"Eigentlich hätten wir wollen müssen, dass die Türkei auf die europäische Karte setzt. Das haben wir nicht getan - und jetzt haben wir ein Problem", sagte der Wissenschaftler von der Humboldt-Universität zu Berlin der Schweizer "NZZ am Sonntag". Mit der Türkei hätte man das heutige Flüchtlingsproblem lösen können. Dass Deutschland seit Jahren so sehr gegen einen EU-Beitritt der Türkei sei, zeige das Defizit an geopolitischem Denken hierzulande. Die Griechen seien gar nicht in der Lage, die Südostflanke der EU zu sichern. Die Türkei in der EU hätte das geändert. "Wenn derzeit einer den Stöpsel in der Hand hat, ist es Erdogan. Und wir müssen ihn mit viel Geld schmieren, damit er ihn wieder reintut."
Das heutige Erscheinungsbild der Türkei indes sieht Münkler kritisch: Vor zehn Jahren sei für einen EU-Beitritt der Türkei gewesen, betonte er. Die vom heutigen Staatspräsidenten Recep Tayyip Erdogan einst gegründete AKP sei damals noch eine andere Partei gewesen. Erdogans "Neosultanismus" sei noch nicht erkennbar gewesen. Derzeit sei es nicht mehr opportun, so sehr auf die Türkei zu setzen, auch wegen der Angriffe gegen die Kurden.
"Bruch der EU in diesem Jahr möglich"
Der Politikwissenschaftler fügte hinzu, es sei nicht auszuschließen, dass die EU "dieses, nächstes oder übernächstes Jahr" zerbreche. Entweder erfolge der Bruch mit dem Wiederaufleben der Schuldenkrise entlang der Nord-Süd-Linie oder wegen verschiedener Ideen zur Migration entlang der Ost-West-Linie. Werde die Zeit jetzt nicht genutzt, verstärke das die Zentrifugalkräfte in Europa dramatisch, warnte der Forscher von der Berlin Humboldt-Universität.
Münkler hatte zuletzt - auch bei uns - Schlagzeilen gemacht, als er die Philosophen Rüdiger Safranski und Peter Sloterdijk als die "Grenzschließer unter den Intellektuellen" bezeichnete. Die beiden hätten wichtige Aspekte des Flüchtlingsthemas nicht im Blick, sagte Münkler in der "Zeit".
Zimmer: Merkel setzt zu sehr auf Türkei
Die Fraktionschefin der Linken im Europaparlament, Gabi Zimmer, kritisierte ebenfalls den derzeitigen Fokus auf die Türkei bei der Suche nach einer Lösung der Flüchtlingskrise: Die EU werde diese nur lösen können, wenn alle Mitgliedstaaten Verantwortung übernehmen und ihre internationalen Verpflichtungen erfüllen, sagte Zimmer der dpa.
Bundeskanzlerin Angela Merkel setze zu sehr auf die Türkei statt auf ihre EU-Partner Italien und Griechenland. "Der türkische Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan hat hauptsächlich die Kurden im Kopf, gegen die er einen Bürgerkrieg angezettelt hat. Dieser Konflikt treibt noch mehr Menschen in die Flucht."
Beim EU-Gipfel in Brüssel war am Freitag beschlossen worden, bei der Sicherung der EU-Außengrenze weiter auf den Aktionsplan mit der Türkei zu setzen.
(bor/tgs)