Martin Zagatta: Nichts mit Weihnachtsstimmung in Brüssel. Am zweiten Tag des EU-Gipfels beschäftigen sich die Staats- und Regierungschefs mit den Brexit-Verhandlungen - mit langen Gesichtern, nehme ich an, weil man sich in dem Streit um die Flüchtlingspolitik, um die Verteilung von Flüchtlingen, wieder einmal nicht einigen konnte.
Mitgehört hat Daniel Caspary, der Vorsitzende der CDU/CSU-Gruppe im Europäischen Parlament. Guten Tag, Herr Caspary!
Daniel Caspary: Grüß Gott, Herr Zagatta.
"Das Thema Migration war eigentlich nur als Randthema geplant"
Zagatta: Herr Caspary, Stichwort Flüchtlingspolitik. Wir haben das gerade gehört. Bestätigen die Regierungschefs in Brüssel da jetzt gerade wieder das Vorurteil, Sonntagsreden zu halten, bei den drängenden Problemen, bei den wirklich drängenden Problemen aber so gut wie nichts auf die Reihe zu bekommen?
Caspary: Na gut. Das Problem ist, das Thema Migration war ja bei diesem Gipfel eigentlich nur als Randthema geplant. Durch den unglücklichen Brief des Ratspräsidenten Tusk ist dieses Thema jetzt wieder Hauptthema. Aber klar ist doch, wir haben hier einen Beschluss. Der ist gerade neulich vom Europäischen Gerichtshof bestätigt worden. Es haben ja Länder wie Ungarn dagegen geklagt. Und wir haben doch in Europa nicht nur eine teilweise Solidarität, dass man sich hier die Rosinen picken kann. Ich wünsche mir, dass dieser Beschluss, der Rechtskraft hat, auch umgesetzt wird, und ich kann die ganze Debatte darum überhaupt nicht nachvollziehen.
"Wir sind in der Europäischen Union solidarisch"
Zagatta: Jetzt steht - Sie sagen das ja auch sehr kritisch, das habe ich ja gehört - der Ratspräsident Tusk in der Kritik. Die so umstrittene Quotenregelung bei der Verteilung von Flüchtlingen - so hat er das gesagt -, die sei ineffektiv und das spalte die Union. Was ist denn daran so schlimm, wenn jemand die Wahrheit sagt?
Caspary: Wissen Sie, es ist doch richtig, dass es immer Themen gibt, wo wir im Rahmen der Solidarität gemeinsam solidarisch sein müssen. Und jetzt gibt es Themen, die gefallen Wählerinnen und Wählern zum Beispiel in manchem zentraleuropäischen Staat nicht. Da geht es um das Thema Flüchtlingsumverteilung. Mein Eindruck ist, dass sich auch bei vielen Menschen in Deutschland die Begeisterung zur Aufnahme von Flüchtlingen sehr in Grenzen hält. Auf jeden Fall hält sich die Begeisterung in Deutschland bei vielen Menschen in Grenzen, wenn es darum geht, finanziell solidarisch zum Beispiel zu Ländern in Zentraleuropa zu sein, wenn es darum geht, dort Kohäsion zu schaffen, also wirtschaftliches Wachstum zu stärken, den Aufholprozess zu stärken, und das ist doch genau das, was nicht sein kann.
Wir sind in der Europäischen Union solidarisch. Das heißt, wir tragen gegenseitig Verantwortung füreinander, und es muss dringend aufhören, dass hier einige anfangen, Rosinenpickerei zu machen. Das ärgert uns im Parlament sehr. Und wenn dann noch der Ratspräsident diesem Denken durch seinen unglücklichen Brief Vorschub leistet, dann hilft uns das ja in der Sache nicht weiter. Europäische Beschlüsse müssen umgesetzt werden. Es gilt halt nun mal bei uns die Macht des Rechts und das ist die Stärke Europas und das darf nicht in Frage gestellt werden.
