Jörg Münchenberg: Von Anfang an hatte die Bundeskanzlerin tiefgestapelt, obwohl sie innenpolitisch durch den Konfrontationskurs der CSU mächtig unter Druck steht. Doch schnelle Entscheidungen in der Migrationspolitik werde es nicht geben, so Angela Merkel schon vorab zum gestrigen Sondergipfel von 16 Staaten in Brüssel, und so ist es dann auch gekommen. Noch steht die Kanzlerin mit leeren Händen da. Aber, so hieß es gestern, es werde weiterhin nach einem Kompromiss gesucht. Merkel hofft dabei vor allem auf bi- oder trilaterale Abkommen, um die illegale Migration nach und in Europa besser steuern zu können. Allerdings zeigt Italien, ein Schlüsselland in der Europäischen Migrationspolitik, bislang keine Bereitschaft dazu, Flüchtlinge wieder zurückzunehmen.
Am Telefon ist nun der geistige Vater des EU-Türkei-Flüchtlingsabkommens, Gerald Knaus, Leiter der Berliner Denkfabrik Europäische Stabilitätsinitiative. Herr Knaus, einen schönen guten Morgen!
Gerald Knaus: Guten Morgen!
Münchenberg: Herr Knaus, bislang zeichnet sich ja kein Kompromiss in der Migrationspolitik ab. Das hat auch das gestrige Treffen gezeigt. Sind Sie dennoch optimistisch, dass man sich trotzdem in irgendeiner Form hier auf eine Lösung wird verständigen können, im großen Kreis, oder wird es, wenn überhaupt, kleine oder bilaterale Lösungen geben, wie die Kanzlerin das hofft?
Knaus: Ich glaube, was wir hier sehen ist eine Wiederholung des Films vom März 2016. Auch damals wurde viel über die große europäische Lösung gesprochen, aber der Durchbruch kam dann, als die Kanzlerin mit dem niederländischen Premierminister gemeinsam sich mit der Türkei geeinigt hat. Das war ja eigentlich auch eine trilaterale Lösung, wenn Sie so wollen. Nur da sie die einzige war, die wirklich konkret umsetzbar war, hat sie dann in der Ägäis den Durchbruch gebracht. Und was wir jetzt brauchen ist ähnlich. Für Deutschland etwa ist die entscheidende Frage in diesem Moment ohnehin weiterhin die südosteuropäische Route, denn wer nach Deutschland kommt, kommt ja auch in diesem Fall im Großteil der Fälle über den Balkan. Das heißt, für Deutschland ist eine Einigung mit Griechenland, die etwa das EU-Türkei-Abkommen vollständig umsetzt, die vielleicht sogar dieses Abkommen auf die Landgrenze ausdehnt und die dort im Einklang mit EU-Recht schnelle Verfahren durchführt, diejenigen, die in der Türkei sicher sind, zurückführt und bei den anderen Griechenland eine europäische Solidarität anbietet, viel entscheidender als eine abstrakte Diskussion jetzt darüber, über Themen, über die man seit Jahren redet, ohne konkret zu werden.
"Dublin funktioniert eigentlich seit 20 Jahren nicht"
Münchenberg: Auf der anderen Seite, Herr Knaus, Italien hat sich jetzt hingestellt und gesagt, wir fordern faktisch eine Abschaffung des Dublin-Systems, dass ein Flüchtling dort Asyl beantragen muss, wo er zuerst europäischen Boden betreten hat. Ist das nicht trotzdem ein überfälliger Schritt, weil das aktuelle System einfach sehr ungerecht ist und die Mittelmeer-Anrainer klar benachteiligt?
