Vizekanzler Sigmar Gabriel schrieb in einem Brief an die Mitglieder der SPD, alles deute darauf hin, dass nicht 800.000 Flüchtlinge kämen, wie vom Innenministerium prognostiziert, sondern eine Million. In dem Brief rief Gabriel die anderen europäischen Länder auf, mehr zur Bewältigung des Flüchtlingsdramas zu tun. Es müsse eine gemeinsame europäische Anstrengung geben. Ein Sprecher des Innenministeriums erklärte dazu, es bleibe bei seiner bisherigen Einschätzung. "Aber es liegt in der Natur einer Prognose, dass es eben nur eine Prognose ist."
Deutschland hatte gestern die Ankündigung für Kontrollen im Grenzgebiet zu Österreich umgehend umgesetzt. Die Polizei richtete noch am Sonntagabend Kontrollpunkte ein. Es seien aber nur vereinzelt und stichprobenartig Fahrzeuge angehalten und überprüft worden. In Sachsen bereiteten sich die Behörden auf Kontrollen an der Grenze zu Tschechien vor, falls sich die Route der Flüchtlinge dorthin verlagern sollte.
Offen bleibt die Dauer der Maßnahmen. Der Zugverkehr zwischen Deutschland und Österreich ist nach einer Unterbrechung wieder aufgenommen worden. Angesichts der zahlreichen Flüchtlinge mobilisierte Österreich Teile der Armee. Rund 2.200 Soldaten sollten unter anderem bei Grenzkontrollen helfen, sagte Bundeskanzler Werner Faymann in Wien.
Innenminister beraten über Verteilung
Deutschland stehe nach wie vor zum Schengen-System offener Grenzen, sagte der Staatsminister im Auswärtigen Amt, Michael Roth (SPD), in Brüssel. Die vorübergehenden Grenzkontrollen änderten "nichts daran, dass Deutschland weiterhin zu seinen humanitären Verpflichtungen steht und wir nach wie vor keinen Flüchtling stehen lassen". Solidarität sei aber "keine Einbahnstraße", erklärte Roth kurz vor Beginn eines Treffens der EU-Innenminister in Brüssel. Er forderte ein Ende "nationaler Egoismen" in der Flüchtlingsfrage. Alle EU-Partner müssten bei der "menschenwürdigen Aufnahme" einen Beitrag leisten.
Bundesinnenminister Thomas de Maizière äußerte sich vorsichtig optimistisch, dass es bei dem Treffen in Brüssel ein Entgegenkommen der anderen EU-Staaten in der Frage der Verteilung von Flüchtlingen geben werde.
Kritik an deutschen Grenzkontrollen
Wenige Stunden nach der Wiedereinführung der Grenzkontrollen in Deutschland rief die Vereinten Nationen Europa dazu auf, mehr Flüchtlinge aufzunehmen. "Wir müssen die legalen Wege der Einwanderung und der Eingliederung erweitern", forderte der UNO-Menschrechtsbeauftragte Said Raad al-Hussein vor dem Menschenrechtsrat der Vereinten Nationen in Genf. So könne der Tod von Flüchtlingen verhindert und die Schlepperkriminalität eingeschränkt werden.
Die Flüchtlingsorganisation Pro Asyl sieht in den Grenzkontrollen derweil einen "Missbrauch von hilfsbedürftigen Flüchtlingen zur Durchsetzung politischer Interessen". Offensichtlich wolle Deutschland Druck auf die anderen Mitgliedstaaten der Europäischen Union machen, teilte Pro Asyl mit. Grenzkontrollen würden die Flucht der Menschen nicht verhindern, aber das Leid der Flüchtlinge vergrößern. Die Organisation bekräftigte ihre Forderung nach einer Öffnung der Grenzen in der EU und nach legalen Zugangsmöglichkeiten für Flüchtlinge.
CSU: Grenzkontrollen werden Wochen dauern
CSU-Chef Horst Seehofer verteidigte die Wiedereinführung der Grenzkontrollen. "Jeder vernünftige Mensch" habe gemerkt, dass es so wie in den vergangenen Tagen nicht habe weitergehen können. Der bayerische Ministerpräsident betonte aber: "Wir bleiben ein humanes und ein helfendes Land." Er bekräftigte seine Forderung an den Bund, dass die Mittel für die Flüchtlingshilfe mindestens verdoppelt werden müssten, und dass der Bund die Verteilung der in Deutschland ankommenden Flüchtlinge organisieren müsse. Dies werde auch bei einem Sondertreffen der Ministerpräsidenten der Länder mit Kanzlerin Angela Merkel (CDU) am Dienstagabend in Berlin besprochen werden.
Seehofer forderte vor allem eine gerechte Verteilung der Flüchtlinge, eine bessere Kontrolle der EU-Außengrenzen und mehr Hilfe vor Ort in den Flüchtlingslagern. Sollten sich nicht alle 28 EU-Staaten darauf einigen, müsse man stufenweise damit beginnen - also zunächst mit den Ländern, die dazu bereit seien. Die Grenzkontrollen in Bayern sollten mindestens mehrere Wochen andauern, sagte Landesinnenminister Joachim Herrmann (CSU) dem Bayerischen Rundfunk.
(nch/kis)