"Wir brauchen eine faire Lastenverteilung"
Zagatta: Aber wenn Sie jetzt sagen, in Deutschland sehen die Flüchtlingspolitik der eigenen Regierung auch viele kritisch, da kann man ja mitbestimmen. Da stellt sich die Frage: Warum sollen die Osteuropäer - die Bevölkerung lehnt es dort ja auch ab - die Suppe auslöffeln, die ihnen Merkel und Gabriel eingebrockt haben?
Caspary: Die Situation ist doch die, dass uns hier niemand eine Suppe eingebrockt hat. Da können wir jetzt in die Vergangenheit zurückgehen, warum es überhaupt die Migrationsströme gibt. Stichwort Situation in Afrika, Fluchtursachen, mangelnde Sicherheit, mangelnde wirtschaftliche Perspektive, nicht immer ganz effiziente Entwicklungshilfepolitik in den letzten Jahrzehnten. Dafür können ja Merkel und Gabriel nur bedingt. Sondern wir haben ein globales Flüchtlingsproblem. Das ist auch ein Problem, das die Europäische Union gemeinsam hat, und wir erkennen das doch jetzt.
Wir wollen ja auch als Bundesrepublik Deutschland nicht die alleine lassen, die an den europäischen Außengrenzen sind - Stichwort Griechenland oder Italien oder Spanien -, und dazu gehört halt nur mal zum gleichen Teil: Genauso wie es unmöglich ist, über den Seeweg (Mittelmeer) direkt nach Deutschland zu kommen, genauso unmöglich ist es, über den Seeweg vom Mittelmeer direkt ohne Umwege durch die Biskaya und den Ärmelkanal nach Polen zu kommen oder nach Tschechien zu kommen. Deswegen muss doch klar sein: Wir brauchen hier eine faire Lastenverteilung. Und wir sind bei der einen Sache, wo wir doch gemeinsame Interessen haben, auch wirklich vorangekommen. 2015 sind übers Mittelmeer eineinhalb Millionen Flüchtlinge nach Europa gekommen, in diesem Jahr bisher gerade mal rund 150.000.
"Wir müssen auch innen solidarisch sein"
Zagatta: Und jetzt kommen sie nicht weiter, weil Ungarn einen Grenzzaun gebaut hat, über den wir uns aufregen, von dem wir aber dann, wenn Sie auf die Flüchtlingszahlen hinweisen, ja durchaus profitieren.
Caspary: Nein, gar nicht. Ich rede ja ganz bewusst jetzt nicht über Flüchtlinge, die irgendwo auf der Balkan-Route aufgehalten wurden, sondern ich rede über die Zahlen, die übers Mittelmeer gekommen sind, und übers Mittelmeer sind gekommen 2015 ungefähr 1,5 Millionen Flüchtlinge, in diesem Jahr noch 150.000, weil die Anstrengungen, die wir gemeinsam machen, nämlich Stärkung des Außengrenzschutzes, Bekämpfung von Fluchtursachen, Sicherstellung von Stabilität durch zum Beispiel Bundeswehreinsätze in Mali und anderes, Wachstumspartnerschaften, Handelsabkommen mit den afrikanischen Ländern, Wachstumsperspektive schaffen, ein Umstellen der Entwicklungspolitik, die Schleppermissionen auf dem Mittelmeer der NATO gegen die Schlepper. All das zeigt doch die ersten Erfolge.
Aber genauso gehört auch dazu, so wie wir nach außen gemeinsam erfolgreich agieren müssen, müssen wir auch innen solidarisch sein. Und noch mal: Wir sollten aufhören, hier Sachen gegeneinander auszuspielen. Es gibt viele Sachen in Europa, da sind wir in Deutschland nicht immer glücklich, und jetzt gibt es halt nun mal auch Sachen, da sind vielleicht Polen, Ungarn und Tschechien nicht ganz glücklich. Aber Europa lebt doch davon, dass man sich bei Solidarität nicht Rosinen pickt, sondern dass man bei Solidarität gemeinsam solidarisch ist. Der Beschluss ist rechtskräftig und in Europa müssen rechtskräftige Beschlüsse umgesetzt werden.
