Die Flüchtlingsfrage lasse sich mittelfristig nur lösen, wenn die Kriegsursachen, die die Menschen zur Flucht treiben, beseitigt würden, sagte der Direktor des Europaprogramms bei der Bertelsmann-Stiftung. Doch sei dies nicht in Sicht. Von einer Abschottungspolitik halte er nichts.
Das vollständige Interview:
Christine Heuer: Im Bundestag gab es die Debatte zur Kölner Silvesternacht schon gestern. Auch da wurde sehr aufgeregt diskutiert, und zwar nicht allein zwischen den Parteien, sondern auch innerhalb der Union. Köln hat den beim CDU-Parteitag zuletzt gefundenen Frieden zwischen der Kanzlerin und ihren Kritikern in der Flüchtlingspolitik wieder aufgebrochen. In der CDU-Bundestagsfraktion werden Unterschriften gegen Merkels Flüchtlingspolitik gesammelt und im Kanzleramt berät die deutsche Regierungschefin mit EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker europäische Lösungswege. Die allerdings wirken momentan ziemlich verstellt.
Am Telefon begrüße ich Joachim Fritz-Vannahme, Direktor des Europaprogramms bei der Bertelsmann-Stiftung. Guten Tag, Herr Fritz-Vannahme.
Joachim Fritz-Vannahme: Guten Tag, Frau Heuer.
Heuer: Der Druck auf Angela Merkel wächst, auch aus den eigenen Reihen. Wir haben das gerade gehört. Sie braucht dringend eine europäische Lösung. Wird es die denn geben in absehbarer Zeit?
Fritz-Vannahme: Ich glaube nicht mehr, dass es in absehbarer Zeit eine europäische Lösung geben wird, und zwar, weil die Probleme inzwischen zu einem wahren Gestrüpp von nationalen Egoismen herangewachsen sind. Ich will mal nur ein oder zwei Beispiele nennen. Da wird beschlossen, dass man die Grenzschutztruppe Frontex auf 1.500 Mann bis Mitte dieses Jahres aufstocken soll. Die aktuelle Ratspräsidentschaft der Niederländer sagt, das kann aber noch ein bisschen warten. Die Slowaken, die anschließend übernehmen, sagen, nein, nein, wir können überhaupt nicht bis Mitte des Jahres warten, das muss sofort geschehen. Zweites Beispiel ist die Quote von 160.000 Flüchtlingen, die verteilt werden sollen. Da sind einige wenige Hundert nach Monaten inzwischen verteilt. Oder ein weiteres Beispiel die Überlegung der niederländischen Ratspräsidentschaft, ausgerechnet in dem Augenblick, in dem sie Vorsitz haben, ein Mini-Schengen zwischen vier, fünf, sechs Mitgliedsstaaten aus der Taufe zu heben. Das ist die Spaltung der EU von unten her, von innen her. Das ist wie gesagt alles nur Gestrüpp, in dem keiner so richtig weiß, welchen Weg er eigentlich einschlagen will.
"Merkel reibt sich innerhalb der 28er-Gemeinschaft an verschiedenen Partnern"
Heuer: Aber Angela Merkel braucht diese europäische Lösung ganz offensichtlich. Was passiert, wenn Sie Recht haben und es wird sie nicht geben?
Fritz-Vannahme: Sie gerät Zusehens - das hat Ihr Bericht ja auch klar gemacht - innenpolitisch unter Druck. Sie reibt sich innerhalb der 28er-Gemeinschaft an verschiedenen Partnern. Ich würde dringend dazu raten, einfach zu priorisieren. Ich glaube, man bekommt einen Teil des Problems tatsächlich besser in den Griff, wenn man Frontex zügig ausbaut, und die Zahl von 1.500 erscheint mir da viel zu niedrig. Ich rechne da eher mit dem Faktor zehn oder noch mehr.
Ein zweiter Punkt ist, dass man den Ländern, die man übrigens auch von Berlin aus gestern noch heftig kritisiert - ich denke an Italien und Griechenland -, bei dem Aufbau der Hotspots sehr aktiv hilft, aber auch bei allen anderen Aufnahmeprozeduren oder Abweiseprozeduren, die damit verbunden sind. Ich glaube, nur so wird man des Problemes ein Stück weit jedenfalls Herr. Da ist einfach eine Bewegung über uns alle hereingebrochen, die in dieser Größenordnung, in dieser Dimension niemand vorhergesehen hat. Das löst nicht nur bei Bürgern, sondern auch bei vielen regierenden Politikern schlichtweg Angst aus, und Angst ist in solchen Situationen kein guter Ratgeber.
Heuer: Gehört zu dem Paket, Herr Fritz-Vannahme, das Sie da empfehlen, gehört dazu auch, dass die Grenzen dicht gemacht werden müssen? Muss Angela Merkel von ihrer Willkommenspolitik Abschied nehmen?
Fritz-Vannahme: Na ja. Jetzt müssten wir uns erst mal darüber verständigen, welche Grenze Sie meinen, die zu Österreich oder die zu Frankreich oder den Benelux-Ländern oder die Grenze, die die Griechen mehr schlecht als recht im Augenblick mit Hunderten von Inseln versuchen zu schützen.
