Das Dublin-System sieht vor, dass Flüchtlinge ihren Asylantrag in dem Land stellen, in dem sie zuerst EU-Boden betreten. Diese Praxis sei ungerecht und funktioniere nur, wenn es ein Minimum an Verteilung gebe, betonte Asselborn. Wenn die Verteilung nicht freiwillig geschehe, müsse sie zur Pflicht gemacht werden. Bis heute seien 10.000 Flüchtlinge von anderen europäischen Ländern aufgenommen worden. Laut einer Vereinbarung vom September 2015 sollten aber 160.000 in Griechenland und Italien lebende Flüchtlinge in der EU verteilt werden.
Bei dem Treffen der europäischen Rechtspopulisten in Koblenz vor einigen Tage sei die EU als "nutzlose und sinnlose Organisation" dargestellt worden, kritisierte Asselborn. Die Europäische Union habe verstanden, dass Reformen dringend notwendig seien.
Das komplette Interview:
Sandra Schulz: Die Verabredungen sind angenehm vor allem für die EU-Staaten ohne Außengrenze. Nach dem Dublin-Abkommen ist das EU-Land für das Asylverfahren zuständig, dessen Boden ein Schutzsuchender zuerst betreten hat. Das belastet besonders Italien und Griechenland, die in der Flüchtlingsfrage ja immer wieder kritisiert haben, sie würden allein gelassen. Nördliche EU-Staaten kontern mit der Kritik an Versäumnissen bei der Registrierung, Kontrolle und Versorgung der Flüchtlinge. Und dass die Dublin-Regeln im Jahr 2015 vor allem in der Theorie gegolten haben, als knapp 900.000 Schutzsuchende nach Deutschland kamen, auch das gehört zur Diskussion dazu. Die EU will ihr Asylrecht reformieren, keine einfache Frage, und darüber beraten heute auf Malta die zuständigen Minister. Mit dabei ist auch Jean Asselborn, luxemburgischer Außenminister und Minister für Immigration und Asyl, und er ist jetzt auch am Telefon. Schönen guten Morgen.
Jean Asselborn: Guten Morgen, Madame Schulz.
"Wir brauchen Gemeinschaft, eine gemeinschaftliche europäische Politik in der Flüchtlingsfrage"
Schulz: Flexible Solidarität - mehr Gewicht tragen die gemeinsamen europäischen Werte im Moment nicht?
Asselborn: Dieser Begriff von flexibler Solidarität, effektiver Solidarität - wir brauchen Solidarität, wir brauchen Gemeinschaft, eine gemeinschaftliche europäische Politik in der Flüchtlingsfrage. Und wir werden heute, glaube ich, die zwei Dimensionen diskutieren. Das Erste ist die interne Dimension. Da geht es um Solidarität noch einmal. Und dann auch die externe. Aber lassen Sie mich vielleicht ein Wort sagen zu dieser internen Solidarität. In der Europäischen Union haben wir versagt. Ich glaube, das ist ein Wort, das nicht übertrieben ist. Es ist nicht die Europäische Union, sagen wir mal, institutionell gesehen. Es ist nicht das Europaparlament, es ist nicht die Kommission. Wir haben im Rat auch eine große Mehrheit. Aber wir haben eine Minderheit, mit der wir uns schwer tun. Das ist Fakt, das ist die Gegenwart, und ich glaube, das ist heute auch von den Maltesern und der Kommission gut gemacht, dass wir versuchen, eine Dublin-Reform zustande, zuwege zu bringen und damit dann auch vielleicht diese Frage der, wie Sie sagen, Solidarität flexibler oder effektiver zu machen - ich stehe immer für die effektive Solidarität -, dass wir die in den Griff bekommen.
"Wir dürfen nicht akzeptieren, dass Italien und Griechenland die Hotspots der EU sind"
Schulz: Erklären Sie uns das ein bisschen genauer. "Verstärkte Schutzlinie", haben wir gerade gehört, vor Libyen. Was genau soll das sein und wie soll das gehen?
Asselborn: Bevor wir zu der Schutzlinie zu anderen Ländern kommen, müssen wir vielleicht bei uns bei dieser Reform von Dublin wissen, um was es geht. Wir dürfen nicht akzeptieren, dass Italien und Griechenland, dass die die Hotspots sind der Europäischen Union. Und wir wissen auch, dass das Dublin-Verfahren, Sie haben es gesagt, dass das reformiert werden muss. Um es plastisch darzustellen: Wenn in Italien und in Griechenland, das die betroffensten Außengrenzen-Staaten sind, wenn die überlastet sind, dass dann mit einem gewissen System die Antragsteller direkt relokalisiert werden, dass sie von anderen Ländern aufgenommen werden, wo die Prozeduren dann stattfinden. Das kann in einer ersten Phase freiwillig geschehen, mit finanzieller Unterstützung auch, und natürlich auch mit mehr Einbringen beim Grenzschutz. In einer zweiten Phase, wenn es geht, soll es dann obligatorisch zählen.
Schulz: Herr Asselborn, jetzt lassen Sie uns bei dem Punkt mal bleiben, weil ich da einen Widerspruch gehört habe. Sie sagen einerseits, wir sind gescheitert, wir haben in Europa die Solidarität nicht, die wir brauchen. Andererseits soll jetzt Dublin neu verhandelt werden. Da wäre ja die nötige Basis Solidarität. Wie soll das ohne Basis gehen?