Zagatta: Sie sagen "gemeinsam". Warum beharrt man da so sehr auf Quoten, an denen sich ohnehin die meisten Staaten nicht halten, nicht nur die Osteuropäer?
Caspary: Wie diese Sache im Moment umgesetzt wird, scheitert aus meiner Sicht an vielen Ursachen. Aber eine Ursache ist schon, dass wir immer noch drei Staaten haben, die sich verweigern, überhaupt nur einen einzigen Flüchtling aufzunehmen. Deswegen ist ganz genau wichtig, dass diese Blockade gestoppt ist. Deswegen ist es richtig, dass die Europäische Kommission die Umsetzung dieses Beschlusses jetzt noch mal vor den Europäischen Gerichtshof gezogen hat, um dann hoffentlich die drei Länder rechtskräftig auch dazu zu bringen, die europäischen Beschlüsse umzusetzen. Und genau das ist doch das, worauf wir Wert legen müssen. Wenn wir in Europa Beschlüsse gemeinsam treffen - und dieser Umverteilungsbeschluss, der wurde rechtskräftig im Europäischen Parlament mit breiter Mehrheit und im Europäischen Rat auch mit Mehrheit beschlossen -, dann müssen die Sachen umgesetzt werden.
"Die polnische Regierung ist dabei, den Rechtsstaat auszuhöhlen"
Zagatta: Herr Caspary, das haben Sie uns jetzt schon ausführlich erläutert. Die Frage ist ja: Das läuft jetzt auf eine Spaltung hinaus oder auf die Anklagebank in dieser Frage für die osteuropäischen Staaten. Jetzt hören wir gestern auch noch, es soll ein Rechtsstaatsverfahren gegen Polen eingeleitet werden in der nächsten Woche, das so weit gehen könnte, dass Warschau sogar das Stimmrecht entzogen wird, was es noch nie gegeben hat. Welche Folgen hätte das dann? Wird die EU jetzt nicht völlig gespalten?
Caspary: Ja gut. Was Sie da ansprechen, ist ein Thema, das sollte uns alle umtreiben, nämlich dass wir mit riesen Sorge sehen, dass in Polen eine Mehrheit im Parlament und die Regierung dabei sind, den Rechtsstaat auszuhöhlen, den Rechtsstaat zu gefährden. Hier wird willkürlich das Pensionsalter von Richtern runtergesetzt, um Richter aus dem höchsten polnischen Gericht zu entfernen. Das ist ein klarer Eingriff in die Justiz, der inakzeptabel ist, der europäischem Recht widerspricht, und da stehen wir vor dem Dilemma: Auf der einen Seite wünsche ich mir, dass die Polen und die polnische Bevölkerung selbst weiter auf die Straße geht, für Rechtsstaatlichkeit und Demokratie kämpft. Das tun ja zum Glück ganz viele. Und auf der anderen Seite tragen auch wir in der Europäischen Union klare Verantwortung, denn Polen ist Mitglied der Europäischen Union. Polen hat die europäischen Verträge unterschrieben. Polen gehört bei allen möglichen europäischen Regulierungen dabei und auch da gilt die Macht des Rechts. Wenn wir anfangen, dass Mitgliedsstaaten europäisches Recht brechen können, europäisches Recht verletzen können, ohne dass was passiert, dann stellen wir das gesamte System in Frage.
"Europa lebt davon, dass wir europäisches Recht einhalten und umsetzen"
Zagatta: Das frage ich gerade. Stellt man nicht auf der anderen Seite auch das gesamte System in Frage? Die Briten haben ja die Nase schon voll von der EU, die haben ihren Austritt erklärt. Der SPD-Chef Martin Schulz will jetzt alle rauswerfen, die bis 2025 keinen neuen Verfassungsvertrag unterschreiben. Ist das denn sinnvoll, unsere Nachbarländer wie Polen und Tschechien derart unter Druck zu setzen?