Knaus: Ja. Sowohl bei denen, die eine Zwangsverteilung von Flüchtlingen vorschlagen, als auch bei denen, die sagen, schaffen wir Dublin grundsätzlich ab, ist immer die Frage im Raum, wie machen wir das. Dublin funktioniert eigentlich seit 20 Jahren nicht. Das italienische Argument, dass man seit 20 Jahren durch Dublin benachteiligt wird, hat ja in der Praxis nicht gestimmt, denn die meisten Leute sind aus Italien weitergezogen. Um das zu verhindern, bräuchte man das, was Horst Seehofer an der österreichisch-deutschen Grenze vorgeschlagen hat, nämlich strikte Kontrollen. Aber die müssten so strikt sein, dass Menschen, die viele Grenzen überschritten haben, den gesamten Balkan, durch Ungarn und durch Österreich hindurch und dann an die bayerische Grenze kommen, dass man die dann auf einmal dort fangen soll. Das ist nicht realistisch. Das heißt, wir steuern, wenn wir dem italienischen Vorschlag folgen, auf ein Europa der inneren Grenzen zurück, wo überall Schengen abgewickelt wird, und werden es trotzdem nicht schaffen, Leute daran zu hindern, innerhalb der EU sich zu bewegen. Wir brauchen tatsächlich eine Lösung an der Außengrenze.
"Schnelle Verfahren in Europa machen"
Münchenberg: Zumal durch den Vorschlag von Horst Seehofer ist ja die große Sorge, dass da ein Dominoeffekt eingeleitet wird, dass quasi die Flüchtlinge dann von Land zu Land weiter abgeschoben werden.
Knaus: Das ist, glaube ich, eher eine theoretische Sorge. Schauen Sie, ich war gestern bei der Diskussion hier in Österreich, und da sagte der österreichische Vizekanzler von der FPÖ: Wenn die Deutschen beginnen, Leute nach Österreich zurückzuschieben, dann muss natürlich Österreich seine Grenzen schließen. Ich habe ihn dann gefragt, wie das denn sein kann, wo doch die Österreicher seit zwei Jahren sagen, sie haben ihre Grenzen geschlossen, dass sie das jetzt auf einmal tun wollen. In Wirklichkeit spielen hier alle mit gezinkten Karten. Es werden Dinge gefordert von anderen Ländern, die die Länder selbst nicht wissen, wie sie sie umsetzen sollen, und das Naheliegendste, nämlich endlich dazu überzugehen, schnelle Verfahren in Europa zu machen, und diejenigen, die keinen Schutz brauchen, von Europa mit Absprache mit den Herkunftsländern schneller zurückzubringen, weil man diesen etwas anbietet, diese beiden offensichtlichen Dinge werden nicht ernsthaft genug diskutiert, und diese beiden Dinge waren es, die beim EU-Türkei-Abkommen zu einem Durchbruch geführt haben. Man hat realistisch ganz konkret über die Interessen der Beteiligten gesprochen und nicht allgemein Dinge gefordert, von denen man nicht weiß, wie man hinkommt.
"Zahlen, die man durchaus bewältigen kann"
Münchenberg: Herr Knaus, ist das realistisch, dass die Verfahren insgesamt beschleunigt werden? In Italien dauern solche Verfahren bis zu fünf Jahren und selbst Deutschland, eigentlich ja ein sehr gut organisiertes Land, hat große Probleme mit den Asylverfahren. Ist das eine realistische Forderung, oder ist es auch realistisch, dass man hier in absehbarer Zeit wirklich schneller werden kann?
Knaus: Es genügt, sich die jetzigen Zahlen der Ankommenden einmal anzusehen. Wir haben ja im Gegenteil zu dieser suggerierten Ausnahmesituation, zu dieser Panik in Wirklichkeit in diesem Moment ungefähr zwei bis 3.000 Menschen, die im Monat in Spanien, gleich viele etwa in Italien und gleich viele etwa in Griechenland über das Meer in die EU kommen - in diesem Jahr in den ersten fünf Monaten. Das sind Zahlen, die man durchaus bewältigen kann, und in den Niederlanden (die Schweiz kopiert das heute) gibt es ein System, das so organisiert ist, dass inklusive Berufungsverfahren innerhalb weniger Wochen eine Entscheidung da ist. Ich habe mit den niederländischen Institutionen erst vor kurzem gesprochen im Detail, wie viele Ressourcen man bräuchte, um so etwas wie das niederländische System in einem ersten Schritt in Griechenland zu haben, schnell entscheiden zu können, mit Qualität ernsthafte Verfahren durchzuführen, wer muss in der EU bleiben, wen kann man zurückschicken. Darüber hätte man reden müssen, aber darüber wird nicht geredet, denn für viele Regierungen – und das ist auch die Frustration für ein Land wie Deutschland, das betroffen ist -, für viele Regierungen in Europa geht es bei dieser Frage nicht darum, ein Problem zu lösen. Dass die Mitteleuropäer und Visegrád-Länder gar nicht kamen, zeigt uns das. Sie profitieren von der Diskussion, sie positionieren sich populistisch, aber sie haben kein Problem, weil in ihre Länder, nach Polen oder Ungarn, ja ohnehin niemand will und dort einen Asylantrag stellt.