Eine Abschottungspolitik sei illusorisch
Heuer: Fangen wir bitte an mit den Grenzen in Deutschland, über die Flüchtlinge zu uns kommen.
Fritz-Vannahme: Ja, Sie können es ja versuchen. Sie können ja versuchen, diese Grenze dicht zu machen. Wir haben diese Fälle ja auch auf dem Balkan gesehen. Da wurde in Ungarn, in Bulgarien erst mal Stacheldraht ausgerollt. Die Bulgaren haben jetzt mit Schrecken festgestellt, dass sie ja auch noch eine Wassergrenze haben zum Schwarzen Meer hin und dass immer mehr Flüchtlinge den Weg suchen. Ich glaube, mittelfristig wird die Flüchtlingsfrage sich nur lösen lassen, wenn die Kriegsursachen, die die Leute zur Flucht treiben, beseitigt werden. Das ist nicht in Sicht.
Und bei der Abschottungspolitik, wie es immer wieder heißt, halte ich es durchaus mit der Kanzlerin. Ich glaube, das ist illusorisch. Ich will mal eine Parallele ziehen, die vielleicht nicht ganz statthaft ist. Die Vereinigten Staaten haben nur zwei Landgrenzen zu Kanada und zu Mexiko, und die mexikanische Landgrenze versuchen sie, mit einem Tausende Kilometer langen Zaun zu schützen und zu verbarrikadieren, aber es gelingt ihnen nicht.
Heuer: Wir brauchen Solidarität in Europa, wir müssen die Fluchtursachen bekämpfen, all das wird viel Zeit kosten. Wir sprechen, Herr Fritz-Vannahme, über Angela Merkel unter wachsendem Druck. Wieviel Zeit hat denn die deutsche Kanzlerin, sich daraus noch zu befreien?
Fritz-Vannahme: Nun ja, sie hat Wahlen vor sich. Wir haben Landtagswahlen in diesem Jahr, Bundestagswahl im nächsten Jahr. Der Druck wird mit Sicherheit allein wegen der Wahltermine höher werden. Viele Abgeordnete werden aus ihren Wahlkreisen heraus fürchten, dass ihr Mandat nicht mehr sicher ist. Ich glaube, das ist ein Faktor, der nicht zu unterschätzen ist. Den haben wir in dieser Form im Übrigen auch schon in etwas schwächerer Variante vielleicht bei der Eurokrise gesehen, bei den Griechenland-Hilfen. Ich glaube, ihr bleibt tatsächlich das Schicksalsjahr 2016 und sehr viel mehr nicht, und bis dahin, bis Ende dieses Jahres wird entschieden sein, ob die CDU - die CSU ist ja längst abgesprungen - noch so viel Vertrauen hat, dass sie sagt, trotz alledem, das ist die richtige Frau an der Spitze, oder ob sie aus Misstrauen und Angst heraus sagt, mit ihr können wir nicht gewinnen, wir brauchen jemanden anders.
"Ich glaube nicht, dass es so was wie eine Einheitsfront gegen Merkel gibt"
Heuer: Aber all das beobachten ja auch die Europäer und auch übrigens Merkels Gegner im Kreis der Europäer, die Polen zum Beispiel, die Ungarn, die Griechen, die Italiener haben Sie schon erwähnt. Ist es denkbar, dass diese Staaten und vielleicht andere mit ihrer Politik innerhalb der Europäischen Union schlicht dazu übergehen, Merkel auszuhungern, damit sie diese Lösung nicht bekommt?
Fritz-Vannahme: Ich glaube nicht, dass es so was wie eine Einheitsfront gegen Merkel gibt, denn es gibt in vielen, vielen dieser Staaten ja auch genügend Stimmen bis hinein in die Regierung, die eher billigend sagen, nein, nein, Merkel hat zwar vielleicht den falschen Weg gewählt, aber die richtige Wertentscheidung getroffen, die Werte Europas von offenen Grenzen bis hin auch zum Akt der Barmherzigkeit gegenüber Flüchtlingen aufrecht zu erhalten. Ich glaube nicht, dass es da zu einer Frontbildung kommt. Es kann tatsächlich - und das ist ja nicht neu - innerhalb der EU aber immer wieder zu kleinen Gruppenbildungen kommen, indem man sagt, kommt, wir schließen uns mal zusammen und gucken mal, was wir im Gegenzug dafür rausholen können. Deswegen habe ich beispielsweise eben nicht mit den Quoten angefangen. Ich glaube, die Quoten sind fast das heikelste Thema überhaupt, weil man da genau diese Gruppenbildung erzeugen kann.
Heuer: 2016 wird das Schicksalsjahr für Angela Merkel als Kanzlerin, sagt Joachim Fritz-Vannahme, Direktor des Europaprogramms bei der Bertelsmann-Stiftung. Herr Fritz-Vannahme, vielen Dank für das Interview.
Fritz-Vannahme: Ich danke, Frau Heuer.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.