Caspary: Das eine ist der Brexit. Der belastet uns ja alle selbst. Und ob die Entscheidung mit dem Wissen, das die britische Bevölkerung heute hat, noch mal so getroffen werden würde, ist müßig. Da erleben wir gerade in Großbritannien viele Debatten.
Das Zweite ist: Wovon ich, ehrlich gesagt, auch nichts halte ist, wenn Herr Schulz hingeht und quasi einen überfälligen Weiterentwicklungsprozess der Europäischen Union nicht anregen, sondern erzwingen will, indem er sagt, wer das alles nicht umsetzt, der fliegt halt raus. Der erweist doch der gemeinsamen Sache einen Bärendienst. So geht es nicht. Wir müssen die Europäische Union im Konsens und im Freundlichen miteinander weiterentwickeln.
Aber das Dritte ist noch mal: Es sind doch alle Länder - und das zeigt jetzt Großbritannien - freiwillig bei der Europäischen Union dabei, und ich wünsche mir, Europa lebt davon, dass wir europäisches Recht einhalten und umsetzen. Wer Rechtsstaatlichkeit, wer Demokratie gefährdet, wie das im Moment die polnische Regierung tut - und noch mal: wir reden ja über die polnische Regierung und nicht das polnische Volk -, dann muss hier die Europäische Union tätig werden. Aber vor allem ist auch das polnische Volk gefordert und deswegen freue ich mich im Moment über jeden, der in Polen auf die Straße geht, für Demokratie, für Freiheit, für Rechtsstaatlichkeit kämpft, denn das sind Dinge, da können wir als Europäische Union nur begleiten, aber die eigene Bevölkerung muss selbst für das kämpfen, was Europa stark gemacht hat, nämlich Demokratie und Rechtsstaatlichkeit.
"Wir sollten uns überlegen, wie können wir wieder zusammenführen"
Zagatta: Und Sie haben nicht die Befürchtung - Sie haben ja wahrscheinlich vollkommen recht mit dem, was Sie da fordern -, dass das dann trotzdem schon sehr bald zu einer Spaltung führen könnte?
Caspary: Die Frage ist, wir sollten es uns eher überlegen, wie können wir es wieder zusammenführen. Mein Eindruck ist, dass das, was die polnische Regierung im Moment vorhat, ganz klar unseren Werten, unseren Grundüberzeugungen widerspricht. Es widerspricht den europäischen Verträgen nach allen Informationen, die ich habe, und der Europäische Gerichtshof hat ja hier auch schon bei einigen Sachen, wo es um Migration ging, deutlich geurteilt.
Zagatta: Also da kann man gar nicht anders handeln?
Caspary: Die Frage ist noch mal: Wir haben das Dilemma, dass wir auf der einen Seite sehr besonnen vorgehen müssen, weil es darf doch nicht gelingen, dass die polnische Regierung sich dann vor das polnische Volk stellt und sagt, schaut mal, die da in Brüssel, die sind gegen uns Polen. Nein, das sind wir überhaupt nicht, sondern wir sind ganz im Gegenteil für die Polen und wir unterstützen all diejenigen in Polen, die weiterhin für Rechtsstaatlichkeit und Demokratie sich einsetzen.
Nur wer die Unabhängigkeit vor Gerichten in Frage stellt, das widerspricht europäischen Grundprinzipien, und da müssen wir vorgehen. Wenn wir nicht mal mehr Grundprinzipien durchsetzen - wir haben gerade über eine Teilfrage der Migrationspolitik gesprochen, aber wenn wir nicht mal unsere grundsätzlichen Überzeugungen wie Demokratie und Rechtsstaatlichkeit durchsetzen, dann können wir doch endgültig einpacken.
Zagatta: Sagt Daniel Caspary, der Vorsitzende der CDU/CSU-Gruppe im Europäischen Parlament. Herr Caspary, vielen Dank für dieses Interview!
Caspary: Ich danke Ihnen!
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