"Erstaufnahmezentren, die jeder Beschreibung spotten"
Münchenberg: Herr Knaus, wenn Sie sagen, schneller Abkommen, schnellere Verfahren – auf der einen Seite wird ja in Griechenland auch sehr viel Geld dafür gegeben, dass diese Verfahren besser werden, dass die Unterkunftssituation der Flüchtlinge besser wird. Auch da ist wenig passiert. Aber trotzdem: Wenn man das tatsächlich erreichen würde, schnellere Verfahren, würde das doch auch bedeuten, dass man die Menschen dann, bis diese Verfahren abgeschlossen sind, in Lagern festsetzen muss.
Knaus: Auch hier geht es darum, eine realistisch, aber auch humane Lösung zu finden. Wir haben Erstaufnahmezentren in vielen EU-Ländern, die spotten jeder Beschreibung, die verletzen alle Standards, die die EU sich selbst gegeben hat, etwa auch in Griechenland, zum Teil auf dem Festland, auf den Inseln, aber auch in anderen Ländern, ganz viel natürlich in Ungarn oder Bulgarien. Was wir bräuchten wären von der EU finanzierte humane Zentren mit allen Standards, wo Leute eine kurze Zeit sind. Wenn sie dann dort festgehalten werden, dann ist das akzeptabel, insofern dort die Bedingungen für einen würdevollen Aufenthalt für einige Wochen gegeben sind. Was nicht Sinn ergibt, wie viele in der EU das vorschlagen, ist, einen Einstieg zu machen in eine Gefängnispolitik a la Trump, wo Leute wie Gefangene behandelt werden, auf lange Zeit festgehalten werden, und wo es dann womöglich gar keine Verfahren gibt. Der Schlüssel bei schnellen Verfahren ist natürlich, dass wir auch wissen, wo die Leute danach hingehen, und dafür brauchen wir Einigungen. Der Schlüssel beim EU-Türkei-Abkommen war, dass die Türken ein Interesse bekommen haben, aus Europa Leute zurückzunehmen. Wenn wir das mit den Herkunftsländern in Afrika verhandeln wollen, ein Schritt, der in den nächsten Tagen folgen könnte, wäre, dass die deutsche Regierung, die Spanier, die Franzosen zusammen jemanden ernennen, der mit den Herkunftsländern in Afrika vernünftige interessenbasierte Gespräche führt, was Senegal oder Nigeria oder Gambia angeboten wird dafür, dass sie ihre Bürger dann schnell zurücknehmen. Denn derzeit haben die kein Interesse daran.
EU-Anlaufstelle in Afrika ist unrealistisch
Münchenberg: Herr Knaus, es gibt ja auch jetzt den Vorschlag, dass man in den Herkunftsländern Lager errichtet. Halten Sie das für eine gute Idee?
Knaus: Das ist viel zu vage. In den Herkunftsländern Lager wäre ja nicht sinnvoll. Die Leute, die aus Senegal kommen, werden ja im Senegal, wie wir auch wissen von den UN-Organisationen und auch nach den Verfahren in Europa, zu einem überwiegend großen Teil nicht verfolgt. In den Transitländern Lager zu haben – wir haben so etwas schon in Niger. Das kann sinnvoll sein, etwa um diejenigen aus den Folterlagern zurückzubringen, damit die nicht in Libyen festsitzen, um dann in Niger festzustellen, wer braucht Schutz. Aber das auszubauen zu einer großen Außenstelle der europäischen Asylorganisationen, ist unrealistisch, weil wir das nicht einmal auf den griechischen Inseln schaffen.
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