Asselborn: Ich glaube, diese Vermischung ist nicht unintelligent, dass man sagt, Dublin müssen wir reformieren. Das sind alle, die daran hängen. Wir können es aber nur reformieren, wenn wir ein Prinzip einsehen, dass jedes Land auch ein Minimum von Relocation machen muss, von Verteilung aufnehmen muss, und dann auf einer freiwilligen Basis zuerst das probieren und wenn es nicht geht, dann obligatorisch machen. Wissen Sie, hier in dieser Frage gibt es kein rundherum. Ich war am letzten Samstag in Koblenz, auf der guten Seite in der frischen Luft bei den 5.000, und die im Saal saßen, die warten darauf, dass die Europäische Union unfähig ist, in dieser Frage eine verantwortliche Politik darzulegen. Das heißt, dass dann die EU dargestellt wird als unfähige und eigentlich nutzlose und sinnlose Organisation, und dann kommt das Wort, wir brauchen starke Nationen, Grenzen zu, Ordnung schaffen. Das ist dann bei diesen Leuten die Aussicht, die Lösung. Ich glaube, wir haben verstanden, dass wir in der Europäischen Union in der Flüchtlingsfrage intern sehen, dass wir eine letzte Chance haben, und die müssen wir nutzen.
"Wir können die Flüchtlingsfrage nur europäisch lösen"
Schulz: Sie haben jetzt genau die Chance, noch mal genau zu erklären, was Sie meinen mit dieser Reform von Dublin. Wenn man weg will von diesem System, dass die Flüchtlinge eigentlich das Asylverfahren da durchlaufen sollen, wo sie ankommen, dann müsste man ja sagen, wo sie sonst hin sollten, und da haben wir jetzt schon seit Monaten, eigentlich schon seit Jahren die Situation, dass die EU sich da einfach nicht einigen kann. Es sollten 160.000 Flüchtlinge verteilt werden auf EU-Mitgliedsstaaten. Ich glaube, davon waren nach einem Jahr oder nach anderthalb Jahren wenige hundert verteilt. Was ist Ihr Vorschlag?
Asselborn: Es sind heute 10.000 verteilt. Das sind ungefähr zehn Prozent, was aber absolut nicht genügt. Der Vorschlag ist - es ist kein Vorschlag, es ist ein Einsehen, dass wir die Flüchtlingsfrage nur europäisch lösen können, für alle Länder, auch die Visegrád-Länder. Jedes Land ist doch damit betroffen, wenn wir hier das Bein weiter ziehen, wenn wir uns diese Schwäche geben, wenn wir nicht imstande sind, vorauszusehen, wenn die nächste Krise kommt, wie wir dastehen, dann müssen wir einsehen, dass dieses Dublin-System, was wir haben, ungerecht ist. Da liegt die Hauptlast auf vor allem zwei Ländern, auf Italien und auf Griechenland. Das ist das erste. Das Zweite ist: Es ist doch ganz klar in der Europäischen Union in der menschlichen Dimension, wenn wir da nicht eine Verteilung der Lasten hinkriegen, dass dann jeder Mensch in Europa sich fragt, warum brauchen wir dieses Europa noch. Es geht doch um die Frage nach der Essenz der Europäischen Union mit dieser menschlichen Dimension und ich glaube, dass hier auch in den Visegrád-Ländern, auch in der Slowakei, in der Tschechei - zwei andere Länder bleiben natürlich extrem schwierig -, dass hier ein Umdenken nicht unmöglich ist.
Schulz: Wobei das ja auch nicht die einzigen Staaten sind, die diese Frage auch mit beantworten mit einer besseren Kontrolle und einer Stärkung der EU-Außengrenzen. Da war eine Frage jetzt noch offen, ich habe es nicht vergessen und möchte die Antwort auch durchaus noch haben. Verstärkte Schutzlinien, was soll das sein?
Asselborn: Das weiß ich nicht. Ich weiß nur, was verstärkte Außengrenzen-Überwachung ist. Da müssen wir hinkommen. Wir haben ja Frontex plus, Sie haben es angedeutet, verstärkt und das ist ein positives Signal. Es ist nicht nichts geschehen seit 2015, aber vor allem außenpolitisch. Sie wissen, mit der Türkei das ist extrem schwierig. Man muss aber feststellen, dass die Türkei ihre Grenzen überwacht. Die Zahl der Menschen, die gekommen sind über die Türkei letztes Jahr, sind 300.000. Das sind 80 Prozent weniger als 2015. Wir sollten dieses Modell Türkei, auch wenn es jetzt nicht das idealste ist, versuchen, natürlich mit Ländern aus Nordafrika hinzukriegen. Das Land, was am meisten Kopfzerbrechen uns natürlich macht, ist Libyen. 90 Prozent der Menschen, die in Italien ankommen, kommen aus Libyen. Wir sind weit weg von einer Stabilität, von rechtsstaatlichen Instanzen in Libyen und hier muss versucht werden, die Positionen von Tripoli und von Tobruk aufeinander zu bekommen, und auch hier mit Libyen gibt es ein kleines Zeichen. Die italienische Polizei arbeitet mit, sagen wir mal, embryonären Autoritäten in Libyen, um zu verhindern, dass Menschen in Plastikboote, in Gummiboote gesetzt werden auf der Grenze und dann ins Meer geschickt werden. Ich glaube, Libyen wäre der Staat, wo man natürlich dann direkt ein neues Abkommen abschließen könnte. Wir können es nicht mit Libyen machen; es gibt aber andere Länder wie zum Beispiel Tunesien, Algerien, auch auf der anderen Seite Ägypten, wo man solche Partnerverträge ausarbeiten könnte, und ich glaube, dass hier die Kommission auch Vorarbeit geleistet hat, und das kann ich nur unterstützen.
Schulz: Jean Asselborn, Außenminister in Luxemburg und Minister für Immigration und Asyl, heute Morgen hier bei uns im Deutschlandfunk. Ganz herzlichen Dank Ihnen.
Asselborn: Bitte schön.
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