu nehmende Anzeichen von Fremdenfeindlichkeit, aber wir haben auch nach wie vor ein enormes ehrenamtliches Engagement in vielen Städten und auch im ländlichen Raum. Das zu bewahren, ist ganz, ganz wichtig, gerade jetzt in dieser Phase, aber dazu gehört dann auch, dass der Staat seine eigene Handlungsfähigkeit zeigt und den Menschen nicht das Gefühl gibt, sie damit allein zu lassen.
Breker: Vielleicht noch kurz zum Schluss, Herr Pistorius. Sie haben gesagt, das ist eine Herausforderung für uns alle, für Gesellschaft und Staat. Wünschen Sie sich ein Machtwort der Kanzlerin?
Pistorius: Was ich mir wünsche ist, dass die Kanzlerin das Thema als eines benennt - sie sieht es mit Sicherheit so -, als eines benennt, was wirklich von zentraler Bedeutung jetzt in dieser Phase ist.
Breker: Im Deutschlandfunk war das der Innenminister des Landes Niedersachsen, Boris Pistorius. Herr Pistorius, danke für dieses Gespräch.
Pistorius: Sehr gerne!
*Der Königsteiner Schlüssel regelt, welchen Anteil ein Bundesland bei bundesweiten, gemeinsamen Finanzierungen zu tragen hat. Zuständig für Erstellung des Schlüssels ist die von Bund und Ländern eingerichtete Gemeinsame Wissenschaftskonferenz (GWK). Dieser Schlüssel wird auch bei derVerteilung von Asylsuchenden auf die Unterkünfte der Länder angewandt.. Die so festgelegte Aufnahmequote ist gesetzlich verpflichtend. Ein Bundesland muss also alle Flüchtlinge aufnehmen, die ihm nach dem "Königsteiner Schlüssel" zugewiesen werden.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.